Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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5.

Ich hatte mir angewöhnt, meine Mittagspausen auf Parkplätzen im Wald zu machen, sofern ich solche fand, und es das Wetter zuließ. Manchmal verband ich diese mittäglichen Unterbrechungen mit kleinen Spaziergängen, auf denen ich oft genug bei meinen Überlegungen ein Stück vorankam. Dazu trug sicher auch die Natur ihren Teil bei, und dann natürlich mein Licht, ohne dessen Hilfe ich kaum fähig gewesen wäre, zwei und zwei zusammenzuzählen. (Wie hatte es doch einmal in seiner unnachahmlichen Art gesagt? ... deine Vorstellung von Gott und der Größe Seiner Liebe entspricht - um es mit euren Worten auszudrücken - in etwa der Entwicklung eines Kindes im Vorschulalter, gemessen an seinen späteren Fähigkeiten ...)

Heute war ein schöner Spätsommertag. Ich hatte eine knappe Stunde Zeit, fand einen Waldparkplatz und schließlich auch eine Bank im Schatten. Ich hätte es kaum idyllischer antreffen können: vor mir Wiesen und Felder, direkt hinter mir der Wald und zu meiner Linken das Murmeln eines Baches. Und dann diese Ruhe ...

Seitdem ich es erlebte, daß sich in einer solchen Atmosphäre wichtige Erkenntnisse auftun konnten, hatte ich immer etwas zu schreiben bei mir. So ging mir nichts mehr verloren.

Was hatte es mit der Methode des Fragens-im-Rückwärtsgang auf sich? Sollte ich mal einen Versuch machen? Welche Thematik sollte ich mir aussuchen? Ganz frisch waren noch die Eindrücke der letzten Nacht in mir, vor allem die Aussagen über das Innere Wort. Daß damit der Komplex erst angeschnitten war und es noch viel, viel mehr dazu zu sagen gab, war mir klar. Aber allein das wenige, was ich dazu erfahren hatte, reichte aus, um mich aufmerksam damit zu beschäftigen.

Ich begann, die ersten Worte zu notieren: Inneres Wort. Was war die Voraussetzung dafür?

"Klick", dachte ich, "da haben wir es doch", und schrieb Voraus-setzung. Das war mit Rückwärtsschreiten beim Fragen gemeint: Was ging dem voraus, oder was mußte dem gar vorausgehen?

Die geistige Führung war unverkennbar, denn es ging auf einmal ganz schnell.

Davor mußte die Anerkennung erfolgen, daß so etwas überhaupt geschehen kann. Vor der Anerkennung mußte die Führung stehen, denn ohne Führung konnte keiner von sich aus bis zu diesem Punkt gelangen. Vor der Führung das Vertrauen in diese Führung, und vor dem Vertrauen die Liebe zu Gott. Die ehrliche Liebe zu Ihm bedingt aber ein Ja, überlegte ich. Ja sagen zu können zu Ihm setzt aber auch Wissen von und über Ihn voraus, das ein klar anzustrebendes Ziel vorgibt, auf das hinzuarbeiten Freude macht und Fortschritte bringt. Wissen wiederum wird nur angenommen, wenn es verständlich und nachvollziehbar angeboten wird und nicht abstrakt und schwammig ist. Und natürlich muß die Bereitschaft zur Annahme bestehen. Inwieweit diese geweckt werden kann, hängt stark von der Art der Vermittlung und Aufklärung ab, deren idealste Form das Vorleben des Liebegebotes im täglichen Leben darstellt.

Doch selbst dann, wenn alle diese Erfordernisse gegeben wären, würde das Wichtigste fehlen: die Entscheidung eines jeden einzelnen, diesen Weg zu gehen. Um sie zu treffen, bedarf es der Bedingung der Motivation, die ganz tief aus dem Herzen kommen muß. Und dort liegt, verborgen aber hochwirksam, als letzte Voraussetzung der Liebekern, der unzerstörbare Funke, unsere Göttlichkeit - gleichzeitig die erste Voraussetzung, um unser himmlisches Ziel überhaupt erreichen zu können.

Anders könnte es nicht sein. Kann es nicht sein, verbesserte ich mich. Denn ohne diesen Funken, dieses unauslöschliche Gottesfeuer in mir - in jedem - wäre es gar nicht möglich, die Flamme der Sehnsucht lodern zu lassen. Wo nichts ist, kann auch nichts vergrößert werden. Also mußte etwas da sein!

Ich hatte das Gefühl, in diesem Beispiel jetzt so weit zurückgegangen zu sein, wie es mir möglich war.

Wendete man nun auf das gleiche Beispiel den Umkehrschluß an und ginge Schritt für Schritt nach vorn, so sähe das Ergebnis so aus: Wenn ich weiß, daß Gott in mir lebt, dann muß ich am Ende meiner Überlegung zu der Überzeugung kommen, daß Er zu mir spricht. Und ich müßte auch die Voraussetzungen erkannt haben, die eine Kommunikation mit Ihm ermöglichen.

Gar nicht so schlecht für den Anfang.

Noch vor kurzem hätte ich mich umgedreht und geschaut, ob da einer was gesagt hätte. Jetzt passierte mir das nicht mehr; jetzt schloß ich für einen Moment die Augen, schickte Empfindungen der Liebe zu meinem unsichtbaren Begleiter und sagte: "Danke." Ohne ihn - das hatte ich schon seit langem eingesehen - hätte ich diese Gedanken nicht fassen können.

Der Nachmittag verlief ein wenig turbulent. Das hing mit einigen Mißverständnissen, berechtigter Kundenverärgerung (die sich aber aus der Welt schaffen ließen) und einem Unfall auf dem Nachhauseweg zusammen, in den ich beinahe verwickelt worden wäre. Wie schon des öfteren wurde mir bewußt, wie schmal doch der Grat zwischen einer trügerischen Sicherheit und einem unmittelbar darauffolgenden Chaos sein kann. Manchmal geht es nur um Sekunden oder um Millimeter, die den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, sinnierte ich. Sicherheit schien mir einmal mehr etwas überaus Fragwürdiges zu sein. Wirkliche Sicherheit gab es wohl nur in Gott. War das die "richtige" Sicherheit? Und was geschah und geschieht in den Fällen, wo Gottvertrauen dich nicht davor bewahrt, Fehler zu machen, einen Verlust zu erleiden und Not erdulden zu müssen?

Das, dachte ich, wäre gelegentlich eine Anfrage bei meinem Licht wert: die Sache mit der Führung und dem Vertrauen. Allerdings dämmerte mir sofort, daß ich womöglich die - für mich inzwischen klassische - Antwort erhalten würde: Gebrauche deinen Verstand. Da könnte ich ihn auch ebensogut sofort einsetzen, ohne erst zu fragen.

Doch dann war nicht mehr die Zeit dazu, der Verkehr wurde dichter, er erforderte meine volle Aufmerksamkeit. Pünktlich um 17.00 Uhr klingelte ich bei meiner ehemaligen Lehrerin Elisabeth Scheffler.

*

Unsere Begrüßung war herzlich wie immer, doch ich spürte bei ihr einen Hauch von Erschöpfung. Sie hatte, solange ich sie kannte, diesen aufrechten Gang. Das weiße Haar war zurückgekämmt und bildete einen anziehenden Kontrast zu ihrer noch immer frischen Hautfarbe. Ihre Augen blickten genauso wach und forschend wie eh und je, und doch lag in ihnen etwas, das ich nicht einordnen konnte. Schweiften sie in weite Fernen? Oder schauten sie nach innen? Sahen sie mehr als ich und andere?

"Ferdinand, guck nicht so, setz dich."

Sie bot mir einen Sessel an, während sie sich selbst auf das Sofa setzte. Ich merkte, daß sie sich dabei abstützen mußte; es ging nicht mehr so leicht wie noch vor Wochen. Wie alt war sie wohl? Ich überschlug schnell die Jahre und schätzte dann ihr Alter auf knapp 80.

Wir unterhielten uns kurz über die letzen drei Wochen, sprachen über ein paar Geschehnisse in der Stadt und ein bißchen über die Weltlage. Schließlich sagte sie:

"Ich muß etwas mit dir besprechen. Das hast du dir sicher auf Grund meines Anrufes auch schon gedacht."

Sie blickte mich dabei für einen Moment prüfend an, so als ob sie überlegen müßte, ob sie weitersprechen sollte oder nicht. Aber sie hatte sich natürlich längst schon entschieden, mir das zu sagen, was sie sich vorgenommen hatte. Dafür kannte ich sie viel zu gut.

Sie war für mich immer noch so etwas wie eine Art Respektsperson. Beinahe mußte ich grinsen, als ich das dachte. Ich und Respekt! Ein bißchen mehr hätte mir sicher nicht geschadet. Ich hatte meine eigene Auslegung. Das Wort "Achtung" schien mir in fast allen Fällen viel eher angebracht, und zwar nicht nur vor jenen Menschen, die dies offensichtlich verdienten, sondern vor jedem. Sogar vor Tieren und Pflanzen (wie konnte man vor einer uralten Eiche oder einem Pferd mit edlem Charakter keine Achtung haben?).

"Aber gib zu, daß du noch übst", wandte mein Gewissen ein.

"Das weiß ich selbst", antwortete ich und hörte meiner alten Lehrerin wieder zu.

"Wenn du noch so gut im Rechnen bist wie früher, dann weißt du, daß ich 81 Jahre alt bin. Und das ist ein Alter, in dem man anfängt, sich so seine Gedanken zu machen."

Das war die größte Untertreibung, die ich je gehört hatte. Elisabeth Scheffler gehörte gewiß zu denen, die nicht erst aufgefordert werden mußten, ihren Kopf zu benutzen. Das hatte sie mir in vielen Fällen gezeigt, in denen sie mir an Erkenntnis und Weisheit um Längen voraus war.

Ich meinte, einen vorsichtigen Einspruch erheben zu müssen, doch sie unterbrach mich.

"Ich weiß, daß ich noch gesund aussehe und mich auch noch so fühle, von Kleinigkeiten abgesehen, die mich aber nicht stören. Doch mich beschäftigt etwas."

Für einen Moment nahm ihr Blick wieder jenen Ausdruck an, der mir schon bei unserer Begrüßung aufgefallen war.

"Du weißt, daß ich weder Angst vor dem Sterben noch vor dem Tod habe." Überflüssigerweise nickte ich. "Deshalb fällt es mir auch nicht schwer, an diesen Zeitpunkt zu denken; und nicht nur zu denken, sondern mich mit ihm vertraut zu machen."

Ich zog im stillen meinen Hut vor ihr. Natürlich wußte ich von Menschen, die zusammen mit einem Bestattungsinstitut ihre Beerdigungsfeier festlegten, die im Vorhinein den Grabstein aussuchten und Geld an die Seite legten. Doch was meine geschätzte Lehrerin da vorhatte, war etwas anderes. Das spürte ich. Nur: Was hatte ich damit zu tun? Dann kam’s.

"Ich möchte mit dir über mein Begräbnis reden."

Ich muß ziemlich perplex geschaut haben, weil sie meinte:

"Du mußt keine Angst haben! Es ist doch meine Beerdigung und nicht deine!"

Dann fiel ihr auf, daß wir noch immer ohne Kaffee da saßen. "Heute bin ich eine schlechte Gastgeberin, entschuldige. Magst du welchen? Dann wird uns Maria einen bringen." Ich nahm das Angebot dankend an und kurze Zeit darauf kam ihre Tochter Maria aus der Küche und schenkte uns den Kaffee ein.

Maria Gollberg war einige Jahre jünger und etwa einen halben Kopf kleiner als ich, schlank und dunkelhaarig. In ihren grünen Augen war manchmal jenes Funkeln, das mir an einem Menschen so gefällt, der auch einmal über sich selbst lachen kann und mit sich im reinen ist. Mir hatte schon immer ihre freie, unkomplizierte und ungekünstelte Art gefallen, mit der sie auftrat. Wenn ich mich recht erinnerte, war sie halbtags in einer städtischen Bücherei tätig und seit einigen Jahren geschieden. Wir kannten uns schon lange, nicht näher, aber doch so, daß wir uns immer angeregt unterhielten und auch Spaß miteinander hatten, wenn wir uns gelegentlich bei ihrer Mutter trafen. Sie wohnte etwa 20 km von hier entfernt und kam in der letzten Zeit des öfteren vorbei. Aus den Besuchen, die früher mehr den Charakter von Geplauder und Erholung hatten, war zwar noch kein regelmäßiges Betreuen geworden, doch nahm sie ihrer Mutter anscheinend so nach und nach die schweren und zeitaufwendigen Arbeiten ab.

Maria und ich wechselten ein paar Worte miteinander, dann verschwand sie wieder in der Küche, wohl um unser Gespräch nicht zu stören.

Elisabeth nahm den Faden wieder auf.

"Du hattest für einen Moment so verdattert geschaut, daß ich glaubte, du hättest mich falsch verstanden. Es geht um meine Beerdigung und darum, daß ich mir wünsche, daß du die Rede hältst, damit die Trauerfeier nicht gar so traurig wird."

Mit nichts hätte sie mich mehr überraschen können. Ich spürte, wie in mir alles auf Abwehr ging. Ich, aus der Kirche ausgetreten und in puncto Jenseitsverkündigung ein völlig unbeschriebenes Blatt, sollte vor womöglich mehreren hundert Trauergästen die Abschiedsworte sprechen? "Alles, Frau Lehrerin", dachte ich, "darfst du verlangen, nur so etwas nicht."

Kaum hatte ich zu einer Antwort angesetzt und "Liebe Frau Scheffler" gesagt, da wurde ich unterbrochen.

"Ferdinand, was bist du für ein eigensinniger Mensch." Sie hob kurz die Hand, um sie dann mit einer Geste, die wohl "was soll ich da noch machen" ausdrücken sollte, beinahe ratlos wieder fallenzulassen. "Du hast nun zum wiederholten Male ‘Frau Scheffler’ zu mir gesagt. Fällt es dir so schwer, zu einer alten Dame, die dich mag, ‘Elisabeth’ zu sagen?"

Sie hatte recht. Ich hatte wieder die Anrede benutzt, mit der ich sie fast 50 Jahre lang angesprochen hatte. Bei meinem letzten Besuch hatte sie mich gefragt, ob ich mich für ein Kind Gottes hielte? Ja, hatte ich gesagt. Und ob ich glaubte, daß sie auch eines wäre? Wieder ein Ja. Und warum diese beiden Kinder zu ihrem Vater "du" sagen würden, zueinander aber "Sie"? Da war ich ziemlich sprachlos, obwohl ich wußte, daß sie für Überraschungen immer gut war. Ich hatte mich über ihr "du" gefreut, wenngleich ich es als völlig in Ordnung angesehen hätte, wenn jeder bei seiner Anrede geblieben wäre. "Es stimmt", dachte ich, "wir sind Freunde geworden. Da spielt das Alter keine Rolle mehr." Doch ich mußte mich erst daran gewöhnen.

"Entschuldige", erwiderte ich, "das ist noch so neu für mich."

"Ist es das wirklich? Habt ihr nicht schon als Kinder hinter meinem Rücken ‘Lisbeth’ gesagt und gemeint, ich würde das nicht hören? Hast nicht sogar du einmal, im Alter von stolzen zehn Jahren, nach einer dir ungerecht erscheinenden Korrektur einer Arbeit deinem Banknachbarn zugeflüstert: ‘Ich glaub’, der Lisbeth brennt der Kittel’?"

Daran konnte ich mich zwar nicht erinnern, doch jetzt mußte ich lachen. Wenn sie es sagte, würde es wohl stimmen. Zuzutrauen wäre es mir gewesen.

Sie kam auf ihr Anliegen zurück.

"Wenn ich mir vorstelle, wie bei meinem Begräbnis alle in ihrer pechschwarzen Kleidung dasitzen, mit ihren Trauermienen und gesenkten Häuptern ... Wie viele von den Trauernden werden wohl wirklich verstehen, was da vor sich geht? Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Und dann soll ich mir auch noch eine Rede anhören, mit der ich schon zu Lebzeiten nicht einverstanden gewesen wäre, geschweige denn, wenn ich drüben bin und es besser weiß!? Nein."

Das war meine geschätzte Lehrerin und Freundin. Aber so sehr ich sie bewunderte für ihre Einstellung und Haltung, so sehr wünschte ich mir jetzt, da ich persönlich gefordert war, daß sie sich in Sachen Beerdigung doch mehr wie ein ganz "normaler" Mensch verhalten würde. Doch der Wunsch würde mir wohl nicht erfüllt werden.

"Ich habe mir das sehr genau überlegt", fuhr sie fort. "Ich weiß um das Getuschel und die Gerüchte, die vermutlich entstehen werden. Genauso aber weiß ich auch, daß du derjenige bist, der in der Lage ist, mich in meinem Sinne ‘unter die Erde zu bringen’." Sie machte eine kleine Pause und sah mich bittend an. "Und ich wünsche mir, daß du das für mich tust."

Sie ließ mir Zeit. Ich legte mir meine Antwort zurecht.

"Mir fehlt einfach das Vorstellungsvermögen, wie so etwas ablaufen soll. Wie stellst du dir das vor? Ich sehe mich schon im Geiste vorne in der Trauerhalle neben deinem Sarg stehen, von vielen Anwesenden verständnislos, vielleicht sogar ablehnend angeschaut - dann fange ich an, ein Loblied auf die Liebe Gottes und seine Tochter Elisabeth zu singen."

"Ferdinand ..."

"Verzeih, das habe ich nicht wörtlich gemeint. Nein [ jetzt war ich mit meinem Nein an der Reihe] , ich bin nicht der Geeignete dafür. Und außerdem - wo hat man so etwas schon mal gehört oder gesehen: ein ehemaliger Kirchenangehöriger als Ersatz für einen richtigen Pfarrer!"

Mir fiel ein, daß ihr Sohn Volker Mitglied im Kirchengemeinderat einer Pfarrei irgendwo in einem nördlichen Stadtbezirk war. "Wäre das nicht eher was für deinen Sohn Volker? Und überhaupt", das kam mir jetzt erst, "was würden deine Kinder dazu sagen? Vor allem aber dein Volker, dem dies ganz bestimmt nicht recht wäre?"

"Waren das alle deine Argumente? Dann will ich dir etwas sagen. Sicher wird Volker etwas dagegen haben, aber ich bin ein Mensch, der selbst und frei entscheidet. Maria wird es verstehen, sie wird dich sogar unterstützen. Du bist außer ihr der einzige Mensch, mit dem mich so etwas wie eine Seelenverwandtschaft verbindet. Freunde und Bekannte habe ich genug, aber verabschieden kann mich keiner von denen. Bei dir aber habe ich in den letzten Jahren gespürt, daß in dir etwas lebt, daß du lebst. In dir brennt das gleiche Feuer wie in mir. Haben wir uns nicht manchmal über Dinge unterhalten, die anderen keine Minute ihrer Zeit wert gewesen wären? Hast nicht du mir von deiner Sehnsucht und Liebe erzählt? Und jetzt willst du einen Rückzieher machen? Stimmt denn das alles nicht mehr?"

Jetzt hatte sie mich, und sie wußte es. Ich spürte, wie eine innere Bewegung meine Augen feucht werden ließ (hoffentlich merkte sie nichts!), und mein Widerstand mehr und mehr nachließ. Schließlich gab ich auf.

"Was soll ich denn an deinem Grab sagen ...?"

Sie lächelte, und gleichzeitig blitzten ihre Augen. "Ferdinand Frei, wenn du das nicht weißt, dann waren mein Bemühen als deine Lehrerin und unsere langen Gespräche umsonst."

Wie hatte doch mein Licht gesagt, sofern ich das richtig verstanden hatte? Viel Freude bei deiner alten Lehrerin ...

*

Wir vereinbarten noch, daß sie ihren Wunsch schriftlich niederlegen sollte. Es war damit zu rechnen, daß ihr Sohn Volker und möglicherweise auch andere Verwandte den Versuch unternehmen würden, eine Beerdigung durch mich zu verhindern. Zwei Tage später bekam ich die Kopie ihrer Willenserklärung.

Nach einem Abendessen in meinem italienischen Lieblingsrestaurant in der Nähe meiner Wohnung (nur die Pizza dort war nicht ganz so gut wie die, die ich ab und zu meinen Freunden auftischte) entschloß ich mich noch zu einem kleinen Spaziergang durch den nahe gelegenen Park. Hier hatte die Begegnung mit "Willi, dem Penner" dazu gedient, daß mir eine Lektion in Sachen Einfühlungsvermögen erteilt werden konnte. Meine Gedanken gingen zurück zu dem Gespräch mit Elisabeth, von der ich mich bald verabschiedete, nachdem ich ihr meine Zusage gegeben hatte.

Mein Ja war ein freiwilliges; etwas anderes wäre bei mir kaum in Frage gekommen. Ich wollte ihr diesen letzten Liebesdienst tun, weil es ihr Herzenswunsch war. Und ich würde ihn gerne erfüllen, wenn es soweit war, trotz all meiner vorgebrachten Bedenken. "Wer weiß, wann es dazu kommt", sagte ich mir, "und ob überhaupt. Schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste."

Daß sie keinen traurigen Abschied haben wollte, hatte mich nicht sehr überrascht. (Ich mußte ihr übrigens versprechen, keinen schwarzen Anzug zu tragen. Ein grauer, noch besser ein hellgrauer, wären ihr am liebsten.) Den meisten Verstorbenen wäre es sicher egal gewesen, ob und wie niederdrückend und leidgeprägt ihre Bestattungsfeierlichkeiten abgehalten würden. Ich hatte mir über meine eigene Beerdigung noch wenig Gedanken gemacht. Jetzt, nachdem mein Licht da war, und ich in den zurückliegenden Wochen so vieles über das Leben nach dem Tod erfahren hatte, schien es mir erst recht nicht mehr wichtig zu sein. Aber vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht sollte ich doch vorbeugen, schon im Hinblick auf Anne, die dann ganz sicher ein wenig hilflos sein würde. Ich wußte auch schon, wen ich bitten würde, meine Abschiedsrede zu halten: meinen Freund Peter. Für mich stand außer Zweifel, daß er zusagen würde, und zwar ohne sich zu drehen und zu wenden, wie ich es bei Elisabeth getan hatte.

"Schäm’ dich ein wenig, Ferdinand", sagte ich.

Der Abend war lau, und es war noch nicht sehr spät. Da mir noch etwas durch den Kopf ging, und ich in der freien Natur mit meinen Gedanken ganz gut zurechtkam, entschied ich mich, meinen Spaziergang fortzusetzen. Er war inzwischen zu einem großen Rundgang geworden.

Es ging noch einmal um das von Elisabeth empfundene und angesprochene Bedrücktsein auf einer Trauerfeier, um die unbefriedigenden Antworten und um die wenig erklärenden Ausführungen, obwohl in den Danksagungen immer von "trostreichen Worten von ..." zu lesen war. Wurden die Hinterbliebenen wirklich mit hoffnungsvollen Aussichten aufgerichtet, die ihnen Mut machten und sie darin bestärkten, sich auch selbst mit Freude auf dieses Ereignis vorzubereiten?

"Jetzt übertreib’ nicht", dachte ich, "’Freude’ ist da wohl nicht das richtige Wort. Vielleicht ‘Zuversicht’?

Gut, Zuversicht. Aber wo fand sich denn wirkliche Zuversicht? Wo wurde denn das Gefühl vermittelt, daß es eine Freude sein kann, mit der Führung Gottes auf Erden zu leben? Daß aber noch ganz andere, mit nichts zu vergleichende Aussichten im Jenseits auf uns warten? Richtig: Warten! Sie warten auf uns, doch erst wenn wir uns ihnen nähern, erschließen sie sich uns nach und nach; bis sich uns auch der Himmel erschließt, weil wir ihn in uns erschlossen haben. Womit schon im Diesseits begonnen werden sollte - denn dafür sind wir schließlich hier.

Ich konnte die Flut der Überlegungen kaum bremsen. Gleichzeitig verspürte ich die Gefahr, in das alte Fahrwasser meines Hochmuts zu geraten. Ich dachte an den Geist der Liebe und Toleranz in mir und wurde wieder ruhiger.

Es ging ja nicht darum, die berechtigte Traurigkeit über den Verlust eines geliebten Menschen in Abrede zu stellen. Nein, was ich meinte, war etwas anderes. Mir kam plötzlich die Kraftlosigkeit der verschiedenen christlichen Kirchen und Gruppierungen in diesem Punkt ins Bewußtsein. Sie brachten den Suchenden und Fragenden keinen wirklichen Trost, keine Ermutigung, keinen Ansporn. Sie verstärkten in vielen noch die Hilflosigkeit und den Fatalismus, die doch mit Hilfe des christlichen Glaubens überwunden werden sollten. Wie konnte das auch anders sein, wenn Gleiches wiederum Gleiches gebiert. Die meisten würden dies, darauf angesprochen, jedoch weit von sich weisen - und dennoch an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln.

Die unterschiedlichen, abstrakt dargestellten und deshalb von fast allen nicht verstandenen Perspektiven eines jenseitigen Lebens und eines jenseitigen Zieles waren wenig geeignet, mutig und voller Vertrauen auf den Einen voranzuschreiten, an den sie doch glaubten. Waren nicht oft Unwissenheit und Angst die Wurzel für die fehlende Freudlosigkeit? Verbarg man sie nicht selten vor sich selbst mit der Aussage: "Wieso, ich glaube doch an Gott"? Und gingen nicht Freudlosigkeit und Unfreiheit Hand in Hand? Was war übrig geblieben von Luthers Freiheit eines Christenmenschen?

Ich müßte mich gelegentlich noch mehr mit dieser Frage befassen, denn hier schien ein wichtiger Schlüssel zu liegen: Das Christentum war unattraktiv geworden! Andere Religionen und Ideologien drängten auf den Plan, die die Schwäche des zeitgenössischen Christentums erkannt hatten: den fehlenden Magnetismus. Östliche Weltanschauungen waren auf dem Vormarsch, Selbstverwirklichung und -erlösung wurden angeboten, Wiederverkörperungslehren - wenn auch nicht korrekt, so doch zufriedenstellender als das Schulterzucken unserer Theologen - wurden anerkannt, östliche Meister und Gurus hatten regen Zulauf zu ihren Meditationskursen, Buddha-Armbänder als Hilfe zur inneren Harmonisierung waren der letzte Renner und wurden einer Hinwendung zum innewohnenden Christusgeist vorgezogen und, und, und ...

"Merkt denn niemand mehr, was da passiert?" rief ich in Gedanken. "Ihr habt das Leben und die Lehre Jesu beschnitten, verdreht und zu einer Sonntagspflicht werden lassen, so daß sie sich heute kaum noch attraktiv darstellt! So mancher Theologe ist nicht einmal mehr davon überzeugt, daß sie sich in ihrer Konsequenz überhaupt leben läßt." Dabei mußte ich an das Gebot der Feindesliebe denken. "Ist es da ein Wunder, wenn die Leute massenweise ihr Heil zuerst in der Flucht und dann bei anderen Religionen suchen?" Gerade dazu hatte ich vor wenigen Tagen etwas gelesen.1)

Du hast einen wichtigen Punkt erkannt, mein Freund. Nun versuche, bei aller Richtigkeit deiner Überlegungen wieder in deine Mitte zu finden. Die Gefahr des Verurteilens besteht immer, auch und gerade dann, wenn man die Wahrheit erkannt hat. Der "Heilige Zorn" ist das Vorrecht des einzig und ewig Heiligen - wobei ich dir zugestehe, daß bis zum Zorn bei dir noch ein wenig gefehlt hat. Doch du weißt ja: Man kann den Anfängen nicht früh genug wehren.

Ich atmete tief durch, sagte "danke, mein Bruder, daß du mich daran erinnerst" und beschloß, nach Hause zu gehen. Inzwischen war es auch fast dunkel geworden. Ein Satz kam mir noch einmal in den Sinn: "Merkt denn niemand mehr, was da passiert?"

Zu Hause fand ich die Antwort. Doch, das steigende Desinteresse war bemerkt worden! Die Schlüsse jedoch, die man daraus zog, wiesen nicht auf eine tiefe Einsicht hin. Sie schienen mir eher der Gegenseite in die Hände zu spielen.

Ein kleiner Zeitungsartikel1) mit der Überschrift "Umfrage der Landeskirche: Musikvideos im Gottesdienst sind jugendgemäß" zeigte sowohl die Tendenz als auch die Misere auf:

Mehr als jeder zweite evangelische Jugendliche in Württemberg wünscht sich den Einsatz von Videoclips im Gottesdienst. Dies ergab eine Umfrage der Landeskirche. 58 Prozent der 1000 gefragten Jugendlichen plädierten für Musikvideos zur Auflockerung der Liturgie. Fast zwei Drittel gaben an, daß die Gottesdienste von einer Band begleitet werden sollten. Ein Drittel will dabei auch tanzen können ... Die meisten wünschen sich unter anderem eine kürzere Predigt: Nur 13 Prozent der Befragten sind bereit, dem Pfarrer 15 Minuten lang zuzuhören. Nach Angaben der Landeskirche kommt die Umfrage insgesamt zu folgendem Schluß: "Der traditionelle Gottesdienst sei unüberbrückbar weit von einem jugendgemäßen Gottesdienst entfernt".

Schien es nur eine Lösung zu geben: den Rahmen anziehender zu gestalten? Ob wohl einer auf die Idee käme, den Inhalt zu verändern? Oder richtigerweise den veränderten Inhalt wieder ins Lot zu bringen?