Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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2.

Ich war immer wieder beeindruckt, wenn ich die Arztpraxis meines alten Bekannten Bernhard Klink betrat. Zwar hatte ich in meinem Leben, das immerhin schon beinahe 56 Jahre währte, noch nicht allzuviele Praxen von innen sehen müssen; und doch glaubte ich, daß ich dieser hier eine besondere Note geben würde - sollte man mich je danach fragen. Dabei hätte ich gar nicht einmal genau sagen können, was mir hier angenehm auffiel. Die freundliche und freie Atmosphäre gehörte sicher dazu, vielleicht auch die ganze Ausstrahlung des Hauses, eines gepflegten Altbaus, in dessen Räumen man unwillkürlich an die gute, alte Zeit der "Medizin mit Herz" erinnert wurde. An den Doktor, der Spritze oder Stethoskop an die Seite legte und sich aufmerksam deine Sorgen anhörte. Und der dir dann, je nach Erfordernis mit aufmunterndem Lächeln oder freundschaftlicher Strenge, neben den notwendigen Salben und Tropfen auch ein ganz persönliches Rezept verschrieb.

Das ging mir durch den Kopf, während ich mich an der Rezeption meldete, die paar Meter bis zum Wartezimmer ging und dann beim Betreten des Raumes auf mein "Guten Morgen" auch noch eine Antwort von mehreren Seiten bekam. Auch das schien hier anders zu sein. Oder fiel mir so etwas zur Zeit nur besonders auf?

"Es könnte schon sein, daß es mit mir zu tun hat", dachte ich in Erinnerung an die letzten Wochen, die für mich so erfüllt waren wie keine anderen zuvor. Für einige Momente überließ ich mich dem wunderbaren Gefühl, glücklich und geborgen zu sein.

Als ich mich auf meinem Stuhl anders hinsetzte, erinnerte mich ein leiser, dumpfer Schmerz in meiner linken Hüftgegend an den Grund für meinen Arztbesuch: Eine Arthrose, die mir seit Jahren zu schaffen machte, die sich aber dennoch entgegen aller ärztlichen Voraussagen bisher in erträglichen Grenzen hielt. Bis auf die letzten 14 Tage.

Ja, und dann freute ich mich einfach darauf, Bernhard Klink mal wiederzusehen.

Wir kannten uns schon seit unserer frühen Kindheit, besuchten ein paar Jahre die gleiche Grundschule - damals hieß sie noch Volksschule - und hatten uns in all den vielen Jahren nicht aus den Augen verloren. Da lag es auf der Hand, daß ich sein Patient wurde, als er seine Praxis eröffnete. Wie lange lag das jetzt schon zurück? Es mußten - ich rechnete kurz nach - etwa 27 Jahre sein; denn ich erinnerte mich noch, wie ich ihn damals mit meiner künftigen Frau bekannt gemachte hatte, das für mich strahlendste Wesen, das ich mir vorstellen konnte. Auch heute noch, vier Jahre nach ihrem Tod.

"Das ist Judith", hatte ich entsprechend stolz gesagt, "ich habe dir von ihr erzählt." Und dann hatte er, nachdem er sie auf eine für ihn so typische Weise angeschaut hatte, mit einem schalkhaften Lächeln geantwortet: "Aber du hast mir nicht gesagt, daß sie aus dem Himmel kommt."

Ich weiß noch, wie ich ihn verdutzt anschaute. Er hatte sich sofort korrigiert: "Ich meine, daß sie ein Engel ist ...", und doch glaube ich noch immer, daß er das gesagt hatte, was er hatte sagen wollen.

Natürlich wurde er Judiths Arzt ebenso wie der unserer Tochter Anne, die ein Jahr später zur Welt kam.

Der Aufruf des nächsten Patienten holte mich in die Wirklichkeit des Wartezimmers zurück. Ich überlegte, wie ich die Zeit überbrücken könnte. Es wäre mir sicherlich nicht schwergefallen, mit einem der Anwesenden ein Gespräch zu beginnen. Aber irgendwie war mir nicht danach.

Vor wenigen Augenblicken hatte ich mich kurz meinen Empfindungen hingegeben, die mich nun schon eine Weile begleiteten. Ich beschloß, dort wieder anzuknüpfen und gedanklich noch einmal einzutauchen in meine "neue" Welt. Daher machte ich die Augen zu und bat die Anwesenden in Gedanken dafür um Verständnis, daß ich mich für eine Weile mit mir selbst beschäftigte. Die Unterhaltung im Wartezimmer und auch die entfernten Geräusche des Straßenverkehrs nahm ich noch eine Weile wahr, dann glitt ich weg, ließ mich treiben von Erinnerungen an das einschneidendste Erlebnis meines bisherigen Lebens - an die Begegnung mit meinem Licht.

*

Nichts von dem, was in den letzten Wochen im Zusammenhang mit der Erscheinung des Lichtes geschehen war, hatte ich vergessen. Das schien mir auch überhaupt nicht ungewöhnlich zu sein, obgleich ich ansonsten kein übermäßig gutes Gedächtnis besitze. Das majestätische Auftreten des Lichtes, seine souveräne, von größter Weisheit geprägte Gesprächsführung, seine liebevolle, wenn es sein mußte auch direkte, ab und zu sogar humorvolle (obwohl - manchmal war ich mir da nicht so ganz sicher) Art der Unterweisung, vor allem aber seine bedingungslose Liebe - das alles schien mir einen Zuschuß an Energie für mein Erinnerungsvermögen zu geben.

Unsere erste Begegnung hatte sich besonders tief in meine Seele eingebrannt. Eines Nachts war vor meinen Augen dieses Licht erstrahlt, das mich - obwohl es heller schien als alles, was ich kannte - nicht blendete. Verblüfft, aber nicht erschrocken, hatte ich in dieses Strahlen geschaut, bis ich nach langen Momenten des Staunens mich meiner Fähigkeit erinnerte, sprechen zu können und den mir in dieser Situation scharfsinnigst-möglichen Satz aussprach:

"Wer bist du?"

Damit begann ein Abschnitt meines Lebens, der in keiner Weise zu vergleichen war mit dem, was sich an Höhen und Tiefen davor abgespielt hatte. Es war, als wäre ich neugeboren worden, was seelisch oder geistig (das konnte ich noch nicht so richtig auseinanderhalten) gewiß auch der Fall war.

Die Antwort des Lichtes - meines Lichtes, wie ich es schon bald darauf zärtlich nannte - auf meine Frage ist noch deutlich in mir:

Mein Wesen ist Liebe. Ich bin aus dem Ursprung allen Seins und lebe in der Unendlichkeit. Liebe, Licht und Leben sind meine Natur, die aus Gott ist. Da alles eine Einheit ist, bin ich ein Teil von dir, so wie du ein Teil von mir bist. Ich kenne dich seit ewigen Zeiten - und ich liebe dich.

Daß mein Weltbild "aus den Fugen" geriet, ist sicher nachvollziehbar. Im positiven Sinne, versteht sich, denn ich nahm dieses Geschenk des Himmels ohne Zaudern und Zögern an. Zwar verstand ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel von den Hintergründen und Zusammenhängen dessen, was sich da um mich herum abspielte, doch in einem Punkt war ich mir absolut sicher: Ich war der Liebe begegnet, nicht irgendeiner, sondern der Liebe. Sie war nicht fern, irgendwo in unerreichbaren Sphären, sie war konkret da, sie "stand" mir gegenüber, war ein Teil von mir. Sie hatte es eben selbst gesagt. Und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß dem so war.

Das Ende unserer ersten, nächtlichen Begegnung steht noch genauso klar vor meinen inneren Augen wie alles andere, was in der Folgezeit geschah. Mein Licht hatte mir die Worte Gebrauche deinen Verstand mit auf den Weg gegeben. Oder sollte ich besser sagen: in meine geistige Wiege gelegt? Und gerade diese Worte waren es, die mich anspornten, auf die Suche zu gehen, um zu finden. Und ich fand.

"Jeder hätte finden können, ja, jeder kann finden", dachte ich. "Wenn er denn auf die Suche gehen will. In dem Punkt war und bin ich nichts Besonderes, höchstens was mein Nicht-so-schnell-Aufgeben und Nachhaken betrifft. Das artete aber leider ab und zu in Penetranz aus, wovon Judith oft genug ein Lied gesungen hatte. Mit Recht, leider."

Dieses Gebrauche deinen Verstand fuchste mich aber auch oft genug und ließ mich aufbegehren, wenn ich nicht vorankam, weil ich entweder an der falschen Stelle ansetzte oder aber mein Herz bei meiner "Arbeit" vergaß. Hatte mir doch mein Licht inzwischen bei vielen Gelegenheiten klargemacht, daß trotz aller Klarheit und Logik, trotz aller Schlüssigkeit der Argumentation das Herz an erster Stelle stehen muß. So wie ich es einmal gelesen hatte: "Laß nie zu, daß sich dein Verstand verselbständigt. Seine Aufgabe erfüllt er optimal als ausführendes Organ deines Herzens."

Auch wenn ich nicht sofort weiterkam, so war ich doch nie alleingelassen bei meiner Suche, bei meinem Voranschreiten auf dem Weg zur Wahrheit. Immer konnte ich auf die Weisheit meines Lichtes zurückgreifen, stets bekam ich die Impulse oder Hinweise, die nötig waren, um das nächste Mosaiksteinchen für das Bild vom "Sinn des Lebens" zu finden. Oft genug aber waren es keine fertigen Antworten, sondern Fragen. Das waren die Strecken unserer Gespräche und meiner Unterweisungen, die ich zu Anfang nicht so recht mochte. Ganz einfach deshalb nicht, weil sie mich herausforderten, die richtigen Schlußfolgerungen selbst zu ziehen. Das geschah selbstverständlich niemals drängend und zeichnete sich oftmals durch einen beinahe sportlichen Charakter unseres Frage- und Antwortspiels aus. Dennoch: Wenn man so etwas ein Leben lang kaum geübt hat, dann regt sich ein ganz natürlicher Widerstand in einem (so empfand ich es wenigstens und brachte es meinem Licht gegenüber einmal zum Ausdruck). Und das besonders dann, wenn man sich ansonsten zwar nicht für den Allergrößten hält, aber auch nicht weit davon entfernt ansiedelt.

Aber mein Licht hatte es auf eine unnachahmliche Weise verstanden, mir diesen Zahn - genauer: einen Teil davon - zu ziehen. Es ließ sich auf keine Kompromisse ein. Seine Führung war klar und konsequent und dabei von so bedingungloser Liebe, daß es für mich nicht zur Debatte stand und nie stehen würde, seine Kompetenz selbst in kleinsten Ansätzen in Zweifel zu ziehen.

Schon nach wenigen Tagen unseres Zusammenseins war mir klargeworden, daß ich fertige Antworten wohl kaum auf dem "Silbertablett" würde präsentiert bekommen. Damals hatte das Licht mir prompt auf entsprechende Gedanken geantwortet. (Ich muß mich heute noch daran gewöhnen, daß meine Gedanken und darüber hinaus mein ganzes Wesen für mein Licht wie ein aufgeschlagenes Buch sind.) Es sagte gleich in der zweiten Nacht: Du hast es richtig erkannt. Ich werde dir da helfen, wo du nicht weiterkommst, wo du Informationen oder Denkanstöße brauchst. Aber ich darf und kann dir den Gebrauch deines Verstandes nicht abnehmen.

Mein Licht hatte mich daran erinnert, daß wir alle in der Schule des Lebens sind, also etwas gelernt werden soll. Ich höre noch den Satz: Sich selbst ein Ergebnis zu erarbeiten, ist etwas völlig anderes, als das fertige Ergebnis vorgesetzt zu bekommen.

Und dann die Worte, die für mich entscheidend waren:

Was du selbst durchdacht, erlebt, angewendet, oftmals genug auch korrigiert hast, das wird dir helfen, in eine geistige Freiheit hineinzuwachsen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn du bereit bist, deinen Verstand zu gebrauchen und in gleichem Maße dein Herz sprechen zu lassen, kann ich dir helfen, deinen Weg mit weniger Schmerz und Kummer zu gehen als bisher. Du hast den freien Willen, und damit liegt die Entscheidung bei dir.

Wie hätte ich mich anders entscheiden können, als dieses selbstlose Angebot anzunehmen? Mit einem Herzen, das sich vor Freude beinahe bis ins Unendliche ausdehnte, sagte ich "ja" und gab meiner neuen Liebe meine Hand. Seitdem, wie soll ich es ausdrücken, bin ich zwar immer noch der Ferdinand Frei, verwitwet, mit einer Tochter namens Anne, Vertreter, religiös nicht gebunden, ein halbwegs freier Geist und gesundkritischer Mensch - aber ich bin gleichzeitig ein anderer geworden. Das streckenweise doch sehr intensive Miteinander unserer brüderlichen Verbindung hat mich schon verändert. Und ich weiß, daß noch eine lange, lange Periode des inneren Wachstums, der geistigen Reife vor mir liegt, bis an das Ende dieser Inkarnation - und vermutlich, wenn nicht sogar ganz sicher, auch darüber hinaus. Denn so viel hatte ich inzwischen begriffen: "Wer wieder in den Himmel eintreten will, muß den Himmel in sich erschlossen haben".

Solche Gedanken, wenn ich sie mir denn überhaupt gemacht hätte, wären mir früher wenig mutmachend erschienen. Das hatte sich grundlegend geändert. Ich hatte "meinen Draht zum Himmel" gefunden. Und ich wußte inzwischen, daß jeder der Milliarden von Menschen und auch der unzähligen Seelen in den jenseitigen Bereichen diese Verbindung hat, weil die Liebe Gottes auch nicht eines ihrer Kinder allein läßt; daß kein Kind blind, unwissend, verzweifelt und scheinbar oftmals verloren seinen Erdengang beschreiten muß; daß jeder sein Ja sagen kann; daß die Liebe alle ihre Kinder wieder zurückholt - und daß das Ende einer unendlich langen Irrfahrt, die sich jedoch nie mehr wiederholen wird, nur heißen kann: "Alles endet im Licht".

War es da ein Wunder, daß ich mich gerne meinen Empfindungen des Glücks und der Geborgenheit hingab? Diesen Erinnerungen, die ja nur der Beginn eines Lebensabschnittes waren, der voller Licht und Freiheit erst noch auf mich wartete? Denn wir - mein Licht und ich - hatten ja gerade erst angefangen, die ersten Steine der zugeschütteten Quelle an die Seite zu räumen. Was also die Zukunft bringen würde, müßte viel mehr sein als die bisher gewonnenen, grundsätzlichen Erkenntnisse1). Das Wasser würde auf seinem Weg wieder in den richtigen Bahnen fließen, es würde klarer und klarer werden, bis die Quelle des Lebens wieder voll zu sprudeln begänne. So wurde ich durch mein Licht belehrt. "Was immer darunter zu verstehen ist", hatte ich mir gesagt und mich der Vertrautheit unserer Zweisamkeit hingegeben.

*

Durch das laute Schlagen einer Tür wurde mir von einem Augenblick auf den anderen wieder bewußt, wo ich war. So schön es war, ab und zu unbeschwert in der Vergangenheit zu weilen, so sehr war ich mir jedoch auch darüber im klaren, daß sich das Leben im Hier und Jetzt abspielte. Doch gerade dieses "Leben im Hier und Jetzt" ließ noch einmal meine Gedanken kurz zurückschweifen.

Mein Licht war der beste Lehrmeister, den man sich vorstellen konnte. Und etwas stand auf unserem Lehrplan ganz vorne. Es stellte praktisch die Grundlage unserer ganzen Arbeit dar: Daß nämlich der Weg zu Gott im Alltag gegangen werden muß. Vorschnell war mir damals die Bemerkung herausgerutscht: "Das ist doch eigentlich klar. Wo sollte das denn sonst stattfinden?"

Nachsichtigkeit, das erlebte ich bei dieser Gelegenheit nicht zum ersten Mal, gehörte zur Wesensart des Lichtes, sie war quasi Teil seiner Liebe. Deshalb wurde ich auch nicht direkt korrigiert, sondern durch eine Gegenfrage dazu gebracht ("ermuntert", würde mein Licht wahrscheinlich sagen), ein bißchen schärfer nachzudenken.

Was hältst du beispielsweise von einem Rückzug in den Himalaja? Oder von einem jahre- und jahrzehntelangen Studium religiöser Schriften, vielleicht sogar irgendwo abgesondert, der Ruhe und Erleuchtung wegen?

Ich brauchte nicht lange nachdenken.

"Also gut, du hast gewonnen. Ich meinte ja auch nicht, daß es ... ich dachte nur ... ich ..."

Ich wußte nicht so recht, wie ich den Satz beenden sollte, denn die Falle des Hochmuts hatte sich schon deutlich erkennbar geöffnet. Und wenn ich sie schon einmal erkannte, dann mußte ich ja nicht auch noch in sie hineintappen.

Du wirst lernen, dein Be-Urteilungsvermögen zu schärfen. Dies ist unumgänglich, um Spreu vom Weizen unterscheiden zu können. Denn nicht alles, was auf den ersten Blick als Spreu erscheint, ist auch Spreu. Das gilt für den Weizen in gleichem Maße. Wenn du dieses Tun immer mit einigen Tropfen Liebe "würzst", wirst du feststellen, daß dein Blick von Mal zu Mal klarer wird. Und du wirst darüber hinaus bemerken, daß deine Feststellungen immer freier werden von Vorurteilen und Bewertungen. Es könnte allerdings sein, daß bis dahin ... floß da auf einmal ein Hauch liebenswerter Ironie mit ein? ... noch eine "ganze Menge Wasser den Bach hinunterfließt" - um es mit euren Worten auszudrücken.

Ich gab mich noch nicht geschlagen.

"Du selbst hast mich doch belehrt, daß der Weg zu Gott im Alltag, das heißt in der Ehe, in der Familie, in der Nachbarschaft, im Beruf, einfach überall gegangen werden muß ..."

Ich habe diese Aussage ja auch nicht zurückgenommen. Meine kleine Ansprache galt dir persönlich.

"Also, wenn das keine Liebe ist ...", dachte ich. Aber dann wurde ich doch ein bißchen nachdenklich.

Eigentlich müßte man mit ein wenig Überlegen von selbst draufkommen, daß das Leben des Liebegebotes nur im Umgang mit dem Nächsten möglich ist. Heißt es doch im Hauptgebot der Liebe: " ... und deinen Nächsten wie dich selbst". Wenn man dies erfüllen möchte, wird es einerseits ein ständiges Bemühen mit der Tendenz hin zum besseren Gelingen sein, und andererseits wird man dafür jemanden brauchen: seinen Nächsten.

"Wenn man die vergleichsweise geringe Zahl derjenigen abzieht, die in den Himalaja gehen, religiöse Schriften studieren oder für sich selbst den Weg zu Gott auf ihre eigene Art und Weise suchen", so ging es mir durch Kopf, "dann verbleibt doch eine unübersehbare Zahl von Menschen, die anscheinend ihre Religion nicht in der Abgeschiedenheit, sondern in den Ereignissen ihres Alltags leben."

Leben sie ihren Alltag, oder leben sie ihre Religion in ihrem Alltag?

Wie man doch mit einer einzigen, kleinen Frage eine Antwort beinahe überflüssig machen kann! Ehe ich noch den nächsten Gedanken formulieren bzw. den Mund öffnen konnte, ergänzte das Licht:

Nicht viele Menschen haben die Fähigkeit gewonnen, den Hintergrund eines Sachverhaltes klar zu erkennen, ihn vielleicht sogar durchschauend zu analysieren und, weil sie dies mit dem Herzen tun, kein Urteil über den oder die Verursacher auszusprechen. Und sei es auch nur in Gedanken. Wer dies jedoch gelernt hat, muß nicht mehr aus Angst vor seiner eigenen Intoleranz ein schlechtes Werk als gut ansehen. Er kann den Diebstahl sehen, ohne den Dieb zu verdammen. Ja, er wird ihn trotz seiner Tat lieben.

Jesus von Nazareth hat diese Geistes- und Herzenshaltung vorgelebt und euch aufgefordert: "Folget Mir nach".

Du hast angefangen, diesen Weg vorsichtig zu beschreiten. Ich werde dir helfen, und ich werde dir dort die Augen öffnen, wo du in Liebe sehen lernen sollst.

Das alles aber darf niemals dazu dienen, aus einer scheinbar "höheren" und "besseren" Position auf das noch Unvollkommene herabzuschauen. Es ist einzig und allein dazu da, dem Nächsten zu helfen - sofern er diese Hilfe annehmen möchte.

Betrachte unter diesem Aspekt meine Frage: " ... oder leben sie ihre Religion in ihrem Alltag?" Dann wirst du die Wahrheit erkennen und gleichzeitig wissen, was du - a u c h du - dazu beitragen kannst, daß mehr und mehr sich redlich darum bemühen. Sie werden dies mit einem Gottes-Verständnis tun, das sich von einem theologischen Modell, einer nicht-erklärbaren und strafenden Distanz hin zu einem Gott der Liebe, der in jedem wohnt und mit jedem spricht, gewandelt hat.

Und das im Hier und im Jetzt!

Ich hatte staunend und mit weit geöffneten, inneren Ohren zugehört. "Wie kann i c h dazu beitragen?"

Indem du zuerst schwimmen lernst ...

"Bitte?"

... denn wie willst du einen Ertrinkenden retten, wenn du nicht schwimmen kannst?

*

M e i n Alltag holte mich ein, als eine freundliche Arzthelferin ihren schwarzgelockten Kopf durch die Tür steckte. "Herr Frei?" Ich stand auf. "Kommen Sie bitte mit?"

Bernhard Klink machte gerade die letzten Eintragungen in eine Patientenkartei, als ich sein Sprechzimmer betrat. "Setz’ dich", sagte er mit einem kurzen Aufblicken, "es dauert nicht mehr lange."

Ich blieb jedoch stehen und schaute mich um. Was mir zuerst auffiel war, daß auf seinem Schreibtisch noch kein Bildschirm stand. Vor ein paar Monaten, als ich das letzte Mal wegen einer Darmgrippe bei ihm war, hatte er mir auf meine Frage geantwortet:

"Weißt du, ich versuche meinen Patienten das Gefühl zu geben, daß sie einen lebenden Doktor vor sich haben, der zuhört, mitfühlt, und der für die Zeit des Gespräches voll bei der Sache ist. Ich weiß, daß viele meiner Kollegen das anders sehen und aus Zeitersparnis, noch während der Patient seine Beschwerden schildert, anfangen, in den Computer einzugeben. Das ist nicht mein Ding." Er hatte, wie um das Gesagte zu unterstreichen, den Kopf geschüttelt. "Nein, nein. Mir reicht es, wenn meine Helferinnen damit arbeiten müssen, denn ohne Computer ist eine Kassenabrechnung und eine saubere Datenverwaltung leider nicht mehr zu machen."

Ich wußte ja, warum ich zu ihm und nicht zu einem anderen Arzt ging. Das, was er da soeben gesagt hatte, war unter anderem einer der Gründe. Damals hatte ich ihm zur Antwort gegeben, daß ich gespannt sei, wie lange er das noch durchhalten würde, bei der rasanten Entwicklung heute. Und ob er auch bedenke, daß er doch bitte die Evolution nicht behindern dürfe. Er hatte gelacht und gesagt: "Leg’ dich mal auf die Behandlungsliege, damit wir deine Evolution begutachten können."

Ich kehrte von meinem Gedankenausflug zurück. Bernhard hatte sich inzwischen erhoben. Er kam um seinen Schreibtisch herum, nahm meine ausgestreckte Rechte und hielt sie mit beiden Händen. Seine hochgewachsene Gestalt, sein volles, schon leicht ergrautes Haar, seine braunen Augen und seine angenehme Stimme - all das vermittelte einem sofort das Gefühl: Hier bin ich richtig. Einen anderen Beruf als den des Arztes hätte er auch kaum ergreifen können, zumindest dann nicht, wenn Beruf zugleich Berufung sein sollte.

"Schön, dich mal wiederzusehen. Ich hoffe, es geht dir gut", sagte er.

Ich gab seinen festen Händedruck zurück. "Du bist mir ein Doktor", antwortete ich mit einem angedeuteten Grinsen, "hoffst, daß es deinen Patienten gut geht! Wie willst du da je auf einen grünen Zweig kommen?"

So oder so ähnlich begann es oft, wenn wir uns trafen. "Wie gut", dachte ich, "daß es Menschen gibt, mit denen man bei aller notwendigen Ernsthaftigkeit zum richtigen Zeitpunkt auch mal flachsen kann." In diesem Punkt - und auch sonst - war unsere Bekanntschaft beinahe vergleichbar mit der zu Peter Spengler, meinem langjährigen Freund und Geschäftskollegen: aufrichtig, verläßlich, humorvoll manchmal bis fast hin zum Übermut, doch ebenso nachdenklich, tiefschürfend und hilfsbereit, wenn es die Situation erforderte.

Er lachte. "Komm, setz dich."

Nachdem wir uns beide gesetzt hatten, fragte er: "Also im Ernst, was führt dich zu mir? Du kommst ja sicher nicht nur so zum Spaß. Obwohl es mal wieder schön wäre, nicht über Krankheiten sprechen zu müssen, sondern einfach nur so zu plaudern."

Mir fiel ein, daß wir schon des öfteren vorgehabt hatten, uns bei einem Bier zusammenzusetzen. Meistens war bei ihm etwas dazwischengekommen. Wir sollten vielleicht gelegentlich einen neuen Versuch wagen.

Da er meine Krankengeschichte (oder besser die meiner linken Hüfte) kannte, konnte ich mich darauf beschränken, den neuesten Stand der letzten Tage und Wochen zu schildern. Seinem geschulten Blick war mein Hinken nicht entgangen. Ich bemühte mich zwar immer, so gut es ging aufrecht und gleichmäßig auftretend zu gehen, aber die drei Meter bis zu seinem Schreibtisch hatten mich bereits verraten.

Wir wurden durch das Läuten seines Telefons unterbrochen. "Ja, stellen Sie durch", sagte er, um sich dann konzentriert seinem Gesprächspartner zu widmen. Die Unterredung dauerte länger, so daß ich Zeit fand, meine Augen wandern zu lassen. Sie blieben schließlich an einem Buch auf seinem Schreibtisch hängen. Ich beugte mich ein wenig vor, weil ich den Titel lesen wollte. Bernhard bemerkte dies, und da er wohl den Eindruck hatte, noch nicht so schnell zu Ende kommen zu können, nickte er mir stumm zu, lächelte dabei spitzbübisch und schob das Buch zu mir über den Tisch.

Als ich den Titel las, wußte ich, was es mit seinem leichten Grienen auf sich hatte. "Was Ärzte Ihnen nicht erzählen", stand da; und im Untertitel "Die Wahrheit über die Gefahren der modernen Medizin"1). Ich blätterte flüchtig im Inhaltsverzeichnis. Das war anscheinend ganz schön starker Tobak. Überschriften wie "Neue Krankheiten durch Impfungen", "Menschliche Versuchskaninchen", "Der Cholesterin-Trugschluß" und ähnliches mehr fielen mir ins Auge. Für einen Moment wunderte ich mich, daß ein solches Buch auf dem Schreibtisch eines Arztes lag.

"Und doch paßt es irgendwie zu ihm", dachte ich, "eigentlich ist das sogar typisch für ihn." Er würde es mir nachher sicher erklären. Beim weiteren Durchblättern stieß ich auf ein Kapitel mit der Überschrift "Verantwortung übernehmen". Ich las:

"Egal, ob Sie ein Krankenschein- oder Privatpatient sind, Sie haben ein ganz klares Recht, alles über die vorgeschlagene Behandlung zu erfahren. Sie würden ja auch nicht ein Auto oder einen Videorecorder kaufen, ohne die Vor- und Nachteile sorgfältig überprüft zu haben. Warum sollte es bei so etwas Lebenswichtigem wie Ihrer Gesundheit oder der Ihrer Familie anders sein?" Dieser letzte Satz sprang mir förmlich in die Augen. Ich wunderte mich selbst darüber, konnte aber im Moment keine Erklärung dafür finden. Aber wie bei einer von diesen alten Schellack-Schallplatten, wenn einmal die Nadel aus einer Rille nicht herauskam, und immer wieder die gleiche Stelle gespielt wurde, tönte es in meinem Kopf: " ... bei so etwas Lebenswichtigem wie Ihrer Gesundheit ..."

Schließlich las ich ein paar Zeilen weiter: "Ganz im Gegenteil, durch Fragen werden Sie nicht das Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Arzt schwächen, sondern eher dahingehend festigen (natürlich nur, wenn es sich um einen guten Arzt handelt), daß Sie gemeinsam die Verantwortung teilen wie zwei intelligente Erwachsene ... Es gibt auch keinen Grund dafür, daß Sie eine Meinung als das Evangelium betrachten sollten. Holen Sie eine zweite Meinung (oder eine dritte oder vierte) ein, bis Sie sich im Hinblick auf die vorgeschlagene Behandlung sicher und zufrieden fühlen. Denken Sie aber auch daran, daß Sie all Ihre Heiler als Techniker betrachten und nie die Kontrolle über alle Entscheidungen verlieren sollten."

Ich war überrascht und nickte zustimmend, drückte doch hier jemand präzise das aus, was ich, ohne es je so deutlich formuliert zu haben, auch empfand. Es betraf dabei weniger meine Person oder meine Gesundheit, geschweige denn mein Verhältnis zu Bernhard. Es betraf eher die allgemeine Ärzte-Patienten-Situation. Die Medizin hatte sich von denjenigen, die von ihr abhingen oder dies zumindest glaubten, nur allzugern auf den Sockel heben lassen. Und sie dankte es ihren Bewunderern, indem sie ihnen das Gefühl gab, daß diese bei ihr als der Kompetenz bestens aufgehoben waren. Mehr, als ihren Anweisungen zu folgen, konnte und brauchte man da nicht mehr zu tun.

"Mit großen Abstrichen", rief ich mich selbst zur Räson, denn ich wollte ja nicht ungerecht sein. Da schob sich noch ein Gedanke nach: " ... wie Schafe, die sich willfährig führen lassen."

Das Bild der Schafe war ausschlaggebend für den nächsten gedanklichen Schritt - hin zum Hirten. Doch nicht der Hirte - der einzige, dem ich mich anvertrauen würde - kam mir in den Sinn, sondern die vielen selbsternannten Hirten, die mit ihren Kirchenschäfchen ähnlich umgingen wie viele Mediziner mit ihren Patientenschäfchen. War meine Betrachtung einigermaßen sachlich und fair? War es nicht so, daß sich die meisten der Christen in der - in meinen Augen falschen - Sicherheit wogen, daß sie nicht mehr tun konnten und brauchten, als das, was die theologische Kompetenz ihnen vorgab? Der Vergleich war zu auffallend, als daß ich ihn einfach zur Seite schieben konnte. Doch hier war nicht der Ort und die Zeit (obwohl, vielleicht hätte da mein Doktor gerne mitgemacht, so wie ich ihn kannte), den Gedanken weiter zu verfolgen. Ich nahm mir vor, dieses Thema mit meinem Licht zu erörtern, da ich mir sicher war, daß es dazu einiges Interessante zu erfahren, vor allem aber zu lernen gab.

Bernhard hatte inzwischen sein Telefonat beendet und sah mich fragend an.

"Was schaust du so fragend? Wenn einer Grund zum fragen hat, dann bin ich es." Ich hielt das Buch hoch. "Was macht ein solches Buch auf dem Schreibtisch eines gestandenen Arztes?"

"Das ist leicht zu erklären. Ich lerne daraus. Schließlich bin ich nicht so alt und nicht so klug, um nicht noch neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ein Kollege, der allerdings mehr Wissenschaftler als Heilkundiger ist, hat es mir empfohlen. Er hat dies wohl mit anderer Absicht getan als der, mit der ich mich des Buches angenommen habe." Er machte eine kleine Pause und lächelte dann. "Er wird sich sicher über meine Meinung wundern, wenn wir uns mal wieder treffen."

Ich hätte gerne mit ihm das Thema vertieft. Wir hatten so etwas im übrigen auch des öfteren schon getan. Dann aber war ich - anders als heute - meistens der letzte Patient, und es mußten keine weiteren Patienten wegen unserer Fachsimpelei warten. Einmal hatten wir uns ausführlich über einen neuen Zweig der Medizin unterhalten, der von einem anderen Ansatzpunkt ausgeht als die herkömmliche, schulmedizinische Betrachtung: Indem er nämlich das Immunsystem in den Mittelpunkt rückt und damit im Falle einer Krankheit die Frage: "Was ist mit meinem Immunsystem los, daß es seine Aufgabe nicht erfüllen konnte?" Mir wurde schnell klar, daß hier eine der zentralen Fragen angesprochen war, wenn nicht gar die Frage schlechthin. Wir waren uns auch rasch darüber einig, daß die Anteile, die ein gesundes Immunsystem ausmachen, nicht nur Bewegung, Stoffwechsel, Sauerstoff, gesunde Umwelt und weitere äußere Faktoren sind, sondern in erster Linie (Bernhard legte Wert auf die Betonung "erster Linie") die seelische Komponente.

"Wenn du so richtig verliebt bist", hatte er gesagt, "dann kannst du mit deiner Freundin stundenlang im Regen spazierengehen, und du wirst dich nicht erkälten. Den entscheidendsten Beitrag zur Gesunderhaltung , ich sage bewußt ‘entscheidendsten’, leistet ein ausgeglichenes, mit Harmonie und Frieden erfülltes Inneres." Er hatte mir zugezwinkert. "Dann kannst du auch ruhig mal ein bißchen länger auf deiner Couch liegen und den Jogginganzug im Schrank lassen. Deine Psyche gleicht vieles aus, wenn du in deiner Mitte ruhst. Nur glauben das die Leute leider nicht. Dabei ist das die beste Voraussetzung, um gesund zu bleiben oder zu werden."

Wieder klingelte das Telefon. Diesmal dauerte das Gespräch nicht lange. Bernhard machte sich ein paar Notizen. "Ich komme so schnell wie möglich. In den nächsten Minuten fahre ich los. Und machen Sie sich keine Sorgen. Bis dann."

Da war mir klar, daß mein Besuch für heute beendet war.

"Ferdinand, wir müssen deine Untersuchung auf später verschieben". Er stand auf. "Es ist etwas dazwischen gekommen. Ich kann auch schlecht abschätzen, wie lange ich weg bin." Wie entschuldigend hob er die Hände. "Das hat jetzt Vorrang."

"Ist doch selbstverständlich", antwortete ich. "Ich mache mit deiner Sprechstundenhilfe einen neuen Termin aus."

Das Buch hielt ich noch immer in meinen Händen. Er sah es und meinte: "Du bezeichnest dich doch manchmal als Hobby-Mediziner." (Hatte ich das wirklich mal gesagt? Aber ein bißchen was war da schon dran.) "Ich schlage dir vor, du nimmst es leihweise mit. Du kannst es mir ja bei deinem nächsten Besuch wieder mitbringen." Und dann fügte er, während er seine Tasche aus einem Schrank nahm, noch hinzu: "Deine Augen haben so verdächtig geleuchtet."