Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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3.

Auf meinem Weg ins Büro machte in noch bei einem kleinen Tabak- und Zeitschriftenladen halt, um mir ein neues Päckchen Tabak zu kaufen. Zwar hatte ich das Pfeifenrauchen stark eingeschränkt, aber ganz aufgeben wollte ich es noch nicht. Es gab hin und wieder Abende, da machte ich es mir mit einem Buch in meiner Couchecke bequem, und dann gehörte auch eine in Ruhe gerauchte Pfeife dazu, in der ein Tabak brannte, der nach einer Mischung aus Vanille und Früchten roch. Judith hatte diesen Duft so gerne gemocht, und ich hatte in den Jahren seitdem die Marke nicht gewechselt.

Da ich etwas warten mußte, weil sich ein weiterer Kunde und der Verkäufer nicht sogleich über die Abwicklung einer Beanstandung einigen konnten, warf ich einen Blick auf die ausliegenden Zeitschriften. Eine mit dem Namen "Universum" nahm ich in die Hand, blätterte sie flüchtig durch und öffnete sie dann an einer Stelle, an der mir die Überschrift "Evolution ohne Ende?" ins Auge fiel. (An nichts, was ich bisher über den sogenannten Zufall gelernt hatte, erinnerte ich mich in diesem Moment. Dazu war ich noch zu ungeübt in diesen Dingen.) Hatte mich nicht heute morgen schon einmal etwas an den Begriff "Evolution" erinnert? Sicher doch, als ich über meine Bemerkung nachdachte, ob die Evolution wohl je in das Sprechzimmer meines Arztes einziehen würde.

Ich überflog den Inhalt, las einige Zwischenüber- und Bildunterschriften und erfuhr, daß es eine kosmologische, teleologische, thermische, kosmogonische, chemische, geologische und biologische Evolution gibt. Nichts von dem verstand ich. "Ob es keine seelische Evolution gibt?" dachte ich. "Oder so etwas Ähnliches wenigstens? Irgend etwas in der Richtung, damit auch das Innere vorankommt?"

Doch, da stand was! Es wird auch unterschieden in eine Evolution des Kosmos, eine des Lebens und eine des Menschen, die auch die Entwicklung des Geistigen (wie Sprache und Bewußtsein) und des Sittlichen (wie Kultur) umfaßt. Ich las quer und stellte dann, kaum überrascht, fest: Es war nicht das, was ich meinte.

Das Thema interessierte mich schon, und doch überlegte ich, ob es sich lohnen würde, die Zeitschrift zu kaufen. Wahrscheinlich würde ich das Allermeiste nicht begreifen können. Und meine Frage, die während des kurzen Überfliegens nach der Evolution des inneren Menschen aufgetaucht war, schien mir ohnehin nicht aufgeworfen zu sein.

Ich legte die Zeitschrift zurück, nahm mir aber vor, bei Gelegenheit mit meinem Licht über diesen Punkt zu sprechen, der mir auf einmal zu einem besseren Verständnis des mir immer noch nicht ganz klaren Mensch-Seele-Geist-Komplexes sehr wichtig zu sein schien. Das Problem der Reklamation war in der Zwischenzeit gelöst worden, so daß ich meinen Tabak kaufen und mich auf den vor mir liegenden Arbeitstag konzentrieren konnte.

*

Als ich an diesem Vormittag ins Büro kam, hatte Eva schon einiges für mich vorbereitet. Es lagen eine paar kleine Kartons bereit, die ich - außerhalb der wöchentlichen Lkw-Anlieferungen - zu meinen Kunden mitnehmen sollte. Außerdem waren noch drei Anrufe zu tätigen und ein Angebot durchzusprechen.

Eva Längerer war die gute Seele unserer kleinen Abteilung, zu der außer uns beiden noch mein Arbeitskollege und Freund Peter gehörte. Auszubildende kamen manchmal für drei oder vier Monate zu uns (im Moment hatten wir keinen), und sie kamen gern. Denn es hatte sich herumgesprochen, daß bei uns "ganz gut lernen läßt", und weil "die offen und ehrlich sind und Herz haben", wie es mal einer zu unserer Freude ausgedrückt hatte. Er hatte recht, denn wir arbeiteten Hand in Hand, halfen einander, achteten uns, waren alle drei mit Humor gesegnet und auch keine Minutenfuchser, denen z.B. die Einhaltung gesetzlich zuerkannter Pausenzeiten wichtiger war als die aktuell anstehende Bearbeitung eines Kundenwunsches oder eines Problems.

Für Peter und mich wäre solch ein Ich-achte-auf-meine-Rechte-Denken ohnehin gegen unsere Natur gewesen. Beide waren wir überwiegend im Außendienst tätig, und schon allein deshalb liefen unsere Tage meistens anders ab. Nicht selten war ich zehn und mehr Stunden unterwegs, bei Peter war es ebenso. Wir konnten - und wollten - unsere Arbeit nicht nach detailliert vorgegebenen Auflagen verrichten; zum einen, weil dies bei einer individuellen Kundenbetreuung nicht möglich ist, und zum anderen wegen eines wohl angeborenen Freiheitsdranges, der eine enge Einbindung nicht zuläßt. Unser Chef hatte die Zusammenhänge erkannt und ließ uns weitgehend freie Hand ("von Weisheit erleuchtet", hatte Peter einmal kommentiert), sehr zum Nutzen aller Beteiligten.

Würde mich einmal jemand fragen, ob ich in meinem Beruf zufrieden und glücklich bin, ich würde dies ohne zu zögern bejahen. "Und nicht nur in meinem Beruf", dachte ich noch, um mich dann den Briefen und Zetteln auf meinem Schreibtisch zuzuwenden.

Die Post war schnell durchgeschaut, die Telefonate waren rasch geführt. Nichts stellte sich als so dringend heraus, als daß es noch hätte erledigt werden müssen, bevor ich das Haus verließ. Das meiste konnte ich sowieso Eva überlassen. Mit ein paar Sätzen hatte ich ihr das Nötigste erklärt, und ich konnte fahren.

*

Vor einigen Wochen erst war mein Licht in mein Leben getreten. Manchmal schien mir seitdem eine kleine Ewigkeit vergangen zu sein, so viel hatte sich ereignet, so reich war ich mit neuen Erkenntnissen beschenkt worden in den Stunden unserer gemeinsamen Gespräche.

"Was heißt ‘geworden’?" dachte ich. "Es ist ja nicht vorbei; es wird hoffentlich noch lange, lange so bleiben." Wie lange noch? Bis ich ausgelernt hatte! Wo? Hier? Wohl kaum.

Das Licht hatte mir schon in der zweiten oder dritten Nacht gesagt: Ich werde dich begleiten, bis du wieder dahin zurückgekehrt bist, woher du gekommen bist.

Wo mein Ursprung und der eines jeden Menschen und einer jeden Seele lag, das hatte ich inzwischen erfahren: in den für mich unvorstellbaren Himmeln in ihrer Raum- und Zeitlosigkeit. Sie waren die Quelle allen Lebens, der Ausgangspunkt aller Wesen, die diese reinen, ewigen Lichtsphären verlassen hatten. Gleichzeitig waren sie auch das Ziel für alle, ohne Ausnahme. Sie waren Anfang und Ende zugleich, das A und W - Gott.

Zu den Veränderungen, die mein Leben betrafen, gehörte auch, daß ich versuchte, die Stunden des Tages sinnvoller zu nutzen als früher. Oftmals waren dies nur Kleinigkeiten, doch sie schenkten mir schon jetzt mehr und mehr das Gefühl, daß da ein geistiges Guthaben zu wachsen begann. Ähnlich wie auf einem Sparbuch, schien mir: langsam aber sicher. Zu einer dieser Kleinigkeiten gehörte, daß ich immer öfters auf den manchmal doch recht langen Strecken darauf verzichtete, das Autoradio einzuschalten. Stattdessen erlaubte ich meinen Gedanken dort, wo der Straßenverkehr dies zuließ, sich mit den vielen Eindrücken, Impulsen und Weisheiten zu befassen, die in der letzten Zeit Herz und Verstand überfluteten.

Eine leise Ahnung stieg in mir auf, wie abenteuerlich die noch vor mir liegenden Jahre meines Lebens werden würden, hatte ich mich erst einmal voll und ganz für die Weisheiten geöffnet, die mir zuströmen wollten; wenn ich gelernt hatte, mich noch vertrauensvoller einer Führung hinzugeben, deren Fundamente Liebe und Allmacht waren. Und die mich - und einen jeden, der willens wäre - mit einer, mit nichts zu vergleichenden "göttlichen" Präzision auf den Weg nach Hause bringen würde.

Eine gute halbe Stunde hatte ich bis zu meinem ersten Kunden zu fahren, vorwiegend auf Nebenstraßen. So tat auch an diesem Tag mein Mensch meiner aufnahmebereiten Seele den Gefallen, ein äußeres Hören zurückzustellen zugunsten eines inneren Lauschens. Das Radio blieb aus.

Was hatte sich nicht alles getan! Und dabei standen wir erst am Beginn unserer gemeinsamen Arbeit. Nicht, daß sichtbar etwas anders geworden wäre. Das mußte wohl auch gar nicht sein. Nein, äußerlich war alles beim alten geblieben. Und trotzdem glaubte ich, daß Eva etwas spürte. Sie hatte ein feines Gefühl. Manchmal schaute sie mich so komisch an, und einmal fragte sie:

"Ferdinand, mal ehrlich, machst du einen Yoga-Kurs oder was Ähnliches? Oder hast du ein Fernstudium ‘Wie finde ich meine Mitte wieder?’ angefangen?"

Ich weiß nicht mehr genau, was ich entgegnete. Ich konnte jedoch ihre Frage auf eine Art und Weise beantworten, die sie wohl im Moment zufriedenstellte, ohne daß ich hatte lügen müssen - auch wenn ich die volle Wahrheit verschwieg. Was hätte ich auch erzählen sollen? Von einem nächtlich erscheinenden Licht, das sich als ein uralter Bekannter und sogar als mein Begleiter vorstellte? Das anfing, mein Herz zu weiten und meinen Verstand zu schärfen, und das mir immer wieder seine selbstlose Liebe zeigte? Hätte ich ihr dann nicht auch von meiner Suche nach der Wahrheit berichten müssen? Und daß ich mit Hilfe meines Liebe-Lichtes fündig geworden war?1)

Das alles schien mir nicht nur unmöglich, es war auch unmöglich. Denn soviel hatte ich auf Grund der bisherigen Belehrungen schon begriffen: Rede nur, wenn du gefragt wirst. Lebe jedoch so, daß man dich fragt. Aber auch dann gehe sehr behutsam vor, damit du deinen Nächsten nicht überforderst, erschreckst oder gar abschreckst.

Der einzige, mit dem ich mein Licht-Erleben ziemlich regelmäßig teilte, war Peter. Selbst meiner Tochter Anne, die runde 200 km entfernt als Krankenschwester arbeitete, hatte ich bisher nach gründlichem Abwägen nichts erzählt. Das war mir nicht leichtgefallen, zumal wir uns bei ihrem letzten Besuch vor etwa zwei Monaten sehr nahe waren. Sie glaubte ebenfalls, eine Art "Erneuerung" an mir entdeckt zu haben und schrieb dies, fragend und spitzbübisch, einer möglichen Verliebtheit zu. Damit lag sie nicht einmal so sehr daneben. Nur war es eben eine anders geartete Verliebtheit.

Peter gegenüber hatte ich mich gleich nach dem ersten Erscheinen des Lichtes entschlossen, mein ansonsten gehütetes Geheimnis in wichtigen Punkten preiszugeben. Dafür gab es mehrere Gründe: Er war der einzige in meiner Nähe, an den ich mich vertrauensvoll wenden konnte, nachdem meine erste Verwunderung zwar abgeklungen, ich jedoch noch nicht in der Lage war, das Geschehen richtig einzuordnen. Vor allem aber hatte er eine ruhige, dem Licht eigenartigerweise sehr ähnelnde Art, mehr fragend als Antwort gebend an eine Sache heranzugehen. So waren wir beide bei so mancher unserer geistigen Erkundungen gemeinsam ein ganzes Stück vorangekommen. Das geschah, hatte ich den Eindruck, sehr zur Freude meines geistigen Lehrers aus dem Licht, der mich ohnehin anscheinend gerne an seine Lieblingsaufforderung zur Benutzung meines gottgegebenen Denkvermögens erinnerte. Wenn nötig, zeigte er mir den nächsten Schritt auf. Er tat ihn aber nicht für mich (oftmals allerdings begleitete er mich, so wie man einem Invaliden stützend zur Seite steht), denn schließlich arbeiteten wir an meinem Wachstum.

"Entschuldigung", hatte ich, als es wieder einmal um das verflixte Nachdenken in Selbstverantwortung ging, gesagt, "ich vergaß, daß ich was lernen soll. Du weißt es ja schon." Und in Gedanken hinzugefügt: "Das ist wie im richtigen Leben; ob das jemals aufhört?"

Inzwischen war ich bei meinem Kunden eingetroffen. "Hallo, Herr Frei." Wir reichten uns die Hand. "Haben Sie was dabei für mich?"

"Aber sicher, Herr Klein, bei der Zuverlässigkeit unserer Frau Längerer!" Er stimmte mir sofort zu, kam aber dann über die Wertbegriffe Pflichtgefühl, Ordnungsliebe und "die gute, alte Zeit" recht schnell auf die überall anzutreffende Unwahrhaftigkeit, das sich abzeichnende Chaos in vielen gesellschaftlichen Bereichen, die Bestechlichkeit in Wirtschaft und Politik und anderes mehr zu sprechen.

Ich bin meistens ein recht guter Zuhörer, das war auch jetzt der Fall. Ich versuchte, ihn durch Fragen und Einwürfe von seiner negativen Schiene wegzubringen, auf der er sich - nicht zum ersten Mal - befand. Es gelang mir nicht. Hinzu kam, daß ich ihm in manchen Dingen durchaus recht geben mußte. Nur weigerte ich mich schon von jeher, in einen bereits überlaufenden Topf pessimistisch und voller Verzagtheit zusätzlich negative Energie hineinzugeben. Dadurch wurde eine an sich schon schlimme Sache in aller Regel nur noch schlimmer gemacht.

Das bedeutete für mich nicht, mit geschlossenen Augen durch die Welt zu laufen. Denn ein Problem hat sich noch niemals dadurch in Luft aufgelöst, daß man es ignoriert hat. Und die fast überall in vermehrtem Maße anzutreffenden Verfallserscheinungen stellten und stellen mehr als nur ein Problem dar. Gleichwohl konnte es nicht die Lösung sein, nur mutlos, anprangernd und ohne Perspektive in die vor uns liegenden Jahre zu gehen. Wenn es nicht möglich sein sollte, an der jetzigen Situation etwas grundlegend zum Positiven hin zu verändern - und das schien in der Tat kaum vorstellbar zu sein -, dann mußte es einen anderen Weg geben. Ich ahnte ihn bereits: die Übergabe des Schicksals in die Hände einer mächtigeren, einer allmächtigen Kraft.

Ich fand schließlich Gelegenheit, meinen Kunden doch für einen Moment zum Innehalten und Nachdenken zu bringen. Ich überlegte kurz, ob ich das, was in mir aufgestiegen war, aussprechen sollte oder nicht. Im Hinblick auf unsere lange, fast freundschaftliche Beziehung tat ich es.

"Wir kennen uns nun schon so lange, Herr Klein, da erlaube ich mir mal, ohne daß Sie mir bitte böse sind, eine Frage: Glauben Sie an Gott?"

"Warum sollte ich Ihnen böse sein?" Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. "Ich glaube schon, daß ich an einen Gott glaube. Nur habe ich seit langem die Hoffnung aufgegeben, daß sich durch meinen Glauben in dieser Welt etwas ändern wird."

Im Grunde genommen hatte er recht. Durch den Glauben allein würde sich nichts ändern, das hatte ich inzwischen gelernt. Konnte ich ihm das sagen? Nein, entschied ich. Das würde uns nur in eine weitere, end- und fruchtlose Diskussion führen. Aber etwas in mir sprach zu ihm. Ich vermutete plötzlich, daß mein Licht seinen gehörigen Anteil an meiner Antwort hatte.

"Sicher können Sie nicht verhindern, was um Sie, um uns herum geschieht. Aber es kann Sie auch nichts und niemand daran hindern, eine ganz persönliche Entscheidung zu treffen: Sich nämlich nicht mehr herunterziehen zu lassen von dem, was da beginnt, sich an Negativem aufzubauen."

Ich war über mich selbst mindestens ebenso erstaunt wie er. Einen Satz schien ich noch sagen zu müssen: "Und es kann Sie auch keiner davon abhalten, es einmal mit ein bißchen Vertrauen in die Kraft zu versuchen, an die Sie doch glauben. So probiere ich es wenigstens." "Ab und zu mal", fügte ich in Gedanken hinzu; denn ich wollte ehrlich sein.

Ich glaube, das brachte ihn ein wenig zum Nachdenken. Auf jeden Fall schien er mir beim Abschied, nachdem wir das Geschäftliche besprochen hatten, etwas freier zu sein als bei meinem Kommen. Wo nahm ich nur den Mut und die Worte her, so zu reden? Ich kannte mich kaum wieder. Nicht, daß ich je mundfaul gewesen wäre, aber doch nicht so ...! Mein Licht begann wohl, die allerersten, klitzekleinen Schritte mit mir zu üben. Das würde was werden.

Abends auf der Rückfahrt mußte ich des öfteren an dieses Gespräch denken. Was mir immer wieder vor Augen kam war der Ausdruck von Hilflosigkeit und Resignation, der alle seine Äußerungen wie ein Grundmuster durchzog. Und nicht nur seine. Er war nicht der einzige, der so empfand, und ich lief ja nicht blind durch die Weltgeschichte. Eine allgemeine Unsicherheit schien sich breitzumachen. Ängstliche Fragen wurden gestellt, nichtssagende Antworten wurden gegeben. Und das Gefühl eines immer rascher um sich greifenden Wo-wird-das-enden? war nicht mehr von der Hand zu weisen. Das war die eine Seite.

"Auf der anderen Seite ...", überlegte ich. Oder war es gar nicht die andere Seite? War es vielleicht nur das dazu gehörende Spiegelbild, das mit dem Anwachsen der ersten Seite einherging? Was immer es auch war, es zeichnete sich durch nicht minder erschreckende Merkmale aus: Oberflächlichkeit, dafür aber "Leben pur", eine Rückwärtsentwicklung auf vielen Gebieten der Kultur, fun, fun und nochmals fun ("jetzt fängst du auch schon an", dachte ich), eine zunehmende Bewertung von Geld, Gut, Schönheit, Jugend und, und, und ...

Ich war auf einmal nahe daran, meinem Kunden Klein zuzustimmen und sein trostloses Weltbild - und sei es nur für Minuten - zu übernehmen. Doch ich wurde davor glücklicherweise bewahrt.

Hast du nicht selbst vor ein paar Stunden von einer möglichen Lösung gesprochen?

Anscheinend hatte mein Licht es für erforderlich oder vielleicht sogar für dringend erforderlich gehalten, mit seiner Frage meine Gedankengänge zu stoppen. Das gelang ihm. Aber mir zeigte es nicht zum ersten Mal, wie anfällig ich noch war gegenüber negativen Einflüssen. Später erarbeiteten wir dann gemeinsam die geistigen Gesetzmäßigkeiten, die solchen und ähnlichen Geschehnissen zugrunde liegen. Ich erfuhr, was eine Zulassung ist und lernte so die "Spielregeln" bzw. einen Teil davon kennen, nach denen diese Angriffe aus dem Unsichtbaren geführt wurden. Aber mein Licht brachte mir auch bei, wie man sie abwehren konnte - wenn man wachsam war und dies wollte.

"Ich danke dir", sagte ich. "Wenigstens einer von uns ist bei der Sache."

Ich wußte inzwischen, daß mein Licht mir meine Art von Humor nicht im geringsten übelnahm. Wie auch - war es doch Liebe! Außerdem war ich in der Lage, nötigenfalls sofort umzuschalten und wieder sehr ernsthaft bei der Sache zu sein, ein aufmerksamer und gelehriger Schüler, der die - zumeist nächtlichen - Unterredungen genoß und nie mehr missen wollte. Das wußten wir beide.

Bisher erschien mein Licht ausschließlich nachts. War es angezeigt, bekam ich auch tagsüber Hilfe; dann aber zeigte sich dieses strahlende Wesen nicht als Licht, sondern es "sprach" lediglich auf eine mir unbegreifliche Weise zu mir. In meinem Herzen? Über mein Gewissen? Lauschte ich mit meinen "inneren" Ohren, oder - wie ich manchmal glaubte - hörte ich auch mit meinen äußeren Ohren? Wie es auch war: Ich vernahm einfach das, was ich vernehmen sollte; und stets war es Unterstützung, Fingerzeig, Gedankenanstoß oder auch Mahnung im richtigen Moment.

*

Zu Hause erwartete mich ein Anrufbeantworter mit drei aufgezeichneten Gesprächen: eine kurze Kunden-Information, ein Gruß von Anne ("einfach nur so, Papa") und die Bitte meiner alten Lehrerin um Rückruf oder noch besser gleich um einen Besuch. Dieser Anruf überraschte mich; wir hatten uns zuletzt vor knapp drei Wochen gesehen. "Was hat sie wohl auf dem Herzen?" dachte ich. Es mußte etwas Wichtiges sein, denn sie war nicht der Typ für seichte Unterhaltung. Ganz im Gegenteil.

Vor jetzt beinahe 50 Jahren waren wir uns an einem regnerischen Morgen in einer Schule, die noch die Spuren des Krieges trug, begegnet. Es war Liebe auf den ersten Blick. Von meiner Seite aus zumindest, denn ich weiß noch, wie ich nach der Einschulung aufgeregt in die Arme meiner Mutter lief und ausrief: "Die Frau Scheffler, das ist unsere Lehrerin, die ist Spitze. Die hat mir sogar über den Kopf gestreichelt!" Und dabei wurde ich ein wenig rot.

Viele Jahre später, ich war inzwischen ein junger, erwachsener Mann geworden und sie eine reife Frau, erzählte ich ihr anläßlich eines Klassentreffens diese kleine Geschichte. Sie hatte kurz überlegt, ob sie mir das, was ihr anscheinend auf der Zunge lag, sagen sollte. Dann hatte sie sich selbst zugenickt und mit einem kleinen Lächeln gemeint:

"Die Zeiten, da ihr meine Schüler wart mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung, sind vorbei, und ich habe gegen dieses Prinzip auch hoffentlich nie verstoßen. Jetzt kann ich es dir ja sagen: ‘Mir ging es mit dir ähnlich’."

Da war ich wegen der gleichen Sache zum zweiten Mal rot geworden. Sie hatte so getan, als bemerke sie das nicht, und erklärt: "Sicher war es keine Liebe, so wie man das versteht. Aber es war Zuneigung, denn du erinnertest mich sehr stark an meinen verstorbenen, jüngeren Bruder. Das betraf sowohl dein Aussehen als auch deine Art, eher ein bißchen zurückhaltend, manchmal opponierend und meistens fröhlich."

Ich glaube, ich nahm sie an dem Abend von allen am meisten in Beschlag. Für uns war es damals eine Selbstverständlichkeit, daß die Lehrer oder Lehrerinnen uns gegenüber - zumal dann, wenn sie uns einige wichtige Jahre unseres Lebens begleitet hatten - beim "du" blieben. Keiner von uns hätte gewagt oder auch nur im Traum daran gedacht, sich mit der gleichen vertrauten Anrede zu revanchieren, nur weil wir uns jetzt als Erwachsene gegenüberstanden.

Bei der Verabschiedung hatte sie mich aufmerksam angeschaut. "Es würde mich freuen, Ferdinand, wenn wir in Verbindung blieben."

"Und ob, Elisabeth Scheffler", hatte ich gedacht, um dann weniger dreist zu sagen: "Da bin ich sogar ganz sicher, Frau Scheffler. Ich versprech’s". Ich hatte mein Versprechen gehalten. Heute, nach drei Jahrzehnten, trafen wir uns mehr oder weniger regelmäßig immer noch. Wir hatten eine tiefe Achtung voreinander entwickelt, und auch als Erwachsener war sie mir Lehrerin geblieben.

Sie war, kam es mir plötzlich in den Sinn, im Laufe der Jahre für mich zu einer Art Kleinausgabe meines Lichtes geworden. Nicht ganz so weise, auch nicht so vorausschauend und ständig präsent, dafür fast so gütig und einfühlend.

"Du schwärmst ja immer noch von ihr, Ferdinand", sagte ich zu meinem Spiegelbild, das mich aus der Scheibe meines Wohnzimmerschrankes heraus anschaute. Dann rief ich sie an und vereinbarte für den morgigen Spätnachmittag meinen Besuch. Ich würde dann zwar etwas früher aufhören müssen zu arbeiten, aber einen Abendbesuch wollte ich ihr nicht zumuten.

*

Nach einem rasch zubereiteten Abendessen nahm ich das Buch zur Hand, das mir Bernhard Klink mitgegeben hatte. Weil mich so viele Themen darin ansprachen, las ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit hier ein bißchen und da ein bißchen und entdeckte dabei viel Erstaunliches und Erschreckendes. Doch schließlich mahnte mich mein Ordnungssinn, doch bitte vorne zu beginnen. Und in der Einleitung, in der die Autorin kurz ihren Lebensweg mit dem Schwerpunkt ihrer Krankheit beleuchtete, fand ich dann etwas, das mich bei allem Interesse für die medizinische Aufklärung mindestens ebenso fesselte. Dabei waren es nur wenige Sätze, aber sie brachten genau die Saite in mir zum Klingen, die auch die Brücke von den Patientenschäfchen zu den Kirchenschäfchen geschlagen hatte. Wieder ging es um die Verantwortung.

"Wenn ich wieder gesund werden wollte", stand da, "mußte ich selbst die Verantwortung für alles übernehmen - von der Diagnose bis zur möglichen Heilung ... Daß ich mich selbst um meine Gesundheit kümmern mußte, fing an Sinn zu machen, da wohl kaum ein anderer sich über das Ergebnis so leidenschaftlich Sorgen machen würde."

Wieder betrat, wie der Hauptdarsteller seine Bühne, der Begriff "Verantwortung" die Bühne meiner Gedanken. Heilung, hieß es an einer anderen Stelle, sei ein komplexer Prozeß, in dem man die Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt. Auch die Arzt-Patienten-Beziehung wurde angesprochen und die Vermutung geäußert, daß Patienten schneller genesen würden, " ... wenn sie in den Entscheidungsprozeß über die Art ihrer Behandlung einbezogen werden. Eine wirkliche Heilung konnte nur dann beginnen, wenn es zwischen dem Arzt und Patienten einen Dialog gäbe, sozusagen eine Demokratie mit geteilter Verantwortung."

Was mich trotz des fortgeschrittenen Abends innerlich so hellwach werden ließ war der Vergleich, der sich mir aufdrängte. Man konnte die Aussagen problemlos für ein anderes Bild übernehmen, in dem es nicht um die Eigenverantwortung gegenüber dem sterblichen Körper, sondern gegenüber der unsterblichen Seele ging! Dann würde einer der Sätze z.B. so lauten:

"Daß ich mich selbst um meine S e e l e kümmern mußte, fing an Sinn zu machen, da wohl kaum ein anderer sich über das Ergebnis so leidenschaftlich Sorgen machen würde."

"Phantastisch", dachte ich. Das traf mitten ins Schwarze. Es fiel mir nicht schwer, auch in der Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen meinem Licht und mir eine Parallele zur Arzt-Patienten-Beziehung zu erkennen; und daß eine wirkliche Heilung nur dann beginnen konnte, wenn es zwischen Lehrer und Schüler einen Dialog gäbe, das hatte ich schon am eigenen Leib erfahren. Die Notwendigkeit des Dialogs und der Übernahme geteilter Verantwortung paßte ebenso ins Bild: Ich trug einen Teil auf Grund meines freien Willens, den anderen Teil trug mein Licht, seit es sich aus selbstloser Liebe bereit erklärt hatte, meine geistige Führung zu übernehmen. Daß das Licht seinen Beitrag fehlerfrei und mustergültig leistete, darüber brauchte ich erst gar nicht nachzudenken.

Etwas anderes tauchte plötzlich in meinen Gedanken auf. Ich war, wie es mir schien, in einer privilegierten, aber nicht selbstverdienten Position durch die Verbindung zu meinem Licht. Was war mit all den vielen anderen Menschen? Mußten sie ein Leben lang ohne diese innere und innige Führung auskommen? Sie konnten sich doch nicht einfach hinsetzen - falls sie überhaupt auf die Idee kämen! - und bitten: "Lieber Gott, kannst du nicht auch mit mir reden oder wenigstens jemanden abstellen, der das für dich tut?" Inzwischen wußte ich zwar, daß jeder Mensch seinen Schutzengel und, wenn es die Aufgabenbewältigung mitunter erfordert, auch weitere geistige Helfer hat, aber kaum jemand hatte bisher von ähnlichen Beziehungen wie meiner oder besser unserer gehört.

"Ich habe ja, außer Peter, auch keinem davon erzählt", sagte ich mir. "Na ja, stimmt", gab ich zögernd zu. Dennoch ...! Ich mußte mit meinem Licht bei nächster Gelegenheit darüber sprechen.

Ich las noch weitere schöne Sachen. Der erste Satz der Einleitung lautete beispielsweise: "Dieses Buch verdankt seine Geburt einer großen Leidenschaft, die ich einmal hatte, nämlich gesund zu werden." Die Gleichheit lag so klar auf der Hand: " ... einer großen Sehnsucht, die ich habe ... nämlich auch an meiner Seele gesund zu werden."

Und bei der folgenden Betrachtung von Lynne McTaggart ergab sich die Analogie fast ohne eigenes Dazutun:

"Fragen Sie nur oft genug warum?, und früher oder später werden Sie den Abgrund des Glaubens erreichen. Ihr Arzt wird sich dann auf die Tatsache berufen, daß Sie all die Wunder, die ihm zur Verfügung stehen, nicht kennen oder nicht verstehen. Vertraue mir ganz einfach ... Und wenn Sie einmal erkannt haben, wieviel Kitsch sich in den Schubladen ihres Arztes befindet und wieviel Medizin auf blindem Vertrauen, erhaltenem Wissen, selektiven Fakten und nicht auf Vernunft, Wissenschaft oder gesundem Menschenverstand basiert, dann können Sie dem falschen Schamanen die Macht entreißen und damit anfangen, die Kontrolle für Ihre Gesundheit wieder selbst zu übernehmen."

Ich war müde geworden, darum bereitete ich mich für die Nacht vor. Im Bett liegend überdachte ich noch einmal kurz den Tag, zog eine kleine Bilanz und richtete mein Augenmerk nach innen. Wenn ich nicht zu müde war, gelang mir dies meistens für einige Minuten. Sie waren dann angefüllt mit einem Dank dafür, daß es mir gut ging, und mit einer Bitte für diejenigen, die Hilfe benötigten und mir gerade einfielen. Manchmal kam auch schon eine Art holpriger und völlig unzulänglicher Liebeserklärung an meinen ewigen und großen, himmlischen Vater zustande. Aber, weil sie so ehrlich wie möglich war, schien sie Ihm zu gefallen - hatte ich den Eindruck.

Meine letzten Gedanken gehörten oft auch meinem Licht. In der ersten Zeit unseres Beisammenseins erlebte ich sein glanzvolles Auftreten fast jede Nacht. Das hatte sich geändert. Nachdem ich in den Augen des Lichtes anscheinend genügend Wissen angesammelt und Informationen erhalten hatte, um den Sinn des Erdenlebens zu verstehen, kam eines Nachts die Nagelprobe. Jetzt ging es um die Frage des Umsetzens. Es galt zu erkennen, daß eine Veränderung a) notwendig ist und b) im Alltag Schritt für Schritt vollzogen werden muß. Ich erinnere mich an jedes Wort.

Gehen wir morgen an die Arbeit?

Was für eine Frage! "Natürlich", hatte ich geantwortet. Mußte ich mich vorbereiten?

Nein, was du benötigst ist dein Bemühen. Den Rest steuert dein Tag bei. Und dann vergiß nicht: Gebrauche deinen ...

"Ja, ja. Ich weiß ..."

Und während mein Licht schwächer geworden war und mich meinem Schlaf überlassen hatte, war mein Herz bis an seine Grenzen aufgegangen, und ich hatte gesagt:

"Ich liebe dich."