Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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8.

Das gleichmäßige Rattern der Räder hatte mich müde werden lassen. Ich war nicht richtig eingeschlafen, ich döste mehr vor mich hin. Vor ein paar Tagen hatte ich mich entschlossen, mit der Bahn in den Urlaub zu fahren. Die Zugverbindung war problemlos, die letzten paar Kilometer konnte ich einen Bus nehmen. Und außerdem bestand vielleicht die Möglichkeit, während einer Bahnreise eine nette Unterhaltung zu führen. Doch bis jetzt war ich allein in meinem Abteil.

Die Meteorologen hatten eine weitgehend von Frühnebel und Sonnenschein bestimmte Woche vorausgesagt ("laß sie doch bitte einmal recht haben, lieber Gott"), so daß ich mich auf ein paar schöne und erholsame Tage freuen konnte. Doch auch Regen würde mich nicht groß stören. Es war genug zu lesen in meinem Koffer.

Ich hörte, wie die Abteiltür aufgeschoben wurde und öffnete kurz die Augen. Eine junge Frau trat ein, wir grüßten uns, dann setzte sie sich mir gegenüber. Ich war wohl doch ziemlich müde, denn schon bald fielen mir die Augen wieder zu. Das Geräusch der rollenden Räder wiegte mich in einen leichten Schlaf.

Wie geht es deiner Schwester?

"Ich habe keine Schwester", dachte ich schlaftrunken. "Das ist das erste Mal, daß du dich vertust."

Im selben Moment war ich hellwach, hielt aber die Augen noch geschlossen. Es war unmöglich, daß sich mein Licht irrte! Was aber sollte dann die Frage?

Wie ist es, als Sohn des Himmels mit unzählig vielen seiner himmlischen Geschwister vorübergehend hier auf der Erde zu sein?

Der Satz kam mir bekannt vor, dann erinnerte ich mich. So oder so ähnlich ging es mir manchmal durch den Kopf, wenn ich mein Inneres aufsuchte. Damit war mir auf einmal klar, auf was mich mein Licht aufmerksam machen wollte. Ich öffnete meine Augen und betrachtete eine Weile die Frau, ohne daß diese es bemerkte. Ich schätzte sie auf etwa 28 Jahre. Sie hielt ein Buch in den Händen, in dem sie aber nicht las. Ihr Blick war auf einen unbestimmten Punkt in der vorbeiziehenden Landschaft gerichtet. Und dann sah ich die Tränen in ihren Augen. Sie schüttelte kurz den Kopf und suchte dann in ihrer Handtasche vergebens nach einem Taschentuch. Ich zog aus der Brusttasche meiner Jacke eine angebrochene Packung Papiertaschentücher und reichte sie ihr.

"Danke." Sie zog ein Tuch heraus und tupfte sich damit die Tränen ab.

"Wie soll es jetzt weitergehen?" fragte ich gedanklich mein Licht. "Du hast mir mal geraten, eine Sache nach Möglichkeit nur dann anzufangen, wenn man sie auch beenden kann. Und jetzt?"

Schweigen.

Gut, vielleicht war das ja die Antwort. Vielleicht wäre es - wenigstens vorerst - das richtigste. Ab und zu trafen sich unsere Blicke. Dabei schaute ich sie mit so viel Verständnis an, wie mir möglich war, ohne aufdringlich zu werden. Schließlich klappte sie ihr Buch zu; ich erkannte, daß es die Bibel war. "Ich komme mir ziemlich albern vor und kann mir vorstellen, was Sie jetzt von mir denken ..."

"Das glaube ich nicht", wollte ich schon sagen, schwieg dann aber lieber. Wie richtig.

" ... aber es war ein bißchen viel, was in den letzten Tagen auf mich zugekommen ist. Und vor allem: Ich kann es nicht einordnen." Ihre Stimme war noch leise, doch sie hatte aufgehört zu weinen.

"Wollen Sie es mir erzählen?"

Es dauerte eine Weile, bis sie sich dazu entschloß. Ich wartete schweigend. Schließlich begann sie.

"Ich komme vom Krankenbett meiner Freundin, die vor kurzem einen Unfall erlitten hat. Ein Bein mußte amputiert werden, das Schlimmste aber sind ihre Kopfverletzungen. Sie leidet unter Bewußtseinsstörungen und kann sich nur schwer verständigen, zumindest kann ich sie kaum verstehen." Sie machte eine Pause, weil ein Gefühl der Hilflosigkeit und Trauer sie für einen Moment zu überwältigen drohte. Dann putzte sie sich die Nase, atmete ein paar mal tief und hatte sich wieder gefangen.

" Als ob das allein nicht schon schlimm genug wäre! Sie hat zwei kleine Kinder und einen Mann, der völlig überfordert ist. Nahe Verwandte sind keine da, keine mehr da. Ich habe ein paar Tage nach dem Rechten geschaut, die Kinder versorgt, den Haushalt geführt; stundenlang habe ich an ihrem Bett gesessen, mit den Ärzten gesprochen, ihr und ihrem Mann Mut gemacht und mich selbst getröstet. Nun muß ich wieder zurück, meine Arbeit wartet. Gott sei Dank hat sich eine Nachbarin bereit erklärt, täglich 3 - 4 Stunden zu helfen. Völlig unerwartet und aus freien Stücken. Das war der einzige Lichtblick in diesen Tagen." Sie hielt für einen Moment inne. "Ich darf nicht ungerecht sein, das letzte Gespräch mit den Ärzten hat auch Lichtblicke gehabt. Es scheint so zu sein, daß medizinisch und therapeutisch doch einiges getan werden kann, das Hoffnung macht. Die Möglichkeit zumindest besteht, daß sie wieder ein einigermaßen normales Leben führen kann. Nur wann das sein wird, das sagt einem natürlich keiner."

Das Reden hatte ihr gutgetan.

"Ich sehe, Sie haben die Bibel auf dem Schoß liegen ..." Ich ließ den Satz bewußt offen. Vielleicht würde es sie anregen, von sich aus etwas dazu zu sagen. Sie blickte mich überrascht an.

"Das ist Ihnen aufgefallen? - Ja, ich habe versucht, darin eine Antwort oder einen Trost zu finden." Sie zuckte leicht mit den Schultern. "Ich weiß nicht, vielleicht habe ich nicht an der richtigen Stelle gesucht. Sicher finde ich vieles darin, was Mut machen kann. Sonst wäre es ja fast nicht auszuhalten. Aber Antworten, richtige Antworten ..." Sie schüttelte den Kopf.

"Damit hat sich eigentlich erledigt, was ich Sie fragen wollte ..." Ich zögerte.

"Ja?" Mit ihrem fragenden Ja forderte sie mich indirekt auf, es doch zu tun.

" ... nämlich, ob Sie ein gläubiger Mensch sind."

Sie ließ sich Zeit. "Bis vor kurzem noch hätte es für mich nur eine klare Antwort darauf gegeben. Und ich nehme an, daß das noch gilt, denn man kann doch nicht von heute auf morgen ungläubig werden. Ich brauche keine fertigen Antworten auf meine Fragen, aber wenn ich wenigstens den Sinn dahinter erkennen könnte. Dieses Nicht-Verstehen setzt mir fast so schlimm zu wie das äußere Geschehen". Die Not dieser suchenden, jungen Frau, die glaubt oder weiterhin glauben möchte, war offensichtlich.

"Ich habe mit einem der beiden Krankenhauspfarrer gesprochen, einem sehr netten, älteren Herrn. Er hat viel Einfühlungsvermögen und ist für die Kranken und Angehörigen da, wann immer diese ihn brauchen. Aber ...", wieder dieser Anflug von Resignation, " ... auf die meisten meiner Fragen konnte er nur mit einem Schulterzucken antworten. Ich will ihm nicht unrecht tun", fügte sie enttäuscht hinzu, "doch mit den Schultern zucken kann ich selbst."

"Bitte hilf mir", wandte ich mich in Gedanken an mein Licht.

"Ich bin davon überzeugt, daß Sie an Gott glauben", setzte ich das Gespräch fort. "Wenn jemand Trost und Hilfe bei einem Seelsorger und in der Bibel zu finden hofft, anerkennt er damit eine höhere Instanz. Sonst würde er dort nicht suchen. Vielleicht würde er sich an positives Denken erinnern oder an andere Übungen."

Sie hörte mir aufmerksam zu. "Und?"

"Sie glauben an Ihn. Lieben Sie Ihn auch?"

"Ob ich Ihn liebe?" Mir schien, als hätte ich sie ein bißchen verunsichert. "Darüber habe ich mir noch keine großen Gedanken gemacht. Wenn ich es mir überlege, dann meine ich: Man muß Ihn doch lieben, wenn man an Ihn glaubt. - Oder?" Plötzlich waren Zweifel in ihrer Stimme.

"Mich treibt im Moment dieselbe Frage um, und ich bin Ihnen dankbar dafür, daß ich mich mit Ihnen darüber unterhalten kann." Das war nicht gelogen, auch wenn ich mein Licht und meinen Freund Peter als Gesprächspartner für solche Themen hatte. Dennoch war unser Austausch hier wichtig - für uns beide.

"Ich bin mir schon ziemlich sicher", fuhr ich fort, "daß Ich glaube an Dich und Ich liebe Dich zwei verschiedene Dinge sind. Haben Sie mal zu Gott gesagt: ‘Ich liebe Dich’, so wie Sie das sicher auch zu Ihrem Mann sagen?" Ich hatte den Ring an ihrem Finger bemerkt.

Sie zögerte. "Ich weiß nicht."

Ein erneuter Gedanke an mein Licht: "Laß mich nicht allein".

"Wenn ich meine Frau liebe" [ als Witwer hätte mir ein besseres Beispiel einfallen können!] , "untersuche ich das Essen, das sie mir kocht, nicht auf Gift. Im Gegenteil: Ich vertraue ihr, weil ich weiß, daß auch sie mich liebt und mir daher nichts Böses will. Wie aber mache ich es mit Gott, an den ich doch ebenfalls glaube? Nehme ich aus Seiner Hand auch vertrauensvoll das entgegen, was Er für mich bereithält?"

Das, was ich da sagte, war nicht von mir. Ich spürte es genau. Das gab mir ein gutes und sicheres Gefühl.

"Nicht mein Glaube an Ihn führt - sozusagen wie von selbst - zur Liebe. Dagegen beinhaltet meine Liebe immer den Glauben, weil man nicht jemanden lieben kann, ohne an ihn zu glauben. Höchstens Stars und Sternchen, fällt mir gerade dazu ein, aber das ist keine Liebe, sondern Schwärmerei. So viel habe ich schon herausbekommen. Sie können es selbst versuchen. Denken Sie mal an all die Freunde, Bekannten, Kollegen, Politiker usw., an die Sie glauben. Und dann fragen Sie sich, ob Sie die auch lieben. Ich meine nicht, ob Sie sich für sie begeistern oder sie für verläßlich halten, sondern ob Sie sie lieben. So hab ich’s gemacht, und dann wußte ich, daß Glaube und Liebe zweierlei Dinge sind."

Sie sah mich nachdenklich an. "Auf was wollen Sie hinaus?" Ich hatte den Eindruck, als sei ihr Kummer ein wenig in den Hintergrund getreten.

"Lassen Sie uns eine Hypothese aufstellen. Wenn Gott die Liebe ist, und es keine größere Macht als die Liebe gibt, dann ergibt sich daraus, daß die Liebe alles enthält. Gehen Sie damit einig?"

"Ja", sagte sie vorsichtig, als ob sie sich auf unbekanntes Terrain zubewegen würde. Sie bestätigte es mir: "So zu denken ist mir neu."

"Aber Sie sind noch nicht zu alt, um es zu lernen. Sie könnten es versuchen, wenn Sie möchten." Ich lächelte leicht. "Sie kennen sicher das Lied ‘Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart’." Sie nickte. "Diese große Liebe meine ich. Sie m u ß die Gerechtigkeit beinhalten, weil Gott gerecht ist." Sie nickte wieder.

"Wenn Sie dies anerkennen, haben Sie schon halb gewonnen. Dann kann es nicht mehr um die Fragen gehen: Wo bist du, Gott? Warum hast du weggeschaut, als das passierte? Warum hast du nicht eingegriffen?, sondern Sie schreiben das, was Ihnen, Ihrer Freundin und überhaupt jedem Menschen passiert, zuerst einmal nicht mehr Seiner Ungerechtigkeit zu. Damit hören Sie auch auf, an Ihm zu zweifeln. Denn darin besteht für den, der direkt oder indirekt betroffen ist, die größte Gefahr. Oder meinen Sie, daß man allen Ernstes sagen kann: ‘Gott, ich glaube an Dich, aber ich glaube nicht daran, daß das, was geschieht, in Deinem Willen ist’?"

Sie war inzwischen ruhig geworden. Unser Gespräch begann sie zu faszinieren, so daß es schien, als hätte sie ihre akuten Sorgen vergessen.

"Aber das ändert nichts daran, daß ich immer noch nicht weiß, warum."

"Das ist richtig, und damit hatte sich auch für mich eine große Frage aufgetan: Muß ich überhaupt wissen, warum? Die Liebe enthält ja nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die göttliche Weisheit. Gott wird also kein Fehler unterlaufen, Ihm kann kein Fehler unterlaufen. Als ich diesen Gedankengang mit all seiner Konsequenz zu Ende brachte, war das Warum? plötzlich nicht mehr so wichtig. Die Antworten, wenn sie mir oder uns denn gegeben würden, hätten vielleicht - aber nur vielleicht - zu einem besseren Verständnis gedient. Doch hätte ich auf Grund der Antworten auf einmal demütig mein Haupt gebeugt und gesagt: ‘Ja, Vater, wenn das so ist, dann ist alles gut’? Ich glaube, das würde ich kaum tun. Und die meisten Menschen bestimmt ebensowenig.

Da schien es mir besser zu sein, die Liebe, Gerechtigkeit und Weisheit Gottes anzuerkennen, anstatt auf Antworten zu pochen. Als ich dies tat - und ich muß zugeben, daß ich mich immer wieder neu darum bemühen muß -, hörten das Zweifeln, Hadern und Streiten mit Ihm auf. Denn ich kann nicht Seine Liebe zu mir akzeptieren, sie vielleicht sogar stärker und stärker in mir wachsen lassen, und Ihn gleichzeitig als ungerecht empfinden. Tue ich das dennoch, kann ich daran erkennen, wie groß oder klein mein Glaube an Ihn ist. Ob mein Glaube überhaupt noch existiert. Wenn ich in Gottes Führung keine Gerechtigkeit erkennen kann, verneine ich Ihn. Über meine Liebe zu Ihm oder das, was ich dafür halte, brauche ich dann gar nicht mehr nachzudenken."

Wann hatte ich zuletzt eine so lange Rede gehalten? Hoffentlich hatte ich sie nicht erschreckt. "Über noch etwas dachte ich damals ernstlich nach: Was ich eigentlich antworten würde auf Seine Frage, ob Er es ist, den ich liebe? Falls Er mir einmal eine solche Fragen stellen würde, hier oder erst drüben. Ich ahne die Antwort, aber kann ich sie jetzt schon ehrlichen Herzens geben?"

Sie schaute mich mit großen Augen an. "Schickt Sie der Himmel?"

War ich über mein Ziel hinausgeschossen? Stand es mir zu, so zu reden? Ich spürte in mich hinein. Ich war fest von der Richtigkeit dessen überzeugt, was da aus meinem Inneren geflossen war, wenn ich auch als Wanderer gerade erst den Weg angetreten hatte. Was hätte ich ihr anderes sagen sollen? Von Reinkarnation und Karma konnte ich ihr unmöglich etwas erzählen, auch nicht von Seelen, die bewußt einen Opfergang über die Erde machen, um auf tausendfältige, für uns undurchschaubare Weise anderen auf ihrem Weg zu helfen. Ich hatte das gesagt, was in meinem Herzen war.

"Nein", entgegnete ich, "mich schickt nicht der Himmel, und ich bin kein Engel, es sei denn in dem Maße, wie Sie auch einer sind. Denn für mich steht es außer Frage, daß der Himmel unser aller Zuhause ist, und daß wir auf dem Rückweg in unser Vaterhaus sind. Wie der verlorene Sohn - auch wenn Sie eine Tochter sind."

Sie lächelte zum ersten Mal, seit sie das Abteil betreten hatte. Zu Anfang unseres Gespräches hatte ich gehofft, daß uns kein weiterer Reisender stören würde. Dann hatte ich diesen Gedanken aufgegeben. Wenn es sein sollte, würde wir allein bleiben und könnten in Ruhe miteinander sprechen. Sollte dies nicht vorgesehen sein, bekämen wir Besuch. Oder wir würden zu dritt oder viert die Unterhaltung weiterführen. Wer weiß schon, was der Himmel für Pläne hat! Wir waren allein geblieben.

Der Lautsprecher kündigte die Station an, an der ich aussteigen mußte. Ich nahm mein Reisegepäck aus dem Netz und reichte ihr die Hand.

"Alles Gute für Sie und Ihre Freundin und deren Familie. Ich werde an Sie alle denken."

Sie hielt meine Hand einen Augenblick lang fest in der ihren. "Ich danke Ihnen ..."

"Und ich danke Ihnen", unterbrach ich Sie, "auch wenn Sie es vielleicht nicht verstehen."

Dann hielt sie mir die Packung Papiertaschentücher hin. "Ich glaube nicht nur, ich weiß, daß ich die nicht mehr brauche."

Ich öffnete die Abteiltür und wollte auf den Flur treten, als sie mich fragte: "Wer sind Sie? Was tun Sie, außer auf Bahnfahrten Menschen wieder Mut zu machen?"

Der Zug fuhr gerade in den Bahnhof ein, so daß sie einsah, daß für eine längere Erklärung keine Zeit mehr blieb. So brauchte ich nicht mehr zu sagen als:

"Ich bin ein Wanderer, der ein paar Tage Urlaub macht und sich dabei ein wenig ausspannen möchte. Machen Sie’s gut."

Der Busbahnhof war nicht weit entfernt. Ich nahm Koffer und Tasche und ging los.

Wie geht es deiner Schwester?

"Ich nehme an, es geht ihr etwas besser als noch vor einer Stunde. Dank deiner Hilfe."

*

Im Bus, der außer mir kaum eine Handvoll Fahrgäste beförderte, suchte ich mir ziemlich weit hinten einen Fensterplatz. Ich hatte eine Fahrt von etwa 45 Minuten vor mir, Zeit genug also, um noch einmal an die junge Frau und das, was sie mir erzählt hatte, zu denken. Wie hätte ich noch vor Monaten empfunden, wäre ich in ihrer Situation gewesen? Ganz ähnlich, mußte ich zugeben. Deshalb war es mir nicht schwergefallen, sie zu verstehen. Ohne mein Licht hätte ich aber niemals die Worte gefunden, die es ihr ganz offensichtlich etwas leichtergemacht hatten. Ich wünschte ihr, daß sie den Wunsch und den Willen haben würde, diesem Fundament - auch wenn es erst klein war - weitere Bausteine hinzuzufügen. Ich erinnerte mich an den Beginn meiner geistigen Schulung, als ich viele Fragen hatte, die mir am liebsten alle auf einmal hätten beantwortet werden sollen:

Alle Aspekte des Lebens, der gesamten Schöpfung, sind - vergleichbar einem riesigen Netz - miteinander verbunden. Wie unter einer Decke, welche die Wahrheit noch verhüllt, liegen für dich und die meisten Menschen die sogenannten "Geheimnisse Gottes" verborgen. Ist es für die Wahrheitsfindung wohl entscheidend, welchen Zipfel deiner Unwissenheit wir zuerst lüften?

"Es war nicht entscheidend und ist nicht entscheidend", dachte ich. "Viel wichtiger ist, daß man überhaupt anfängt zu suchen. Den Rest wird die geistige Führung übernehmen; und die ist bei jedem Menschen anders, weil jeder ein anderes Bewußtsein hat."

Jesus von Nazareth hatte diese Gesetzmäßigkeit schon vor 2000 Jahren auf den Punkt gebracht: Wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan. Einfach genial, göttlich genial. Seitdem glaubten Gelehrte aus aller Welt, dieses Wort auslegen und erklären zu müssen. Dabei brauchte man es nur anzuwenden.

Wir fuhren durch eine abwechslungsreiche Landschaft. Die Wälder begannen sich bereits zu färben, die Felder waren abgeerntet, und hier und da war auch die Obsternte schon im Gang. Das erinnerte mich an die Gedichtzeile "und keine Zeit bedrängt das Werden und Vergeh’n". Wie es hier wohl im Frühjahr ausschauen würde? Wenn neues Leben überall aufzubrechen begann? Für mich war es selbstverständlich geworden, alles nur als Ausdruck eines ständigen Wandels zu sehen.

Mein Licht hatte mit mir ausführlich über die Reinkarnation gesprochen, die fälschlicherweise oft als Wiedergeburt und nicht als Wiederverkörperung bezeichnet wird. So hatte ich die ersten Einblicke gewinnen können in eine göttliche Gerechtigkeit, was mir erst die Augen für die Liebe Gottes geöffnet hatte. Ich begann, die ersten falschen Wegweiser der christlichen Lehren zu erkennen - neben den zweifellos richtigen. Was ich von meinem Licht nicht hatte erfahren können, mußte ich mir zusammensuchen und gemäß der Aufforderung Gebrauche deinen Verstand selbst herausarbeiten.

Das Wissen über ein Leben nach dem Tod führte zwangsläufig zu der Frage, wie es "drüben" weitergeht. Und schon war man bei Sünde, Seelenschuld, Fegefeuer, Hölle, ewiger Verdammnis und - im besten Fall - beim Himmel. Der Begriff "Karma" tauchte auf, wurde untersucht, erläutert und begriffen. So ergab sich nach und nach ein Verständnis, in dem der Zufall als nicht existent erkannt wurde und sich alles einordnete in ein Bild, das auch Not und Sorgen, Leid und Schicksalsschläge enthielt. Nichts aber geschah "einfach nur so", ohne Bezug zur Vergangenheit oder auch zur Zukunft. Alles hatte seinen Platz, ob es dem Betroffenen gefiel oder nicht, und ob er es verstand oder nicht.

Mir war einmal durch den Kopf gegangen, daß im Liebeplan Gottes für die Menschen eine Möglichkeit vorgesehen sein muß, daß ein scheinbar unabwendbares, "zufällig" auftretendes und nicht angekündigtes Schicksal doch abgewendet werden kann. Schon deshalb, weil Er die Liebe ist. Es mag ja sein, daß alles seinen Platz hat; aber man könnte Plätze ja auch tauschen, vielleicht verschieben und sie ihrer Wichtigkeit oder Brisanz berauben.

Inzwischen wußte ich, daß es diese Möglichkeit nicht nur als theoretische Annahme, sondern als Fakt gab. Dieses Thema einmal in aller Ruhe mit dem Licht zu besprechen, stand noch auf meinem Programm. Das Ergebnis würde ich in mir festschreiben. Hatte ich nicht erst vor kurzem an eine "Führung mit einer, mit nichts zu vergleichenden ‘göttlichen’ Präzision" gedacht?

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Früher, als ich mich noch macht- und hilflos einem undefinierbaren Schicksal ausgeliefert sah, war eine meiner Aussagen gewesen: "Was soll ich mir Gedanken machen? Es kommt doch alles so, wie es kommen muß!" Mit dieser Einstellung befand ich mich anscheinend immer "in guter Gesellschaft". Das zeigte die regelmäßige Zustimmung. Inzwischen war ich vom Gegenteil überzeugt. Ich glaubte zwar immer noch, daß alles so kommen wird, wie es kommen muß, aber ich nahm einen Zufall oder eine Willkür Gottes nicht mehr als Ursache an. Ich hatte mich davon überzeugt, daß ich auf das, was kommen mußte, Einfluß hatte. Diese gemachte Erfahrung ging weit über "positives Denken" hinaus. Im Grunde genommen hatte sie nichts mehr damit zu tun.

Ich schaute auf meine Uhr. Die Hälfte der Strecke hatten wir hinter uns. Es war eine Wohltat für Auge und Gemüt, an diesem herrlichen Spätsommertag durch die abwechslungsreiche Gegend zu fahren. Ob sich meine Abteilnachbarin inzwischen auch an ihrem, sicher nicht weniger schönen Ausblick ein bißchen erfreuen konnte? Wenn ich auf mich allein gestellt gewesen wäre bei unserem Gespräch - was hätte ich ihr gesagt? Wäre etwas Falsches dabei gewesen, das sie möglicherweise vor den Kopf gestoßen hätte, auch dann, wenn es noch so richtig gewesen wäre? Eines hatte ich Gott sei Dank schon verstanden, auch wenn es das in der Praxis immer wieder zu üben galt: Überfordere deinen Nächsten nicht! Und es wäre völlig unangebracht gewesen, den Aufklärer zu spielen. Es schüttelte mich innerlich, als ich an die Versuchung dachte, die bestimmt im Hintergrund gelauert hatte.

Mir kam in dem Moment zu Bewußtsein, wieviel Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in einer ähnlichen Lage sind wie die junge Frau und ihre Freundin mit Familie. Keiner hat ihnen gesagt, daß niemals eine Strafe Gottes ist, was ihnen an Leid widerfährt. Keiner hat sie darüber belehrt, daß das Leben einem jeden ununterbrochen das vorsetzt, was es noch zu erkennen, zu erarbeiten und zu erlernen gibt. Daß aber dabei nur das auf ihn zukommen kann, was auf ihn zukommen muß auf Grund seines Handelns in diesem oder einem früheren Leben. Ganz gewiß gab es Ausnahmen von dieser Regel; aber auch sie waren Teil einer Gesetzmäßigkeit, die wir nur noch nicht kannten. Denn bei Gott gab und gibt es keine Willkür.

Wer weiß denn schon, daß sich die Seele unter Schmerzen krümmt, wenn der Mensch Widerstand leistet? Und daß es die Liebe Gottes ist, die Not und Ungemach nur deshalb zuläßt, damit der Mensch aufwacht und sich der Liebe ergibt? Statt dessen herrschten Gleichgültigkeit, Unwissenheit und Angst vor. Vier Zeilen aus einem Gedicht von "Ephides"1) kamen mir in den Sinn:

Was fürchtest du? Es kann dir nur begegnen,

was dir gemäß und was dir dienlich ist.

Ich weiß den Tag, da du dein Leid wirst segnen,

das dich gelehrt, zu werden, was du bist!

Die Schmerzgrenze - wer hatte das mal formuliert? - sei von Mensch zu Mensch verschieden; doch irgendwann würde sie jeder erreichen. "Und dann", dachte ich, "bricht das Warum? aus ihm hervor. Aber es ist kein Warum? der Anklage und des Zorns mehr, sondern eines, das den verzweifelten Hilferuf des Ertrinkenden in sich trägt." Das ist der Wendepunkt. Muß es aber so weit kommen? Muß erst das Leid gesegnet werden? Müssen oftmals viele Leben vergehen in geistiger Blindheit und in Schmerz und Leid? Würde der Mensch seine Schmerzgrenze freiwillig ausloten, wenn er die Wahrheit wüßte?

All das hatte ich ihr nicht sagen können. Dafür war es zu früh. Sollte sie aber auf die Suche gehen, so würde sie diese Antworten finden. Auch diese Antworten.

Der Bus hatte in einem freundlichen Dorf, meinem Urlaubsort, haltgemacht. Ich nahm mein Gepäck und stieg aus.

*

Die kleine Pension lag am Ende des Dorfes, ein Stück von der Straße entfernt, Richtung Wald. Von Bekannten, die schon zum wiederholten Male hier Urlaub gemacht hatten, war sie mir wärmstens empfohlen worden. Frau Jakobs, die mollige Pensionswirtin, begrüßte mich herzlich und zeigte mir mein Zimmer.

"Gefällt es Ihnen?"

Die zartblaue Tapete, die dazu passenden Vorhänge und Bettbezüge, die behagliche Sitzecke - all das war ganz nach meinem Geschmack.

"Ich glaube, hier werde ich mich wohl fühlen. Da bereue ich direkt, daß ich nur eine Woche bleibe."

"Das Wetter soll sich auf jeden Fall noch ein paar Tage halten, da können Sie nach Herzenslust wandern." Sie verabschiedete sich. Ich öffnete die Tür zum überdachten Balkon, trat ins Freie und genoß die herrliche Aussicht und die frische Luft.

Am Spätnachmittag machte ich einen Spaziergang durch den Ort, wechselte hier und da ein paar Worte mit den Einheimischen, ging die wenigen hundert Meter zu einem kleinen Wasserfall und dann in den einzigen Gasthof des Dorfes mit dem Namen "Zur Linde", um dort mein Abendessen einzunehmen. Die Atmosphäre war so gemütlich, daß ich anschließend bei einem Glas Wein noch eine Weile sitzen blieb, mir die Tageszeitung holte und rundherum zufrieden war.

Als ich die Pension betrat, um auf mein Zimmer zu gehen, kam die Wirtin aus der Küche.

"Herr Frei, ich zeige Ihnen noch das Frühstückszimmer." Sie öffnete eine Tür rechter Hand. "Die Tische dort decke ich gleich für morgen früh ein. Im Moment haben wir fünf Gäste, aber damit ist unser Haus auch fast voll. Macht es Ihnen etwas aus, mit einem Herrn am Tisch zu sitzen?"

Es machte mir nichts aus, im Gegenteil. Sie wies auf einen Durchgang. "Und dort ist noch eine kleine Sitzgruppe. Wenn Sie abends nicht allein auf Ihrem Zimmer sein wollen, können Sie auch hier in Ruhe lesen oder vielleicht mit anderen Gästen was spielen. Einen Fernseher haben wir leider nicht."

"Was mir sehr recht ist, wenigstens im Urlaub."

In meinem Zimmer machte ich mich für die Nacht zurecht; meine Sachen hatte ich schon nachmittags im Schrank und im Bad untergebracht. Ich erinnerte mich, daß ich mir von Max drei Bücher ausgeliehen hatte. Da ich noch nicht müde war, nahm ich das dünnste der drei mit dem Titel "Karmatha", legte mich in mein Bett und begann zu lesen.

Es handelte von Jakob Lorber, dem "Schreibknecht Gottes", von dem ich zwar schon einiges gehört, aber noch nichts gelesen hatte. Das Buch war auch nicht von ihm (was er ohnehin mit der Bemerkung zurückgewiesen hätte: "Nichts ist von mir, Gott hat mir alles in die Feder diktiert"), sondern es ging darin um ihn. Genauer gesagt um die Zeit seiner Vorbereitung in den reingeistigen Welten auf seine Erdenmission. Hier fand ich unter anderem die Aufklärung über die Evolution der himmlischen Wesen, die ich von meinem Licht vor ein paar Tagen erhalten hatte. Auch anderes las ich darin, z.B. von der fehlenden Erinnerung an frühere Geschehnisse, von der Gefahr eines endgültigen Vergessens oder eines Abfalls und von dem Schutz, den der Himmel einem jeden mitgibt. Das Heranreifen und die Schulung des Engels, der auf Erden den Namen Jakob Lorber tragen sollte, wurde ausführlich beschrieben, ebenso sein Bedürfnis, diesen Auftrag freiwillig zu übernehmen. Die Notwendigkeit dazu war unter anderem durch das Scheitern der Kirche/n gegeben.

Meine Aufmerksamkeit wuchs an einer Stelle besonders. Gott sprach da zu einigen Seiner Kinder, die bereits ein- oder mehrmals inkarniert waren und vor der Frage einer erneuten Inkarnation standen.

"Doch bedenkt: Auf Erden gibt es keine Rückerinnerung, wohl aber einen inneren Drang zum Göttlichen als ‘Lichtanteil’. Ob ein Kind dem Drange folgt, ist da seine pur eigene Sache. Ihr speziell seid keine bösen Menschen gewesen, doch war Gott euch fremd, teils aus ungenügender Belehrung, teils aus Lust an Erdenfreuden. Als jedoch der ‘göttliche Drang’ bei euch schwer treffenden Ereignissen stärker in den Vordergrund trat, suchtet ihr in euren Kirchen Seelenbeistand. Allein - diese waren bis auf wenige Diener selbst weltfreudig eingestellt. Den göttlichen Nimbus nahmen sie fast nur zur Tarnung, um sich auf diese Weise einen großen Namen zu machen, viel Ehre einzuheimsen und geheim herrlich und in Freuden zu leben. Sie bildeten die ‘goldene Brücke’ ins Himmelreich, wobei das Gold in ihren Säckel floß, die Brücke - ohne Glaubenspfeiler - aber meist zusammenbrach, sobald sich eine Seele ihrer zu bedienen suchte. Als ihr mitsamt eurer Brücke ebenfalls in eine glaubensleere Tiefe stürztet, suchtet ihr Mich in euren Herzen. Doch eure Weltfurcht war zu groß, als daß Mein Licht hätte in euch scheinen können. Dennoch hielt euch Meine Liebe fest, bis ihr den leeren Kirchentopf mit Meinem Tisch vertauschtet."

Darüber wollte ich mir noch ein paar Gedanken machen. Ich löschte das Licht, suchte mein Inneres auf, dankte für den Tag und schloß die gelähmte Frau, ihre Angehörigen, ihre Freundin, die Ärzte und Therapeuten in mein Gebet ein. Dann aber flatterten meine Gedanken wie Blätter im Herbstwind davon, und ich schlief ein.

*

Ich grüße dich aus dem Licht, mein Bruder.

"Ich grüße dich ebenfalls und freue mich, dich zu sehen. Und nochmals danke für die Unterstützung im Zug." Mein Licht ging nicht darauf ein. Anscheinend war das eine Selbstverständlichkeit gewesen.

Ich hätte auch sagen können: "Ich grüße dich, mein Bruder aus dem Licht."

"Was ist da für ein großer Unterschied?" wollte ich schon fragen, als er mir auffiel. Stattdessen antwortete ich: "Hättest du dann nicht dich und mich verwechselt?"

Bist du sicher?

Ich dachte nach. Jeder war aus den Himmeln (ab und zu gebrauchte ich schon die Mehrzahl, aber es war immer noch ungewohnt). Es gab keine andere "Geburtsstätte". Auf Erden wurde der Mensch geboren, sein wahres Wesen aber, der Geist in ihm, war nicht von dieser Welt. Das, was sich bei seinem "Abstieg von oben nach unten" um seinen Geistkern oder Liebekern oder - wie ich es eben gelesen hatte - um seinen Lichtanteil gebildet hatte, waren seine Seelenhüllen, in ihrer Gesamtheit Seele genannt. Sah man die Sache so, war tatsächlich ein jeder aus dem Licht.

Ich hatte das schon verstanden, mein Herz hatte damals einen Sprung gemacht, als ich die Zusammenhänge erkennen durfte, aber mir fehlte immer noch das richtige, tiefe Empfinden dafür, mich schon als Kind des Lichtes zu sehen. Dafür war ich noch zu sehr Mensch, mit all den bekannten Schwächen und Neigungen ...

"Also, wenn du das so siehst ...", begann ich.

Eigentlich ist es nicht ganz so wichtig, wie ich das sehe. Ich habe dabei mehr an dich gedacht. Du weißt inzwischen aus eigener Erfahrung, wie schnell der Mensch ein Kind dieser Welt werden kann. Manchmal verhilft ihm ein Bild dazu, daß er seine wahre Natur leichter erkennen kann. Ich meine seine w a h r e Natur und nicht das, was er dafür hält. Es stört dich sicher nicht, wenn das Beispiel "etwas hinkt", wie ihr sagt. Bist du bereit?

"Und wie."

Jede Inkarnation gleicht einem Lichtstrahl, der aus unendlicher Ferne auf die Erde fällt. Dieser Lichtstrahl hat einen Ursprung ...

Mein vorlauter Spruch von soeben tat mir schon leid; ich wollte wieder etwas gutmachen und sagte: "Das sind die Himmel."

... und ein vorläufiges Ziel. Das ist der Punkt, an dem er auf der Erde auftrifft. Zwischen dem Aussenden des Lichtes und seinem Auftreffen können Welten an Zeit und Raum liegen, doch solange es etwas gibt, das als Lichtspitze durch das Universum eilt, gibt es auch einen Strahl dahinter und damit eine Quelle, aus der das Licht gespeist wird. (Das war ein faszinierendes Bild für mich.) Das Licht bist du, und zwar mitsamt Strahl, Anfang und Ende. Dann betrittst du die Materie, das heißt, du als Licht triffst hier auf. Und dann passiert etwas Eigenartiges. (Jetzt wurde es richtig spannend.) Der Mensch, der ansonsten seinen Blick viel zu selten nach vorne richtet, schaut jetzt n u r nach vorne. Er kennt keine andere Richtung; ununterbrochen blickt er auf den runden Punkt, den er seit seinem Eintreffen - oder sollte ich sagen: Auftreffen? - auf der Erde bildet. Und den er oft genug für das einzige und Größte auf der Welt hält, manchmal sogar für ihren Nabel.

"Ich finde dein Bild wunderbar, für mich hinkt es in keiner Weise."

Kannst du es vervollständigen?

Es war also noch nicht komplett. Was fehlte noch? Die andere Richtung ...!

"Würde sich der Mensch die Mühe machen", antwortete ich, "seinen Blickwinkel um 180 Grad zu verändern und in die genau entgegengesetzte Richtung zu schauen, dann könnte er feststellen, daß er viel mehr ist als der Punkt, für den er sich hält. Der Punkt ist erst dadurch entstanden, daß der Lichtstrahl irgendwo aufgetroffen ist. Er ist somit nur das Ergebnis, der Ausdruck einer dahinterstehenden Lichtenergie, jedoch niemals das Licht selbst."

Dieser Blick zurück würde ihm die Illusion nehmen, in seinem Dasein als Mensch das einzig Wahre, das ein und alles zu sein; dagegen könnte er erkennen, daß sein Urgrund in der ewigen Unendlichkeit liegt. Von dort aus strahlt ihm sein eigenes Licht entgegen. Geht er an seinem Lichtstrahl entlang, findet er unweigerlich zu seinem Ausgangspunkt zurück.

"Läßt sich nicht noch etwas ableiten von deinem Beispiel?"

Bitte, du bist dran, deutete mir mein Licht durch ein paar feine Strahlen an, die mich für einen Moment einhüllten.

"Man kann doch daran auch erkennen, daß der Mensch die Himmel eigentlich gar nicht verlassen hat. Zwar ist er jetzt hier, aber das ewige Wesen in ihm ist doch ...", jetzt kam ich ins Straucheln.

" ... das ewige Wesen ist gleichzeitig in i h m , dem Menschen, und in G o t t . Es hat Gottes Herz nie verlassen. Es kann Sein Herz gar nicht verlassen. Würde man das theoretisch einmal annehmen, so würde der Lichtpunkt in dem Moment für immer verlöschen, in dem der Kontakt zur unerschöpflichen Liebesquelle abbricht.

"Wer also zurückblickt - ausnahmsweise einmal, versteht sich -, der kann sich als Kind Gottes begreifen. Dann kann er auch mit Überzeugung sagen, so wie du es eben meintest: ‘Ich bin aus dem Licht’."

Ja, das kann er, wenn es nicht bei einem einmaligen Zurückschauen bleibt. Das bringt ihm höchstens Wissen; der Wunsch für die Rückkehr wird dadurch selten geweckt. Entscheidend ist, ob er bereit ist, die in ihm vorhandene, aber vielleicht noch schlummernde Sehnsucht und Liebe zu aktivieren. Das gibt ihm die nötige Antriebsenergie.

Nach einer Pause, die ein wunderbares Schweigen füllte, sagte ich:

"Wir haben vor einiger Zeit über die Zusammenhänge von Mensch, Seele und Geist gesprochen. Ach ja, ‘Bewußtsein’ kam auch noch hinzu. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich dich - leicht irritiert - fragte: ‘Habe ich nun eine Seele, oder bin ich eine Seele? Oder bin ich meine eigene Seele?’ Weißt du noch? [ Dumme Frage.] Mit deinem Beispiel klären sich nun die noch offenen Fragen." Ich überlegte kurz.

"Der Lichtpunkt ist mein Mensch, der Lichtstrahl meine Seele und der Ursprung des Leuchtens ist mein Geist. Und der ist wiederum reinstes Bewußtsein."

Und der Vater-Mutter-Schoß dahinter ist Gott, ohne den du nicht leuchten würdest.

"Wenn ich nun anfange, mich auf den Heimweg zu begeben und mich praktisch zurückhangle wie an einem Tau, dann wird der Strahl meines eigenen Lichtes in dem Maße kürzer, wie ich mich wieder dem Ursprung nähere." Jetzt verstand ich. "Damit würden auch meine Seelenbelastungen nach und nach weniger, und das strahlende, göttliche Kind käme immer mehr zum Vorschein."

Noch eine Erkenntnis tat sich mir auf. "Auch wenn ich mehrmals inkarniere - was ich mit einem Scheinwerfer vergleiche, den man jedesmal auf etwas anderes richtet -, so bleibt doch der Ursprung des Leuchtens immer der gleiche. Es ist mein einzigartiges, göttliches Wesen, das bei einer weiteren Inkarnation aufs neue hinausleuchtet und wiederum einen Punkt beim Auftreffen bildet: einen neuen menschlichen Körper. Das Kind Gottes aber ist und bleibt stets das gleiche, auch bei noch so vielen Inkarnationen. Das Bindeglied, die Seele, dagegen ist veränderlich, je nachdem, ob der Mensch mit Christi Hilfe ihre Belastungen löscht oder löst, oder ob er ihr im Eigenwillen weitere Belastungen aufbürdet. Das in der Seele Vorhandene oder Gespeicherte hat entscheidenden Einfluß auf das Verhalten des Menschen.

Man könnte auch sagen", fiel mir in Anlehnung an meine berufliche Tätigkeit ein: "Der Innendienst (die Seele) macht auf Grund der Ergebnisse der Vergangenheit dem Außendienst (dem Menschen) die Vorgaben. Will dieser seine Ruhe, hält er sich daran, Jahr für Jahr, Leben für Leben. Nimmt er jedoch seine Eigenverantwortung wahr und fängt an zu fragen und zu suchen, um schließlich zu finden, dann macht er nach und nach die Vorgaben. Aus dem willigen Knecht wird ein souveräner Herr. Natürlich kann er das nicht allein schaffen. Dazu braucht er göttlichen Beistand ...", ich ergänzte noch, " ... so wie ich für diese Gedanken; wenn sie auch im Gegensatz zu deinem Beispiel ein bißchen hinken."

In der Schule hättest du dafür ein Fleißkärtchen bekommen.

"Vielleicht schaffen wir gemeinsam ja doch noch ein erkleckliches Stück in diesem Leben", dachte ich.

Mit dem Gedanken "in diesem Leben" hast du den Dreh- und Angelpunkt benannt. Der Mensch wird sich ohnehin dazu entschließen, irgendwann mit dem Zurückhangeln - wie du es ausdrückst - zu beginnen, Griff für Griff. Er wird dies spätestens dann tun, wenn er seine Schmerzgrenze erreicht hat. Es ist eine falsche Lehre, auf Glaube und Gnade allein zu bauen. Auch die als notwendig erachteten Sakramente bringen dich nicht voran oder, je nach Sichtweise, zurück. D u bist es, der den Griff oder Schritt tun muß. Darauf zu warten, daß sich im Jenseits die richtigen Weichenstellungen für ein Weiterkommen ergeben, ist vergeudete Zeit. Hier ist das Auflösen deiner Seelenbelastungen möglich, drüben nur sehr, sehr bedingt, oftmals gar nicht.

Wer sich also bereits hier auf den Weg macht und an seinem Lichtstrahl zurückhangelt, der wird beim Ablegen seines Körpers feststellen, daß er schon ein gutes Stück voran-zurückgekommen ist. Vielleicht - und das ist nicht unmöglich, es kommt auf die Belastung der Seele an - findet er sogar zu Lebzeiten zur Quelle zurück.

Wir schwiegen für ein paar Minuten, waren einfach beieinander. Ich gab mich dem Frieden seines wunderbaren Strahlens hin. Dabei hing ich meinen Gedanken nach. Mehr und mehr trat eine Frage in den Vordergrund, die ich schließlich formulierte:

"Alle Menschen und Seelen - damit meine ich diejenigen, die zur Zeit nicht inkarniert sind, die sich irgendwo zwischen Himmel und Erde aufhalten - sind aus Gott. Dennoch hört und liest man manchmal auch die Bezeichnung ‘Kinder der Finsternis’. Oder es heißt ‘die von oben’ und ‘die von unten’. Wie kann das sein?"

Du schneidest eines der wichtigsten Themen an, die wir noch miteinander behandeln werden. Aber wir sind noch nicht ganz so weit, um heute schon darüber sprechen zu können. Kannst du dich ein wenig gedulden?

Ich nickte. "Selbstverständlich, du hast den Überblick."

Soviel aber möchte ich dir vorab sagen: Alle Geschöpfe tragen als göttliches Erbe ihren Lichtanteil in sich, wie du es eben gelesen hast. Somit ist es unmöglich, daß auch nur ein einziges auf ewig verlorengeht. Gott verliert nicht Sich selbst oder verdammt gar Sich selbst. Das haben sich eure Theologen ausgedacht.

Auf Grund des Engelsturzes, der durch die Auflehnung gegen Gott ausgelöst wurde, haben die Anführer und ihr Gefolge weit außerhalb der himmlischen Welten ihr Zuhause gefunden. Wir haben vor einiger Zeit darüber gesprochen - weißt du noch? ("Geschieht mir recht", dachte ich. Doch vielleicht war es gar keine Retourkutsche, sondern eine ehrliche Frage, und nur mir kam es so vor? Ich wußte es auf jeden Fall noch und nickte.) Diejenigen, die selbst heute - nach diesen für euch unvorstellbar langen Zeiträumen - ihren Plan immer noch nicht aufgegeben haben, werden manchmal als die Kinder der Finsternis bezeichnet. Dadurch wird die Unterscheidung der Kräfte verdeutlicht, die sich in dem Kampf gegenüberstehen, der seitdem im Unsichtbaren tobt. Doch es sind und bleiben Kinder Gottes und damit deine und meine Brüder und Schwestern, auch wenn sie alles daransetzen, euch zu Fall zu bringen und zu binden, um euch auf diese Weise die Rückkehr ins Vaterhaus unmöglich zu machen. Zumindest für eine ganze Weile.

In ihnen brennt ebenso diese unauslöschliche Flamme, wenn sie sich auch durch das uneinsichtige, seit Äonen andauernde, gegensätzliche Handeln der Wesen auf ein Minimum reduziert hat. Doch das reicht aus, ihre Auflösung zu verhindern.

Danach herrschte wieder eine Weile Stille zwischen uns. Was würde ich erfahren? Welche Einblicke könnte ich gewinnen? Würde ich alles verstehen? Die Geduld meines himmlischen Lehrers war unendlich, davon war ich überzeugt. Er hatte es mir auch schon bewiesen. An ihm würde es nicht liegen, wenn ich nicht immer folgen könnte. "Also, Ferdinand", sagte ich zu mir, "bereite dich darauf vor: Es gibt noch viel zu lernen."

Viel? Hast du nicht erst vor kurzem von einer Untertreibung angenommen, sie sei die größte, die du je gehört hättest? Wie stufst du deine ein? Und was glaubst du, wann und wo das Lernen aufhört?

"Nur Mut, nur Mut", flüsterte ich vor mich hin.

Da nahm mich ein vor Kraft loderndes Strahlenbündel liebevoll in den Arm. Wir schauten uns lange an, tauschten schweigend unsere Liebe aus. Dann lächelte mein Licht und sagte voller Wärme:

Wenn ich es nicht besser wüßte, könnte ich meinen, du färbst auf mich ab mit deiner Art.

"Wenn ich alles glaube - das nicht! Es wäre nicht gut und ist ja ohnehin nicht möglich. Gott sei Dank. Lieber wäre mir, ich nähme von dir mehr und schneller an ..."

... bleib’ in manchen Dingen aber so, wie du bist. Das macht es dir leichter.

"Das habe ich schon gemerkt. Und es hat mich gefreut, weil meine frühere Ansicht sich als falsch herausgestellt hat. Der Rückweg des verlorenen Sohnes oder der verlorenen Tochter ist nämlich gar nicht so niederdrückend, kompliziert, kräftezehrend, beklemmend und was sonst noch alles, wie er immer dargestellt wird, und wie es die Menschen auch annehmen. Und das Wichtigste: Man ist ja nicht allein!" Ich dachte kurz an die erlösende Kraft Christi im Menschen, in der Er selbst mit einem jeden geht.

"Ich ahne stark, daß der Weg ein Abenteuer sein kann; daß er ein Abenteuer wird oder bereits ist für diejenigen, die sich schon aufgemacht haben. Ich glaube sogar, er kann Freude machen. Weißt du auch, warum?" Zu spät fiel mir ein, daß mein Licht dies bestimmt wußte. Deshalb gab ich mir selbst die Antwort, was vermutlich auch der Sinn der Übung war.

"Weil man freier wird, viel Ballast verliert und eine Perspektive vor Augen hat. Daß es nicht immer einfach ist, für den einen oder anderen sicher sogar ziemlich schwer, scheint mir eine andere Sache zu sein. Aber es geht voran! Ich habe gelernt, daß mir auf dem Weg niemals mehr zugemutet wird, als ich tragen kann. Wie könnte das Gott auch tun, da Er doch die Liebe ist! Und das, was ich dann tragen muß, damit es mich stark macht, trägt Er auch noch mit!

... und Er nimmt dir nichts, wie du es noch vor Jahren geglaubt hast. Er schränkt dich nicht ein, Er verändert dein Umfeld nicht gegen deinen Willen, Er macht dich nicht arm, Er versagt dir deine Freude nicht, Er verbietet dir den Umgang mit deinen Freunden nicht, Er beansprucht keine Zeit, die du Ihm nicht freudig und freiwillig gibst, Er macht dich nicht zu einem Trauerkloß. Nichts von alledem tut Er.

Dafür bestärkt Er dich und hilft dir zu wachsen. Und dann läßt du ohne Zwang, Vorschriften, Verbote oder sonstiges nach und nach von dem ab, was du als "nicht zu einem Kind Gottes passend" erkennst. Bei diesem Loslassen hilft Er dir wiederum [ "Eigentlich hilft Er mir ständig", dachte ich] , denn natürlich sind Kräfte am Werk - deine eigenen und fremde -, die dies verhindern wollen. Doch mit jedem Schritt nach vorn atmest du freier, dein eingeengtes Denken löst langsam die Fesseln, dein Blick hebt sich vom Boden und geht in die Runde und voraus, dein Herz weitet sich und Kräfte über Kräfte strömen dir zu, die dich stark machen für die nächsten Schritte.

Mein Licht hatte sich zwar nicht in eine Begeisterung hineingesteigert, wie mir das ab und zu passierte, aber es sprach jetzt mit beinahe göttlicher Autorität.

Jedem Menschen steht dieser Weg nicht nur offen, jeder muß ihn eines Tages gehen. Es ist ein "Muß", eines der wenigen, die es trotz des freien Willens gibt. Denn der Willensfreiheit der Geschöpfe ist jenes Gesetz übergeordnet, das die Schöpfung erhält und die Rückkehr aller Kinder in die Vollkommenheit vorsieht. Deshalb wird ein jeder den Weg nach Hause gehen müssen.

Nichts anderes, höre gut zu, n i c h t s a n d e r e s als die Liebe zu Gott wird ihn auf diesem Weg voran bringen. Keine Einhaltung der Gesetze, keine Zugehörigkeit zu einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Sekte, keine Bußübungen, kein Übertünchen der Wünsche und Leidenschaften mit den Farben der Lauterkeit und Unschuld kann als Ersatz herhalten. Ebenso kein Asketentum, keine Übungen und Techniken zur Bewußtseinserweiterung, kein gottesfürchtiges Buchstabenerfüllen, nicht die Verkündigung oder das Hören des Wortes, auch kein Studium der Theologie. Nichts davon bringt ihn Gott auch nur einen Millimeter näher. Wenn dies an die Stelle der gelebten Liebe gesetzt und als Voraussetzung, als Notwendigkeit angesehen wird, weil man ihm eine zentrale Bedeutung zumißt, dann fehlt es an grundlegender Erkenntnis. Da nützt es auch nichts, wenn dem geschriebenen und gesprochenen Wort die Liebe vorangestellt wird, weil sie vor Glaube und Hoffnung das Größte ist. Dies mag eine Alibifunktion erfüllen, mehr nicht.

Meine ganze Keckheit, die manchmal durchschimmerte, hatte sich in nichts aufgelöst. Ich hatte das Empfinden, ganz klein geworden zu sein. So hatte ich mein Licht noch nie erlebt. Jetzt also kannte ich auch diese Seite, die mit der Macht und Kraft Gottes sprach.

Fürchte dich nicht, mein Bruder [ das war wieder die alte, vertraute Stimme und die Art, die ich so liebgewonnen hatte] , es gibt keinen Grund dafür.

Und dann ließ mein Licht für einen Augenblick das Bild in mir aufleben, an das ich es selbst erinnert hatte: Der Herr, der Sich zu mir niederbeugte und mich zu Sich emporhob, als ich mich - neugierig und gleichzeitig scheu - bei Seinem Kommen hinter einer Säule niedergekauert und versteckt hatte.

Möchtest du über etwas nachdenken?

Natürlich wollte ich.

Es betrifft einen weiteren Aspekt der Seele, der nicht bekannt ist oder nicht beachtet wird. Kein Gesetzgeber kann darauf verzichten, die Einhaltung seiner Gesetze sicherzustellen. Wie eure Regierungen das handhaben, ist bekannt: Polizei, Staatsanwälte, Richter, Strafen und Inhaftierungen gehören zum System der Gesetzesüberwachung und Strafverfolgung. All das gibt es bei Gott nicht. Heißt das, Seine Gebote können ohne weiteres übertreten werden? Wenn nicht: Wer ist die überwachende Instanz?

Ich wünsche dir eine friedvolle Zeit. Bis bald.

Einem PS am Fuße eines Briefes gleich folgte noch der Hinweis:

Die Hälfte der Lösung habe ich dir bereits verraten.