Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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6.

Am Samstag abend war ich bei Peter und seiner Frau Katharina zum Essen eingeladen. Dazu fühlte sich Katharina ab und zu verpflichtet, weil sie anscheinend glaubte, ohne ihre gute Küche bestände bei mir die Gefahr, "vom Fleisch zu fallen". Ich ließ sie gerne gewähren; beide waren mir sehr ans Herz gewachsen.

Später setzten wir Männer uns in eine Ecke des Wohnzimmers, nachdem Peter ein Schachspiel aufgebaut hatte. Katharina holte einen Stapel Kataloge und Prospekte her, die sie sich von verschiedenen Reisebüros besorgt hatte, um eine Vorauswahl für den Winterurlaub zu treffen. Peter hatte eine Flasche Wein geöffnet und schenkte uns dreien ein; uns ging es gut.

Schon nach den ersten Zügen merkte ich, daß ich nicht richtig bei der Sache war. Mir unterliefen Fehler, Peter nutzte sie freundschaftlich aus. Nach weniger als einer halben Stunde hatte mein König so gut wie keine Chance mehr.

"Gibst du auf?"

"Aber nur, wenn du mir eine Revanche gibst."

Die zweite Partie lief nicht besser für mich. Das konnte auch nicht anders sein, bei all den nicht zum Spiel gehörenden Gedanken, die sich gegen mein Bemühen immer wieder ins Bewußtsein drängten. Schach spielen kann eine wunderbare Entspannung, wenn erforderlich auch Ablenkung sein, sofern man es schafft, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Gelingt einem dies nicht, sollte man lieber gleich zur Tagesordnung übergehen. Schließlich nahm Peter fast liebevoll meinen weißen König in die Hand und streichelte ihn.

"Armer Kerl, was hast du denn heute für einen Feldherrn? Trägt die Verantwortung für dich und die ganze Armee, kümmert sich nicht richtig um euch und läßt sich das ganze Spiel aus der Hand nehmen."

Er schaute mich an, den Schalk im Nacken.

"Komm, wir tun ihn in die Kiste und die anderen auch. Das gibt nichts mehr. Du hast ja deine Gedanken ganz irgendwo anders."

Peter ahnte mit Sicherheit schon, daß es etwas mit meinem Licht zu tun hatte. Er wußte aber auch, daß er im Beisein von Katharina nicht mit mir darüber sprechen konnte. Meine Unkonzentriertheit hing natürlich mit dem letzten nächtlichen Erscheinen zusammen. Doch auch die Eindrücke des Gesprächs mit Elisabeth waren überraschenderweise noch ganz frisch, obwohl das schon ein paar Tage her war. Außerdem hatte ich das unbestimmte Empfinden, daß es ihr nicht gut ging. Ich nahm mir vor, morgen früh ihre Tochter anzurufen.

"Du hast recht. Es gibt da etwas, das mich beschäftigt. Es sind keine Sorgen, es bedrückt mich auch nichts, aber es ist doch allerhand passiert."

Und dann erzählte ich ihm von meinem Nachmittag bei Elisabeth Scheffler, von ihrem Wunsch und meiner Unsicherheit, die trotz meiner Zusage noch vorhanden war. Was dann kam, war ganz typisch für Peter - sachlich, realistisch, schnell.

"Das finde ich eine gute Idee, so gut, daß ich sie sofort aufgreife. Machst du das gleiche bei mir?"

Ich fiel aus allen Wolken. Was war denn auf einmal los? Wenn alles etwas zu sagen hat, was auf einen zukommt, mußte auch da etwas dran sein.

"Vielleicht sollte ich ein Bestattungsunternehmen aufmachen", sagte ich. "Ich muß mir nur noch die ernste Miene zulegen und dann natürlich auch einen schwarzen Anzug."

Ich tat für einen Moment so, also müßte ich über seine Bitte nachdenken. "Also gut, ich mach’s, wenn du es auch für mich tust."

Wir hoben unsere Gläser und stießen darauf an. Ich hätte es auch ohne seine Gegenleistung getan, das wußte er. Doch so etwas gehörte bei uns einfach dazu.

"Abgemacht. Nur weiß ich nicht genau, wie das gehen soll."

"Wieso? Das ist doch ganz einfach. Ich beerdige dich, und du beerdigst mich. Wer zuletzt stirbt, hat gewonnen. "

Wir lachten beide. Katharina ließ sich aus ihrer Ecke vernehmen. "Ihr seid richtige Kindsköpfe, zwar liebenswert, aber das ändert nichts daran, daß man mit so einem Thema respektvoller umgeht." Sie schaute uns über ihre Brille hinweg an und mußte trotz der Strenge ihrer Worte selbst lachen.

Diese kleine Blödelei hatte mir gutgetan; da hatte sich ein bißchen was gelöst. Wir kamen dann noch einmal ernsthaft auf die Sache zurück und bestätigten uns beide unsere Versprechen. Sollte Elisabeth vor mir sterben, was anzunehmen war, so würde Peter mit zur Beerdigung gehen. Er hatte sie auch gekannt und würde sich bei der Gelegenheit einen Eindruck verschaffen, " ... wie du mit deinem großen Herzen das machst." Das war ihm Ernst.

Katharina hatte die Fernsehzeitung in die Hand genommen. Sie suchte nach einer bestimmten Sendung.

"Da steht es ja! ‘Schwarzwald, wie bist du so schön’." Sie wandte sich uns zu.

"Macht es euch etwas aus, ins Eßzimmer zu gehen? Dann könnte ich mir in Ruhe einen Film über meine alte Heimat anschauen."

Sie ahnte gar nicht, wie gelegen mir das kam. Ich nahm die Gläser, Peter den Wein; Katharina hatte von ihrem Glas kaum etwas getrunken. Wir begaben uns ins Nebenzimmer.

"Du hast vorhin beim Schach spielen im Scherz das Wort ‘Verantwortung’ gebraucht", begann ich. "Es paßt genau in das hinein, was mich seit meinem letzten Gespräch mit dem Licht beschäftigt. Ausgangspunkt war der Begriff ‘Evolution’. Ich wurde an den großen Bogen erinnert, der mir in früheren Belehrungen schon mehrmals aufgezeigt worden war: die Spanne vom Woher? über das Warum? hin zum Wohin?. Eigentlich ist es mehr ein Kreislauf ..."

Ich unterbrach mich, weil mir ein Gedicht einfiel, das mich stark beeindruckt hatte. "Nimm dir, geliebtes Kind, für Mich ein wenig Zeit"1), so fing es an, und die vier Strophen, die den Kreislauf schilderten, hatte ich parat.

"Hör dir das an, Peter, es paßt wunderbar dazu." Ich begann, aus dem Gedächtnis zu zitieren:

"Denn du bist Geist, seit eh geschaut durch Meine Macht,

aus dieser einen Quelle, die das Leben ist.

Dann gingst du, und der Schattenwelten dunkle Nacht

umringte dich und höhnte: Weißt du, wer du bist?

Du gabst dich hin - und das Vergessen fing dich ein.

Was bist du? Menschenwerk? Des blinden Schicksals Streich?

Was soll, das du in deinem Spiegel siehst, denn sein?

Geschöpf der Erde und doch Himmelskind zugleich?

Du bist und bleibst Mein Kind, ganz gleich, was man dir sagt,

und Ich verliere nicht, was Meine Liebe schuf.

Ich warte. Und wenn deine Seele weint und klagt,

weil sie geknebelt ist, dann höre Ich den Ruf.

Der Anfang ist dem Ende gleich und Ursprung Ziel,

und keine Zeit bedrängt das Werden und Vergeh’n.

Du kommst, du gehst, du kommst - wie der Gezeiten Spiel;

doch dann erwachst du und beginnst, Mich zu versteh’n."

Für einen Augenblick schwiegen wir. Dann wiederholte Peter: "’Der Anfang ist dem Ende gleich und Ursprung Ziel, und keine Zeit bedrängt das Werden und Vergeh’n’. So habe ich es früher schon empfunden, und durch dich habe ich’s erfahren."

"Nicht durch mich, ich war und bin nur der Büttel auf dem Marktplatz. Die Texte macht ein anderer. Dieser andere hat mich auch die Frage nach einer seelischen Evolution oder etwas Ähnlichem stellen lassen."

Dann erzählte ich ihm kurz von meinem Durchblättern der wissenschaftlichen Zeitung "Universum".

"Was mich seitdem beschäftigt ist die Frage, warum alle möglichen Formen von Evolution angenommen oder erkannt werden bzw. worden sind, sich jedoch keiner darüber Gedanken macht, ob nicht auch die Seele möglicherweise einer Evolution unterliegt. Denn, wenn alles sich entwickelt, ist auch ein fortwährendes Wachstum der Seele nicht nur möglich, nicht nur wahrscheinlich; es müßte im Schöpfungsplan festgeschrieben sein."

"Wir könnten auch Bewußtsein sagen oder Reife oder innere Größe oder Erkenntnis. All das drückt das Nicht-Materielle aus, das, was den Menschen vom Tier unterscheidet", ergänzte er. "Wir können davon ausgehen, daß es im Schöpfungsplan vorgesehen sein muß. Das steht für mich außer Zweifel. Gott gibt keine Entwicklung für den Kosmos, den Menschen, die Tier- und Pflanzenwelt vor, ohne an das Wichtigste zu denken. Und das Wichtigste ist Ihm bestimmt das Vorwärtskommen, die Höherentwicklung Seiner Erdenkinder." Peter hielt kurz inne.

"Es muß so sein", wiederholte er, "denn Gott macht keine halben Sachen."

Es machte mir immer wieder Freude, mit ihm Gespräche dieser oder ähnlicher Art zu führen. Er gehörte zu jenen Menschen, denen man einen Sachverhalt nicht zusätzlich noch von dieser und jener Seite aus beleuchten mußte, bis er mit Mühe und Not akzeptiert wurde. Im Gegenteil. Er erkannte manchmal das Bild schon, obwohl erst wenige Mosaiksteinchen vor ihm lagen. Vor ein paar Tagen hatte ich das alles noch mit einem Fragezeichen versehen, jetzt lag die Antwort vor uns. Oder wenigstens ein Teil davon. Mit himmlischer Hilfe, nahm ich an. Also kein Schulterklopfen.

"Wenn dem aber so ist", nahm ich den Faden wieder auf, "dann taucht die große Frage auf: Warum wird das Geistige im Menschen nicht mehr gefordert? Warum wird es nicht entwickelt? Wird überhaupt die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß ein fast unbegrenztes Potential im seelisch-geistigen Bereich des Menschen liegen könnte? Überall werden Riesenfortschritte gemacht - ich brauche dir nicht zu sagen, auf welchen Gebieten -, nur der Mensch bleibt klein, unwissend, unerschlossen. - Oder wird er bewußt so gehalten?" fragte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend.

"Laß uns mal folgendes überlegen." Peter nahm einen kleinen Schluck. "Wenn - halt, nicht wenn, sondern weil es so ist, daß nur im Äußeren Fortschritte angestrebt werden, die inneren aber nicht gefördert, im schlimmsten Fall sogar unterdrückt werden, stellt sich die Frage: Wer hätte die Entwicklung darstellen oder aufzeichnen können oder müssen? Wer wäre überhaupt imstande gewesen, sie den Menschen nahezubringen, sie ihnen als ein leuchtendes Ziel vor Augen zu stellen?"

"Es hat den gegeben, nach dem du fragst: Jesus von Nazareth, in dem die Liebe Gottes inkarniert war."

"Sicher, aber dann?"

"Dann wurde, nach etwa 200 - 300 Jahren blühender, innerer Religiosität der Mantel der Erstarrung und Seelenblindheit darüber gedeckt und die Form wurde wichtiger als ihr Inhalt."

"Und heute wird ausgelacht und als falscher Prophet verschrien, wer daran erinnert, daß unter dem Mantel ungeahnte Kräfte schlummern, die darauf warten, geweckt und befreit zu werden. Dabei werden gerade sie am dringendsten benötigt, weil sie kaum noch anzutreffen sind - Liebe, Weisheit und Treue", beendete Peter diesen Gedankengang.

Wir saßen eine Weile nachdenklich da, gemeinsam schweigend, wie schon so oft. Ich malte mit meinem rechten Zeigefinger ein unsichtbares Muster auf die Tischdecke und brach dann das Schweigen als erster.

"Wer was versäumt und später verhindert hat und auch jetzt nicht mehr in der Lage ist, eine grundlegende Wende herbeizuführen, liegt auf der Hand." Bevor ich weitersprach, überlegte ich kurz, ob ich mich in den Gefahrenbereich der Verurteilung begab, konnte dies aber nicht feststellen. Es war gewiß nicht verboten, "Blech und Gold unterscheiden zu dürfen", wie ich es meinem Licht gegenüber sinngemäß ausgedrückt hatte. Im Gegenteil: Wer nicht in die Falle gehen wollte, mußte sich ein wachsames Auge und Empfinden bewahren. Oder er mußte versuchen, es sich anzueignen, wenn es noch unterentwickelt war.

"Auch das gehört zur Evolution", dachte ich.

"Ich weiß, was du überlegst", unterbrach Peter meinen Gedankengang.

"Nun denn, mein hellsichtiger Freund ...", witzelte ich.

"Du willst nicht ungerecht oder anmaßend sein oder gar den Richter spielen, und dennoch willst du die Dinge beim Namen nennen." Ich schaute ihn überrascht an. Also doch hellsichtig, zumindest sehr einfühlsam. Er war noch nicht ganz fertig. "Wo ist das Problem?"

Ja, wo war das Problem? Es bestand unter anderem darin, zwischen einer Organisation mit ihrem Gedankengut und dem einzelnen Menschen, der darin eingebunden war, zu unterscheiden - obwohl die Organisation wiederum aus Menschen bestand. Ich hatte oft erlebt, wie ernsthaft und voller Wärme so manche Ordensschwester und auch so mancher Geistliche als Seelsorger seiner Gemeinde ihre Aufgaben erfüllten. Das waren die ‘Bernhard Klinkes’ der Theologie. Da war Beruf zur Berufung geworden. Und überall auf der Welt wurde das Gebot der Nächstenliebe in kirchlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Altenheimen und Krankenhäusern erfüllt.

Um die alle ging es nicht, auch nicht um die vielen Gläubigen, die sich nach Kräften bemühten. Es ging darum ...

"Es geht darum", meinte Peter, "die Person von der Sache zu trennen. Wenn du ... entschuldige, wenn wir das schaffen, haben wir gewonnen. Und es geht schon besser als früher."

Ich nickte. "Also werden wir bei unseren Betrachtungen darauf verstärkt unser Augenmerk richten; dann geraten wir nicht in Versuchung. So nach dem Motto: ‘Ich stelle fest, daß du ein Dieb bist, aber das ändert nichts an meiner Liebe zu dir’."

"Und es ändert leider auch nichts daran, daß man diese Unterscheidung nicht wahrhaben will und wird. Intoleranz und Voreingenommenheit werden dir dennoch unterstellt werden."

Das, was wir da gerade besprochen hatten, war für mich insofern von ganz praktischer Bedeutung, als ich in Zukunft verstärkt auf das Auseinanderhalten von Person und Sache achten wollte. Das Herz ist unerläßlich, doch eine falsche Demut darf den Verstand nicht vernebeln. Ich war also auch hier, im Kreis meiner Freunde, nicht allein.

"Wir waren ein paar Sätze zuvor stehengeblieben bei dem Gedanken ...", ich überlegte und suchte den Ansatzpunkt. Dann hatte ich ihn. " ... wer was versäumt und verhindert hat. Das aber, glaube ich, ist nur die eine Seite. Es muß mehr dahinterstecken."

"Du meinst, andere Kräfte? Andere Interessen?"

"Es muß etwas sein, das ganz andere, für uns nicht überschaubare Dimensionen hat. Was wir sehen, ist nur die Wellenbewegung, der Schmutz, der an der Oberfläche schwimmt, an den man sich gewöhnt hat. Darunter wird etwas vorbereitet, da braut sich was zusammen."

"Und dich beschäftigt die Frage, was das ist, und wo die Kraft zu suchen oder abgeblieben ist, die sich dem erfolgreich entgegenstellt." Peter stellte damit keine Frage, er stellte fest.

"Ja. Wie sagtest du doch eben? Liebe, Weisheit und Treue! Das wäre ein Bollwerk! Da könnte es schon einmal stürmen, ohne daß gleich alles ins Wanken gerät oder zusammenbricht."

Im stillen wiederholte ich noch einmal "Liebe, Weisheit und Treue" und spürte ihrem Klang nach, dem Echo, das sie in meiner Seele hinterließen. Warum waren diese Begriffe so tief in mich hineingefallen?

Es war spät geworden. Wir gingen zu Katharina zurück, die gleichzeitig ein Auge für einen Farbprospekt und für den Fernseher hatte. "Das Wort zum Sonntag" hatte gerade begonnen; es sprach eine junge Pastorin. Ich wollte mich schon abwenden, um mich zu verabschieden, als das Wort "Verantwortung" fiel. Wenn das keiner dieser merkwürdigen "Zufälle" war! Ich blieb noch die paar Minuten.

Nichts war falsch an dem, was sie sagte: " ... Lassen Sie uns daher Verantwortung übernehmen für die Schöpfung, für das, was uns von Gott anvertraut worden ist. Wir leben nicht allein auf diesem Planeten. Und diejenigen, die nach uns kommen, haben ein Recht darauf, eine Erde vorzufinden, die sie ernährt und erhält." Eindringlich schaute sie den Zuschauer an. "Glauben Sie nicht alles, was im Namen von Wissenschaft und Fortschritt als gut und notwendig erachtet und verkauft wird. Geben Sie Ihre Verantwortung nicht ab, weil es andere angeblich besser wissen oder können. Glauben Sie wirklich, Sie könnten später einmal sagen: ‘Ich bin meiner Verantwortung nachgekommen, indem ich mich danach gerichtet habe, was die Studierten vorgegeben und was alle getan haben?’ Unsere Erde hat einen Anspruch darauf ..."

*

Am nächsten Vormittag setzte ich mich hin und schrieb an die Pastorin einen Brief. Ich hatte vor, ihn an die ARD zu schicken mit der Bitte um Weiterleitung. Er würde schon ankommen.

Ich dankte ihr darin für die guten Worte (meine Hoffnung, daß diese auf fruchtbaren Boden gefallen waren, war allerdings nicht sehr groß). Dann kam ich auf den Punkt zu sprechen, den ich in ihrer Ansprache vermißt hatte, und der über die Verantwortung für die Schöpfung hinausreichte. Gleichzeitig war er ihr vorgeschaltet: die Verantwortung für die eigene, innere Reife auf Gott zu.

"Wenn wir begreifen", schrieb ich, "daß die Entwicklung unserer Sehnsucht und Liebe auf das höchste Ziel zu die ureigenste Sache eines jeden ist, dann werden wir diese Verantwortung nicht mehr in die Hände anderer legen und bitten: ‘Sag du mir, was ich tun soll’. Dann werden wir uns auch nicht mehr zufriedengeben mit beinahe 2000 Jahre alten Überlieferungen - die ich im übrigen sehr schätze - und mit Predigten, die diese Schriften deuten und Geschehnisse oder Gleichnisse beleuchten. Dann werden wir uns auch nicht mehr auf Bibelzitate berufen und antworten: ‘Paulus oder Luther oder Bischof soundso hat gesagt ...’, denn wir antworten auf die Frage, wieviel 2 x 2 ist, ja auch nicht: ‘Mein Lehrer hat gesagt, das macht 4.’

Ein Hinterfragen und Nachfassen in Eigenverantwortung würde dazu führen, das Fehlen von Konsequenzen deutlich zu machen. Keine Konsequenz im Sinne von Drohung oder Strafe, sondern als Erkenntnis, daß das, was allgemein als ‘üblicher Standard eines Christen’ angesehen wird, noch lange, lange nicht das Ende des inneren Wachstums ist. Damit meine ich ein Wachstum, das hier zu Lebzeiten erreicht werden kann, wenn die Tatsache dieser Entwicklungsmöglichkeit den Menschen bekannt wäre. Und - was viel wichtiger ist - wenn die nötige Weisheit auch gelehrt und erworben werden könnte. Käme dann ein Fragender auf uns zu, könnten wir ihm helfen, indem wir ihm antworten: ‘Christus lebt in dir und mir. Ich habe dieses oder jenes Problem mit Seiner Kraft auf folgende Weise gelöst ...’ Und dem Suchenden würden wir sagen: ‘Glaube nicht nur an Ihn, sondern vertiefe deine Liebe zu Ihm. Ich habe durch meine Hingabe an Ihn z.B. diese tiefen Erkenntnisse gewonnen ...’ So brauchten wir uns nicht auf andere zu berufen, die uns zwar Vorbilder sein können, die uns aber das Vorangehen auf unserem Weg und das Erkennen der Wahrheit nicht abnehmen können.

Die praktizierte Eigenverantwortlichkeit, von der Sie zu Recht so eindringlich gesprochen haben, kann über die Bewahrung der Schöpfung hinaus auch die oben aufgezeichnete Perspektive eröffnen und den seit vielen Jahrhunderten verschütteten Weg erkennen lassen. Wird an diesem Punkt angesetzt, erübrigt sich in vielen Fällen das Bitten, Erinnern, Mahnen und Beschwören. Wer Eigenverantwortung übernommen hat für seinen Weg zu Gott, der kann nicht mehr verantwortungslos gegenüber Seiner Schöpfung handeln.

Vielleicht wäre das auch einmal ein Thema, mit dem man Millionen von Menschen zum Nachdenken anregen könnte. Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit Gottes Segen und grüße sie herzlich, Ihr ..."

Dieser Brief kam nie an, weil er nie abgeschickt wurde. Ich las ihn nämlich noch einmal in Ruhe durch und tat dann etwas, was mir mein Licht empfohlen hatte: Ich ging in mein Inneres. Es war eigentlich ganz einfach. Wie von selbst stiegen die Worte in mir auf: Rede nur, wenn du gefragt wirst. Lebe jedoch so, daß man dich fragt.

Keiner hatte mich gefragt, deshalb zerriß ich den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Der alte Widerspruchsgeist in mir wollte das letzte Wort haben. "Schade", meinte er. Das letzte Wort hatte jedoch mein Licht.

Gibt es etwas, das nicht zum Lernen dienen kann? Vielleicht stand, abgesehen von der richtigen Erkenntnis der Zusammenhänge, etwas für dich darin?

Ich nahm mir die zerrissenen Seiten noch einmal vor, legte sie zusammen und stolperte über den Satz: "Christus lebt in dir und mir. Ich habe dieses oder jenes Problem mit Seiner Kraft auf folgende Weise gelöst ..." Wie richtig und wie wahr. Doch durfte ich dies (schon) schreiben?

*

Ein Anruf bei Elisabeth bestätigte mir, daß es ihr nicht gut ging. Maria war am Apparat und berichtete mir von einem Schwächeanfall am gestrigen Abend. Der Arzt war gekommen, hatte aber nichts Ernstliches feststellen können. Elisabeth sei jedoch vernünftig gewesen und hätte das Bett nicht verlassen. Jetzt nehme sie aufbauende und stärkende Medikamente (" ... mit leichtem Widerwillen, Sie kennen sie ja"). Grund zur akuten Sorge bestehe nicht. Ich ließ einen Gruß ausrichten und wollte schon einhängen, doch Maria hatte noch etwas auf dem Herzen.

"Mutter hat mir davon erzählt, wie sie sich ihre Beerdigung vorstellt. Ich habe nichts dagegen, wie könnte ich auch. Es ist schließlich ihre Entscheidung, wenn ich auch zugeben muß, daß ich das für ein bißchen ...", sie suchte anscheinend das richtige Wort, " ... ungewöhnlich halte. Andererseits bin ich davon überzeugt, daß sie weiß, was sie tut. Ich werde Sie unterstützen, wenn es einmal so weit ist. Hoffentlich noch nicht so bald."

In ihren Worten schwang eine große Warmherzigkeit mit. Ich sah sie für einen Moment vor meinen Augen. "Wie wird sich ihr Bruder Volker dazu stellen?"

"Da könnte es ein Problem geben. Er ist so in seine Kirche und sein Amt dort eingebunden, daß er sich mit der Vorstellung eines nicht-kirchlichen Begräbnisses kaum anfreunden wird."

Wir verabschiedeten uns, und sie versprach, mich auf dem laufenden zu halten.

Den Nachmittag nutzte ich dazu, mir bei Max, dem Schwiegersohn von Peter, ein paar Bücher auszuleihen. Aus seiner Literatursammlung zu Themen wie Weiterleben nach dem Tod, Wiederverkörperung, Kirchengeschichte, Neuoffenbarungen und mehr hatte ich mich schon einmal bedient. Das war nun schon einige Zeit her - damals (wie sich das anhörte!), als ich auf die Suche ging, die Wahrheit zu ergründen. Ich hatte keine genauen Vorstellungen davon, was ich suchte, ich ließ mich einfach führen. Tommi und Irene spielten im Garten, Max leistete mir ein wenig Gesellschaft.

Schließlich hatte ich mich für drei Bücher entschieden. In einem Fall ging es um die Vorbereitung des Propheten Jakob Lorber (1800 - 1864) auf seine Inkarnation1) , in dem anderen mit dem Titel "Denn Christus lebt in jedem von euch"2) wohl auch um Offenbarungen. Auf dem dritten Buch stand "Gespräche mit Gott"3) , was nach der Unterhaltung mit meinem Licht natürlich ein aktuelles Thema war. Zeit um zu lesen würde ich in den Tagen meines Urlaubs in der übernächsten Woche genug haben.

"Die ‘Gespräche mit Gott’ sind hochinteressant." Max deutete auf eines der Bücher, die ich bereitgelegt hatte. "Da wirst du staunen, auch darüber, wie so etwas geht. Dem Mann z.B. ist unsichtbar die Hand geführt worden, von einem Moment auf den anderen, als er, wie er selbst schreibt, Gott einen gehässigen Brief voller Verdammungen und einer Menge zorniger Fragen schrieb."

Ich hatte das Buch vor kurzem in einer Buchhandlung gesehen. Was mich stutzig gemacht hatte war der Aufkleber auf der Klarsichthülle, mit dem es eingeschweißt war. Da erfuhr man, daß dieses Buch eine Zeit lang auf der Bestsellerliste in Amerika ganz oben stand. Sollte Amerika, ohne daß es jemand gemerkt hatte, über Nacht so an seinem Seelenheil und am Himmel interessiert sein, daß das im Moment meistgelesene Buch eines über Gott und dessen Ansprache an die Menschen war? Ich würde mich überraschen lassen.

Volker Scheffler, der Sohn von Elisabeth, rief am frühen Abend an. Er kam sofort zur Sache, kaum daß ich "guten Abend" gesagt hatte. Er hatte seine Begrüßung ohnehin vergessen.

"Ich kann mir eine lange Vorrede ersparen. Wenn ich es verhindern kann, werden Sie meine Mutter nicht beerdigen!"

Ich stellte ihn mir vor, so gut es ging. Vor ein paar Jahren waren wir uns einmal begegnet. Liebe auf den ersten Blick, wie bei seiner Mutter, war es nicht gewesen, von beiden Seiten nicht. Er war ein intellektueller Typ: hohe Stirn, schütteres Haar, randlose Brille, schmallippiger Mund. Wenn ich mich recht erinnerte, war er in leitender Stellung bei einer Bank tätig. Mehr wußte ich nicht von ihm - doch, daß er im Kirchengemeinderat war.

Da ich auf einen solchen Überraschungsangriff nicht vorbereitet war, konnte ich nicht verhindern, daß mein Herz ein paar Takte schneller schlug. "Bleib’ ruhig", dachte ich. "Laß dich nicht dazu verleiten, emotional zu reagieren. Was du sagen mußt, sage sachlich."

Zunächst bekam ich gar keine Gelegenheit zu antworten. Ich nutzte die Zeit für ein paar tiefe Atemzüge und unterbrach ihn, als er einmal Luft holen mußte.

"Meinen Sie nicht, wir sollten in Ruhe darüber sprechen?"

"Es gibt nichts zu besprechen. Warum sollten wir darüber sprechen? Ich rufe Sie lediglich an, um Sie zu informieren."

"Worüber? Darüber, daß Sie den Wunsch Ihrer Mutter nicht respektieren?"

Das brachte ihn ein bißchen aus dem Konzept.

"Ja - nein. Es geht nicht um den Respekt meiner Mutter gegenüber, sondern darum, daß es unmöglich ist, ihre Beerdigung ohne Segen der Kirche, dafür aber in einem atheistischen Rahmen stattfinden zu lassen. Es stimmt doch, daß Sie aus der Kirche ausgetreten sind."

"Das ist richtig, aber darum geht es auch nicht. Nicht ich habe mir diese Aufgabe ausgesucht, Ihre Mutter hat diesen Wunsch geäußert, der einer sehr ernstgemeinten Bitte gleichkam. Ich habe versucht, ihr das auszureden, schon deshalb, weil ich eine solche Reaktion befürchtet habe. Es ist mir nicht gelungen. Sie kennen ja Ihre Mutter ..."

Ein wenig schien er sich beruhigt zu haben; der erste Dampf war abgelassen. Er sprach nicht mehr so abgehackt.

"Ja, ich kenne meine Mutter. Ich versuchte, mit ihr darüber zu reden, als ich davon erfuhr. Ohne Erfolg. Deshalb rufe ich Sie an ..." Der Ton hatte sich etwas geändert, Volker Scheffler sprach jetzt beherrschter.

"Erwarten Sie wirklich von mir, daß ich mein Versprechen breche? Erkennen Sie nicht die Willensentscheidung Ihrer Mutter an? Sie ist doch bei klarem Verstand. Oder wollen Sie sagen ..."

Ich machte eine Pause und hoffte, daß ihn der unausgesprochene Satz nicht erneut erregen würde. Aber das war nicht der Fall. War er nur ein Choleriker, dessen erster Zorn schon weitgehend verraucht war? Konnten wir uns vielleicht doch noch vernünftig miteinander unterhalten?

"Natürlich ist sie klar im Kopf, und wie! Manchmal, wenn ich an all die zurückliegenden Jahre denke und an ihre eigenwilligen Entscheidungen ... Das war nicht immer leicht für mich. Ich habe meine Mutter respektiert und tu es noch. Deshalb werde ich mit ihr auch nicht mehr über ihre Entscheidung sprechen, auch wenn es mir schwerfällt. Aber es ist doch mein gutes Recht, Ihnen die Unmöglichkeit Ihres Vorhabens vor Augen zu führen."

" ... um ihr auf diese Weise ihren Wunsch dann doch nicht zu erfüllen", dachte ich. Das war eine eigenartige Logik, der ich nicht folgen konnte. Allerdings war es mir auf einmal mehr und mehr möglich, ihn zu verstehen. Wenn man das Persönliche wegläßt, was mir bei diesem blitzartigen Überfall zuerst nicht gelungen war, jetzt aber zunehmend besser klappte, kamen Toleranz und Verständnis wieder hervor. Sie verstecken sich so leicht, wenn man an der falschen - oder richtigen? - Stelle gekitzelt wird.

"Herr Scheffler", sagte ich, "ich versuche wirklich, Sie zu verstehen." Eine ganz kleine Pause meinerseits wurde von ihm nicht dazu genutzt, Einspruch zu erheben. Das empfand ich als gutes Zeichen.

"Vielleicht hat Ihre Ablehnung damit zu tun, daß Sie Kirchenaustritt mit Gottlosigkeit gleichsetzen und sich vorstellen, ich würde eine den Umständen nicht angemessene Rede halten oder undurchsichtige Zeremonien durchführen. Wenn es das ist, was Sie besorgt macht, so kann ich Sie beruhigen." Ich wartete einen Augenblick. Er hörte mir wirklich zu. Dann fuhr ich fort:

"Ich bin selbstverständlich bereit, den gesamten Ablauf mit Ihnen nicht nur durchzusprechen, sondern mich Ihren Vorstellungen anzupassen. Es spricht doch nichts dagegen, ja, ich bitte sogar darum, daß Sie den Rahmen gestalten, die Lieder oder Musikstücke festlegen usw. Das ist doch nicht meine Vorstellung, sondern die Beerdigung Ihrer Mutter, die Sie und Ihre Schwester in einem ganz besonderen Maße betrifft. Ich habe nie etwas anderes gedacht."

Ich verkniff mir gerade noch hinzuzufügen: "Ich hatte bisher nur kaum Gelegenheit, Ihnen das zu sagen."

"Das hört sich schon anders an, wenn es auch nichts daran ändert, daß es meine Zustimmung nicht findet." Jetzt hatten wir uns doch schon ein schönes Stück genähert. Konnte ich mehr verlangen?

"Etwas habe ich noch auf dem Herzen", bat ich, weil mir die ganze Zeit durch den Kopf ging, wie irreal unser Gespräch doch war. Ein akuter Anlaß für diese Meinungsverschiedenheit lag ja gar nicht vor. "Wir reden und streiten um eine Sache, von der wir beide hoffen, daß sie noch in weiter Ferne liegt. Ich meine, wir sollten Ihrer Mutter unsere guten Gedanken schicken, vielleicht auch ein Gebet sprechen, daß es ihr bald wieder besser geht, und sie Ihnen und uns allen noch eine Zeit lang erhalten bleibt. Was halten Sie davon?"

"Damit bin ich einverstanden." Dann bekräftigte er noch einmal seinen Standpunkt: "Doch, wie schon gesagt, es ändert nichts an meiner Einstellung."

*

Die folgende Woche wurde vom beruflichen Tagesgeschehen beherrscht. Die Planung meiner Besuche mußte ich mit Blick auf meinen Urlaub überprüfen und ein paar kleine Korrekturen vornehmen. Eva war mir dabei eine Hilfe, und für Peter war es selbstverständlich, daß er einspringen würde, sollte sich das in den acht Tagen meiner Abwesenheit als nötig erweisen.

"Nur eine Woche?" hatte Eva gefragt. "Und dann auch noch in die Fränkische Schweiz? Nee, das wäre nichts für mich. Ich brauche Strand und Sonne und das am liebsten vier Wochen an einem Stück. Aber über einen solchen Zeitraum kann man euch ja nicht allein lassen ..."

Die Gute; sie würde es so lange gar nicht ohne uns aushalten. Für mich war wandern angesagt, vielleicht würde ich mir Bamberg ansehen, dann natürlich ausschlafen, Musik hören, lesen und ansonsten schauen, was sich ergibt. Nach einem zweiten Besuch bei meinem Arzt, Bernhard Klinke, hatte ich beschlossen, die Sache mit meiner Hüfte zu verschieben und mir im Frühjahr wieder Gedanken darüber zu machen. Im Moment spürte ich sie ohnehin fast nicht.

Daß es mir aber auch insgesamt gut ging, war neben einer vorwiegend stabilen Gesundheit auf eine sich festigende, innere Haltung zurückzuführen. Die Zeiten der Stimmungsschwankungen, vollgepackt mit Zukunftsängsten und Alltagssorgen und überspielt mit oberflächlicher Ablenkung und fragwürdigem Zeitvertreib, gehörten - beinahe - der Vergangenheit an. Das hatte ich natürlich meinem Licht zu verdanken, das wie ein Fanal in mein Leben getreten war.

Ich hatte mir angewöhnt, morgens nach dem Frühstück in die Stille zu gehen oder - um es mit den Worten des Lichtes zu sagen - das Innere aufzusuchen. Früher hatte ich gar nicht gewußt, daß es ein Inneres gab. Seitdem ich mir regelmäßig diese Zeit nahm, war ich gelassener und ausgeglichener geworden. Ich war nicht mehr so anfällig gegenüber negativen Ereignissen wie früher, und ich fand auch schneller wieder in meine Mitte zurück, wenn mich doch einmal etwas stark bewegte oder in Harnisch brachte. Ob mit dem "geistigen Immunsystem" diese, sich aufbauende, innere Stärke gemeint war?

Die Minuten, die ich mir inzwischen täglich für "Gott und mich" reservierte, wollte ich nicht mehr missen. Manchmal wurden auch mehr als nur ein paar Minuten daraus, je nachdem, wieviel Zeit ich hatte. Da ich zu Anfang ungeübt in diesen Dingen war, wußte ich nicht so recht, was ich hinter meinen geschlossenen Augen machte sollte; wie ich vor allem mit den tausend Gedanken umgehen sollte, die ungerufen ständig daherkamen. Das legte sich in dem Maße, in dem ich mir bewußt machte, daß ich in erster Linie ein geistiges Wesen, im wahrsten Sinne des Wortes ein Kind Gottes, und erst in zweiter Linie Mensch bin, der sich zudem mit all seinen Sorgen und Nöten, seinem Haben- und Seinwollen viel zu ernst und zu wichtig nimmt. Von diesem Zeitpunkt an begann ein langsames aber stetes Sich-Hineinfinden in ein neues oder erweitertes Bewußtsein, als ein Sohn des Himmels mit unzählig vielen meiner himmlischen Geschwister vorübergehend auf dieser Erde zu weilen. Es begann, einer Knospe gleich, ein vorsichtiges Sich-Öffnen meines Herzens, aus dem die ersten noch kindlichen Gebete aufstiegen. Darunter waren Dank und Bitte für mich und andere, Freude, daß ich mein Licht hatte und ansonsten viele Kleinigkeiten, die ich Ihm einfach in meinem Inneren erzählte. Manchmal waren auch Bedrücktheit, Verständnislosigkeit und Hilflosigkeit dabei, aber immer war es eine vertrauensvolle, wenn auch unvollkommene Hinwendung: kindlich, wenn ich mit dem Vater sprach, von Bruder zu Bruder, wenn ich mich an Christus wandte.

Mein Licht war einige Nächte jetzt nicht in Erscheinung getreten. Sorgen brauchte ich mir deswegen keine zu machen. " ... keine mehr zu machen, wäre richtiger", überlegte ich in Erinnerung an den Vorfall mit Willi, der mir im Gedächtnis haften geblieben war wie eine Klette auf einem Strang Wolle. Mein Licht konnte mich damals nicht aufsuchen, weil mein Bewußtsein sich verändert hatte, ... du selbst hattest es gegen besseres Wissen unter Einsatz deines freien Willens eingeschränkt. Damit warst du nicht mehr in der Lage, mich wahrzunehmen. So etwas würde mir hoffentlich nie mehr passieren.

Mich beschäftigten vor dem Einschlafen ein paar Einzelheiten zur Reinkarnation, obwohl ich in der Zwischenzeit einiges darüber gelesen und noch mehr durch mein Licht erfahren hatte. Doch da gab es noch offene Fragen, die ich teilweise nicht richtig fassen, geschweige denn mir selbst beantworten konnte. Sie entsprangen, das hoffte ich, auch nicht meinem Wunsch nach mehr Wissen, sondern die Antworten darauf sollten mir Zusammenhänge aufzeigen bzw. das Verständnis für den großen Plan der Rückführung aller Menschen und Seelen erleichtern. Wenn ich es ehrlich meinte, dann hatte sich mein Licht stets großzügig gezeigt.

Licht überflutete mich, und die so geliebte Stimme sagte:

Ich nehme dich in meinen Frieden auf. (Das war meine "Lieblingsbegrüßung".) Du möchtest eine Lücke in deinen Erkenntnissen schließen, die du glaubst, selbst nicht füllen zu können.

"Ja. Es gibt da etwas, das ist mir nicht klar, und ich habe auch so gut wie nichts darüber finden können. Und selbst bin ich nicht ... also, dazu reicht mein kleines Bewußtsein nicht aus." Es erfolgte kein Widerspruch. Was hatte ich erwartet?

"Du hast mir für alle Zeit in mein Herz geschrieben, daß Gott keines Seiner Kinder auf ewig verlieren wird, daß alles einmal wieder im Lichte zusammengeführt wird. Ich werde dieses Wissen nie wieder verlieren wollen, es sei denn, ich bekomme es genommen. Aber ich spüre, das ist nicht das richtige Wort ..."

Nichts wird dir genommen. Alle deine Erfahrungen und Erkenntnisse, sofern sie nicht nur angelesenes Gut sind, bleiben auf ewig dein, weil sie einen Teil deines Wesens ausmachen. Sie sind in den schier unerschöpflichen Speicher deines geistigen Potentials eingeflossen. Bei einer Inkarnation werden sie nur für eine Weile abgedeckt.

"Das ist der Punkt! Sie werden bei einer erneuten Inkarnation abgedeckt, was bedeutet, daß der ‘neue Mensch’, sag’ ich mal, nichts mehr weiß. In diesem Zusammenhang ergeben sich für mich viele Fragen. Sie betreffen die Zeit vor der Inkarnation. Über das Leben nach dem Tod gibt es heute so viele Bücher, daß man sie alle gar nicht mehr lesen kann. Außerdem hilft vieles davon nicht wirklich weiter. Es reizt die Wißbegierde, anstatt sie zu befriedigen, mehr tut es nicht. - So wenigstens habe ich den Eindruck", schränkte ich ein.

Warum erzählte ich das meinem Licht eigentlich alles? Das wußte es doch viel besser als ich. Ich schüttelte meinen Kopf, ich durfte meinen Faden nicht verlieren. "Die Tatsache eines Weiterlebens nach dem Tod sagt aber noch nichts über den großen Bogen aus, der sich eines Tages wieder schließt und dann zu einem Kreis wird, in dem Anfang und Ende eins sind. Es läßt sich auch kein Schluß daraus ziehen, daß das Sterben nur ein Teil des Bogens ist, der in den seltensten Fällen nur zu einem Kreislauf wird, sondern oft zu vielen. Das kann dann möglicherweise lange, sehr lange dauern. Sterben, Inkarnation, Leben und wieder Sterben. Und das immer wieder ... wie lange eigentlich?"

Ich vergesse deine Frage nicht. Wir haben sie schon einmal gestreift, erinnerst du dich? Als es um die Erlösung ging. Laß sie uns zurückstellen, sonst vergißt du womöglich, was du noch auf dem Herzen hast.

"Also ...", ich konzentrierte mich, " ... würden die Menschen auch um die Zeit vor ihrer Inkarnation wissen, dann brauchten sie nicht glauben, daß Gott für jedes Neugeborene eine Seelen aus dem Nichts schaffen muß1), weil durch die Vereinigung von Mann und Frau ein neues Leben entsteht." (Ich hatte diese Auffassung der katholischen Theologie in einem Buch, das ich von Max vor Wochen ausgeliehen hatte, gefunden.) "Denn, wenn ich das richtig begriffen habe, beginnt das Leben im Jenseits mit dem irdischen Tod und endet dort drüben mit der irdischen Geburt."

Leben beginnt und endet nicht, wie du weißt. Lediglich die Schale vergeht, der Inhalt bleibt der gleiche, er nimmt nur eine andere Form an. Erinnere dich: Energie kann man umwandeln, hattest du erkannt, aber man kann sie nicht vernichten. Und Leben ist Energie.

"Danke, so ist es besser und richtiger formuliert." Meine Gedanken waren aber schon wieder davongeeilt. Mir schien schon länger, daß die eben von mir angestellte Betrachtungsweise - bisher viel zu selten berücksichtigt - für jeden Suchenden wie eine Offenbarung sein mußte! Bekannt, wenn auch von vielen nicht geglaubt, war die Tatsache, daß man auf Erden stirbt und ins Jenseits praktisch hineingeboren wird, um dort weiterzuleben. Aber es gab doch auch genau das Gegenstück: M a n s t i r b t i m J e n s e i t s u n d l e b t a u f d e r E r d e w e i t e r .

Im Lichte meines Lichtes war mir klargeworden, daß es genau das war, was mich beim Überdenken der Reinkarnationsfrage beschäftigt hatte.

"Siehst du nicht auch, wie wichtig dieser Punkt ist?" sagte ich beinahe drängend. Ein bißchen schimmerte (schon wieder oder noch immer?) der "alte" Ferdinand durch. Liebevoll wurde ich gestoppt.

Es ist ein wesentlicher Punkt, ja. Daß so wenig darüber bekannt ist, hängt mit der Angst so vieler Menschen vor dem Unbekannten zusammen, das sie nach dem sogenannten Tod erwartet. Sie fragen sich: Was wird das für eine Ankunft im Jenseits werden? Das Abschiednehmen vom Jenseits dagegen brauchen sie nicht mehr zu fürchten. Das haben sie hinter sich und, wenn sie hier gesund angekommen sind, recht gut überstanden. (Sag’ ich doch: himmlischer Humor.) Außerdem kümmert die meisten Menschen nicht, was w a r . Am allerwenigsten interessiert sie die Zeit, die vor ihrer Zeit liegt. Das erkennst du auch daran, daß öfters die Frage nach dem Wohin? gestellt wird als nach dem Woher?.

"Und wenn sie sich einmal dafür interessieren, dann nur deshalb, weil sie von Reinkarnationsrückführungen gehört haben und nun wissen möchten, ob sie die Königin von Saba waren oder vielleicht am Hofe Ludwig IVX. gelebt haben ..."

Sei nicht ungerecht. Das steht dir nicht besonders gut.

Ich schwieg für einen Augenblick. "Entschuldige, ich sehe ein, das war nichts." Und dann, nach einer kleinen Pause: "Aber nichtsdestotrotz: Ist nicht ein Körnchen Wahrheit daran?"

Wenn du es mit der nötigen Toleranz betrachten kannst - ja.

Darauf wußte ich nichts zu sagen. Mein Licht ließ mich für eine Zeit lang mit meinen Gedanken allein. Feine Strahlen, die mich berührten und liebevoll streichelten, drückten seine Liebe aus. Irgendwie hatte ich den Eindruck, das Licht müßte überlegen oder etwas vorbereiten; aber das konnte doch nicht sein. Was aber war es dann?

Glaubst du, ein kleiner Rückblick auf die Zeit vor deiner Inkarnation, vor allem auf ihre Vorbereitungen und Voraussetzungen, würde dir helfen, die Evolutionsgesetze etwas besser zu verstehen? Du würdest zwar noch weit davon entfernt sein, sie in ihrer Gänze erfassen zu können, doch sie würden dir einen Eindruck von der großen Liebe Gottes und Seiner Barmherzigkeit vermitteln.

Mir blieb fast das Herz stehen - teils aus Angst, hier einer Prüfung unterzogen zu werden, die ich nicht bestehen könnte, teils aus Freude über das Angebot, das ich als einen großen Vertrauensbeweis betrachtete - wenn es ernstgemeint war.

Ich entschied mich dafür, daß dies keine Prüfung war. Das Licht hatte zweifellos als mein Lehrer das Recht dazu. Wie sollte ich sonst erkennen können, was sich bereits in mir entwickelt hatte und was noch nicht? Doch ich hatte ein anderes Empfinden, und das sagte mir: Es ist ein Vorschlag ohne Nebenabsichten. Damit könnte ich ihn ohne weiteres annehmen, doch ich tat es nicht.

"Du hast meine Gedanken verfolgt. Ich bin beschämt über das Vertrauen, das du mir entgegenbringst, denn ich bin sicher, nicht vielen Menschen ist bisher derartiges widerfahren. Aber gerade das bestärkt mich in der Überzeugung, daß mir ein solches Privileg nicht zusteht. Du weißt zwar um meinen immer noch vorhandenen Wunsch, ein bißchen mehr über mich zu erfahren, aber du siehst auch mein inzwischen gewachsenes Vertrauen in meine göttliche Führung, an der du nicht unbeteiligt bist. Du hast mir dieses Anerbieten nicht aus dir heraus gemacht, das weiß ich wohl. Und dennoch meine ich, wir lassen es, wie es ist. Ich schaue voraus und freue mich auf das, was mich einmal erwartet. Später werde ich dann auch wissen, was vordem einmal war. Ich glaube, das muß mir genügen. Nein, es muß nicht, es genügt mir."

Während ich dies sagte, war keine Spur von Traurigkeit über eine nicht wahrgenommene Gelegenheit in mir. Ich verspürte im Gegenteil eine große, tief-vertrauende Innigkeit, weil meine Antwort aus dem Grunde meines Herzens kam, und ich das sichere Gefühl hatte, richtig entschieden zu haben.

Es w a r eine Prüfung, mein geliebter Bruder; du warst wachsam und hast dich nicht von deinem Ego verführen lassen. Gerade deshalb wirst du zu sehen bekommen, was zum besseren Verstehen vonnöten ist.

"Hast du mir aber nicht selbst einmal gesagt, es sei nicht gut, Einblicke in frühere Leben zu nehmen, weil man unbelastet von dem Wissen um ehemalige Verfehlungen und Schwierigkeiten durch das jetzige Leben gehen soll?"

Daran ändert sich auch nichts. Es hat Gültigkeit, weil es Gesetz ist. Doch es hat immer Ausnahmen gegeben, und es wird sie auch künftig geben. Sie sind ebenso im Gesetz verankert. Bei dir ist der Sachverhalt ohnehin ein anderer. Es geht in diesem Fall nicht um Einzelheiten früherer Inkarnationen. Daß auch sie in dein Erkennen treten werden, ist als Beiwerk zu betrachten. Mehr sollen und mehr werden sie für dich nicht bedeuten.

Dir wird dieser Teil des Bogens gezeigt, w e i l du dich auf den Weg zu Gott gemacht hast und nicht, d a m i t du dich auf den Weg machst. Du hast angefangen, dein Herz für Ihn zu öffnen - und du hast dies nicht deshalb getan, weil dir durch eine Rückschau die Beweise für die Richtigkeit deiner Überzeugung geliefert wurden. Du hast freiwillig so gehandelt. Deshalb kann dir gezeigt werden, was du wissen mußt.

Irgendwie muß ich doch ein bißchen skeptisch geschaut haben, denn mein Licht fügte noch hinzu: Keine Sorge, deine Liebe macht dich stark.

"Geliebtes Licht", sagte ich, "entschuldige, aber jetzt muß ich dich bitte einmal korrigieren. Nicht meine, sondern Seine Liebe macht mich stark."

Und dann dachte ich noch, daß wir inzwischen schon einige Teile unseres Puzzles beisammen hatten. Jetzt würde ein weiteres folgen.