Der Fall Jasbir

Auszug aus Jan Stevenson Reinkarnation Aurum 1977 ISBN 3 591 08019 5, S51-70

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In dem Buch untersucht Prof. Dr. Jan Stevenson (1918-2007) von der Universität Virginia 20 Fälle von Erinnerungen an frühere Leben. Dieser Fall hat die ungewöhnliche Eigenschaft, dass die erinnerte Person noch lebte, als Jasbir geboren wurde.

 

Im Frühjahr 1954 glaubte man, Jasbir, der dreieinhalb Jahre alte Sohn von Sri Girdhari Lal Jat aus Rasulpur, Distrikt Muzaffarnagar im Staate Uttar Pradesh (Indien), sei an Pocken gestorben. Jasbirs Vater ging zu seinem Bruder und zu anderen Männern des Dorfes und bat sie, ihm bei der Beerdigung seines «toten» Sohnes1 zu helfen. Da es schon spät in der Nacht war, rieten sie dazu, die Beisetzung auf den nächsten Morgen zu verschieben. Einige Stunden später bemerkte Sri Girdhari Lal Jat zufällig, wie sich der Körper seines Sohnes etwas bewegte, der dann allmählich wieder vollständig zum Leben zurückkehrte. Nach einigen Tagen konnte der Junge wieder sprechen und nach einigen Wochen sich wieder klar ausdrücken. Als er die Fähigkeit zu sprechen wiedererlangte, zeigte er eine bemerkenswerte Veränderung in seinem Benehmen. Er erklärte jetzt, er sei der Sohn von Shankar aus dem Dorf Vehedi und wolle dort wieder hin. Er wolle im Hause der Familie Jat kein Essen mehr zu sich nehmen, und zwar deswegen, weil er einer höheren Kaste angehöre, er sei nämlich ein Brahmane. Diese hartnäckige Verweigerung der Nahrungsaufnahme hätte sicher einen zweiten Tod herbeigeführt, wenn nicht eine mitfühlende Brahmanenfrau, eine Nachbarin von Sri Girdhari Lal Jat, sich bereit erklärt hätte, für Jasbir nach Brahmanenart zu kochen. Dies tat sie etwa anderthalb Jahre lang. Jasbirs Vater besorgte die Lebensmittel für die von ihr zubereiteten Mahlzeiten. Aber seine Familie täuschte Jasbir manchmal und gab ihm nicht von der Brahmanenfrau zubereitetes Essen. Er entdeckte die Täuschung, und dieser Umstand sowie der von seiner Familie ausgeübte Druck führten ihn allmählich dazu, seine strengen brahmanischen Speisegewohnheiten aufzugeben und wieder an den regulären Mahlzeiten der übrigen Familie teilzunehmen. Die Periode des Widerstandes dauerte nicht ganz zwei Jahre.

Jaspirs Vater gab an, dass man auch eine Veränderung im Wortschatz Jaspirs wahrnahm, als er nach seiner Krankheit wieder zu sprechen begann. Beispielsweise pflegte er jetzt "haveli" und nicht "hilli" für Haus zu sagen und "kapra" anstelle von "latta" für Kleider. Die höheren Schichten der Gesellschaft, wie die Bramanen, benutzten die erstgenannten und die niederen Schichten die letztgenannten Wörter. Auch wollte Jaspir in späteren Jahren eine für die Bramanenkaste übliche Halskordel tragen.

Jasbir begann, weitere Einzelheiten «seines» Lebens und Sterbens im Dorfe Vehedi mitzuteilen. Er beschrieb ausführlich, wie er bei einer Hochzeitsprozession von einem zum anderen Dorf einige vergiftete Süßigkeiten gegessen hatte und behauptete, ein Mann, dem er Geld geliehen hatte, habe ihm diese Süßigkeiten gegeben. Ihm sei schwindlig geworden, sei von dem Wagen gefallen mit dem er fuhr, habe sich am Kopf verletzt und sei gestorben.

Jasbirs Vater hat versucht, die Kunde von Jasbirs seltsamen Behauptungen und seinem Verhalten im Dorf zu unterdrücken, aber die Neuigkeiten sind doch durchgesickert. Das besondere Kochen für Jasbir nach Brahmanenart war natürlich den anderen Angehörigen der Brahmanenkaste im Dorf bekannt, und schließlich, nämlich etwa drei Jahre später, wurde eine von ihnen, Srirnati Shyamo, eine aus Rasulpur gebürtige Brahmanin, die einen aus Vehedi gebürtigen Mann, Sri Ravi Dutt Sukla, geheiratet hatte, darauf aufmerksam. Bei seltenen Anlässen, in Zwischenräumen von mehreren Jahren, kehrte sie nach Rasulpur zurück. Bei einem solchen Besuch im Jahr 1957 erkannte Jasbir sie als seine «Tante».2 Sie berichtete das Ereignis der Familie ihres Ehemannes und Mitgliedern der Familie Tyagi in Vehedi. Die Einzelheiten «seines Todes» und andere Dinge, die Jasbir erzählt hatte, stimmten genau überein mit Einzelheiten des Lebens und Sterbens eines jungen Mannes von 22 Jahren, Sobha Ram, Sohn von Sri Shankar Lal Tyagi aus Vehedi. Sobha Ram war im Mai 1954 bei einem Wagenunfall ums Leben gekommen, wie Jasbir ihn und seinen Hergang beschrieben hatte, obwohl die Familie Tyagi nichts von einer Vergiftung oder einer Geldsumme wusste, die Sobha Ram geschuldet wurde, bevor sie von Jasbirs Behauptungen gehört hatten.

Später besuchte Sri Ravi Dutt Sukla, Ehemann von Srimati Shyano, Rasulpur, hörte Berichte über Jasbirs Behauptungen und traf mit ihm zusammen. Daraufhin begaben sich Sobha Rams Vater und andere Mitglieder seiner Familie nach dort. Jasbir erkannte sie wieder und wies ihnen richtig ihre Plätze an entsprechend ihrer Verwandtschaft mit Sobha Ram. Wenige Wochen später brachte ein Dorfbewohner von Vehedi, Sri Jaganath Prasad Sukla, angestiftet von dem Verwalter der Zuckermühle bei Vehedi, Jasbir nach Vehedi, wo er ihn beim Bahnhof absetzte und ihn bat, den Weg zum Hof  der Familie Tyagi zu zeigen. Dies machte Jasbir ohne Schwierigkeit. Später wurde Jasbir zum Hause von Sri Ravi Dutt Sukla mitgenommen und zeigte von dort wieder den Weg — eine andere Strecke — zum Hause Tyagi. Er blieb einige Tage im Dorf und legte gegenüber der Familie Tyagi und anderen Dorfbewohnern ein detailliertes Wissen von der Familie Tyagi und ihren Angelegenheiten an den Tag und zeigte höchstes Wohlwollen gegenüber dem Sohn von Sobha Ram. Er selbst fühlte sich in Vehedi sehr wohl und kehrte mit großem Widerwillen nach Rasulpur zurück. Er  In der Folgezeit besuchte Jasbir Vehedi von Zeit zu Zeit, gewöhnlich für mehrere Wochen und häufiger im Sommer. Er wollte nur noch in Vehedi wohnen und fühlte sich in Rasulpur isoliert und einsam. Dort wurde er gehänselt, weil er sich zur Kaste der Bramanen zugehörig fühlte, obwohl er in einer niederen Kaste geboren wurde.

Fußnote zum Fall Jaspir:

1 Während die Leichen Erwachsener von den Hindus in Indien verbrannt werden, werden Kinder unter fünf Jahren gewöhnlich in Gruben beerdigt. Die Leichen aller an infektiösen Krankheiten verstorbener Personen werden nicht verbrannt, sondern entweder beerdigt oder in Flüsse geworfen.

2   In Indien werden Personen, mit denen man nicht verwandt ist, die aber aus demselben Dorf stammen, mit Verwandtschafts- bezeichnungen angeredet. So wird eine ältere weibliche Freundin der Familie in angemessener Weise familiär von einer jüngeren Person des gleichen Dorfes »Tante« genannt..