Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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9.

Ich schlief am nächsten Morgen aus, schließlich hatte ich Urlaub. Ausschlafen hieß für mich aber nicht, erst am Vormittag aus den Federn zu steigen, sondern ohne Reisewecker durch die Geräusche der erwachenden Natur und durch die ersten Lebenszeichen im Haus sanft und nach und nach aus dem Schlaf in den morgendlichen Tag zurückzukehren. Meine Gedanken gingen noch einmal zurück zu unserer nächtlichen Unterhaltung; dann dankte ich für die Ruhe und Erholung der Nacht und legte meinen neuen Tag in Seine Hände, ehe ich mich erhob.

Frau Jakobs begrüßte mich unten im Flur und zeigte mir den Tisch, den sie für mich vorgesehen hatte. Ein älterer Herr mit weißem, gewelltem Haar und einer dunklen Hornbrille saß bereits dort. Ich schätzte ihn auf etwa 70 Jahre; er war fülliger als ich, und als er aufstand, um mich zu begrüßen, stellte ich fest, daß er mich um einiges überragte. Wir stellten uns vor - Viktor Gabliczek war sein Name - und widmeten uns dann einem reichhaltigen Frühstück. Er kam aus Coburg, hatte schon fast zwei Wochen Urlaub hinter sich und würde übermorgen wieder abreisen. Er erzählte mir von den Ausflugszielen in der näheren und weiteren Umgebung, die zu besuchen sich lohnen würden, und natürlich spielten die Wetteraussichten für die nächsten Tage ebenfalls eine Rolle in unserer Unterhaltung. Ich hatte mir für den Tag noch nichts Besonderes vorgenommen, vielleicht einen größeren Spaziergang in das nahegelegene Mühlental mit einem Abstecher zu einer alten Hügelgrabstätte. Ich war nicht festgelegt, es würde sich ergeben.

Neben dem Frühstücksteller meines Tischnachbarn lag ein Kalenderblatt, das er mir auf meine Bitte hin reichte. "Das ist so eine Angewohnheit der Wirtin. Ich habe mich bei einem meiner früheren Aufenthalte mal für ihren Kalender interessiert, der viele gute Sinnsprüche enthielt. Jetzt legt sie mir, sozusagen als kleine Aufmerksamkeit, jeden Morgen das Kalenderblatt vom vorigen Tag neben mein Frühstück."

"Das finde ich aber lieb von ihr." Ich las das kleine Gedicht, das keinen Hinweis auf seinen Verfasser trug:

Der Frühling ist zwar schön, doch wenn der Herbst nicht wär;

wär zwar das Auge satt, der Magen aber leer.

"Das gefällt mir, da steckt ja eine Menge Weisheit drin." Das schien ihn zu überraschen.

"Wie kommen Sie darauf?" Das wiederum erstaunte mich ein wenig; nicht die Frage als solche, sondern daß er überhaupt auf meine Bemerkung eingegangen war. "Normalerweise", dachte ich, "sagt man: ‘ja, ja’ oder sonst irgend etwas Unverbindliches."

"Ich weiß auch nicht, warum ich damit eine andere Vorstellung verbunden habe. Mir kam gerade die Idee, daß sich dieser Spruch ganz gut auf das Leben anwenden ließe."

Er langte nach der Milch. "Sie meinen auf ein Menschenleben, nicht auf das Leben schlechthin?"

Ich las mir das kleine Gedicht noch einmal durch. "Wenn man die Natur betrachtet, so stellt man nicht nur eine gewisse, sondern eine nicht zu übertreffende Ordnung fest. Alles erfüllt seine Aufgabe. Man wird es nie erleben, daß z.B. ein Apfelbaum - sofern er dies könnte -", schränkte ich ein, "seine Blütezeit Tag um Tag und Woche um Woche künstlich verlängert, nur um besonders attraktiv zu erscheinen. Täte er es, dann stünde er im Herbst mit verwelkten Blüten und leeren Händen, Entschuldigung: Zweigen da. Alle würden ihn auslachen und einen Dummkopf schimpfen."

Viktor Gabliczek hörte mir aufmerksam zu, fast schien es mir, als fragte er sich: "Wen habe ich denn da als Tischnachbarn bekommen?"

"Da ging mir durch den Kopf, daß der Mensch, die Krone der Schöpfung, sich oft viel dümmer benimmt als die Natur, die ihm ja dient. Nur daß die Menschen sich nicht gegenseitig auslachen, sondern sich eher darin bestärken, ihre Reifung zugunsten einer möglichst langen Blüte doch zurückzustellen. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß der Mensch seinen freien Willen einsetzt, während das die Natur nicht tut, weil sie einen freien Willen nicht mitbekommen hat."

Er sah mich zweifelnd an. "Sie glauben, daß der Mensch einen freien Willen hat?"

"Ich meine, sein freier Wille ist es, der es ihm ermöglicht, sich über die Gesetze hinwegzusetzen, die die Natur beachtet." Ich las, halblaut, noch einmal den Text: " ‘... doch wenn der Herbst nicht wär, wär zwar das Auge satt, der Magen aber leer’. Der Herbst kommt für jeden von uns einmal. Vielleicht hat das Gedicht deshalb in mir etwas angerührt, weil ich schon mitten im Herbst stehe - mit meinen beinahe 56 Jahren."

"Was soll ich da sagen", antwortete er lachend, "mit meinen beinahe 70 Jahren?" Ich hatte ganz gut geschätzt. Ich wagte einen Vorstoß.

"Irgendwann zu Beginn meines Herbstes hatte ich die Idee, daß ich drei Rätsel lösen müßte, bevor eines Tages der Winter vor der Tür steht."

Ich machte eine kleine Pause, in der er die Frage stellte:

"Darf man wissen, was das für drei Fragen sind, die Sie sich gestellt haben? Oder ist das zu persönlich, dann bitte ich um Entschuldigung." Er trank seinen letzten Schluck Kaffee. "Ich frage das deshalb, weil mich unsere kleine Unterhaltung an frühere Zeiten erinnert. Da habe ich gerne ein wenig philosophiert."

"Es sind die drei Rätselfragen, die vermutlich im Laufe der Weltgeschichte am meisten gestellt wurden ..."

"Jetzt wird’s aber spannend."

" ..wo kommt der Mensch her? Warum ist er hier? Wo geht er hin?"

Ob es nicht doch ein bißchen früh dafür war? Und ein bißchen viel? Andererseits - ich hatte nicht den Eindruck, als hätte ich mich aufgedrängt. Durch seine Aufmerksamkeit hatte sich das so ergeben. Wir waren inzwischen die einzigen, die noch am Frühstückstisch saßen. Die drei weiteren Gäste - ein Ehepaar mit Kind - hatten sich schon verabschiedet.

Es war anscheinend weder zu früh noch zu viel, denn er wollte noch etwas wissen. "Und? Haben Sie die Antworten gefunden?"

Ich überlegte für einen Augenblick, ob echtes Interesse dahinter stand. Irgendwie schien er mich nicht richtig einschätzen zu können. "Jetzt fehlt nur noch, daß er mich fragt, wer ich bin", ging es mir durch den Kopf, "dann weiß ich mit Sicherheit, daß ich einen Fehler gemacht habe." Er tat es nicht.

"Ich glaube, ja", entgegnete ich, "soweit ich sie finden konnte. Mir haben sie geholfen, auch wenn sie sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluß sind."

Damit war es genug, beschloß ich. Er war wohl der gleichen Meinung. Wir verabschiedeten uns voneinander, wünschten uns einen guten Tag. Er ging auf sein Zimmer, während ich mir noch die Tageszeitung vom Nachbartisch holte, um dabei in Ruhe meine letzte Tasse Kaffee zu trinken. Da fiel mir nochmals meine Antwort auf seine letzte Frage ein, und ich sprach ins Unsichtbare hinein:

"War das auch eine Untertreibung?" .

Absolut nicht. Das war korrekt. So kann man’s lassen.

Frau Jakobs hatte inzwischen damit begonnen, das Geschirr abzuräumen.

"Wie geht es Ihnen, Herr Frei?" Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: "Sind sie mit dem Herrn Gabliczek schon ein bißchen bekanntgeworden? Ist ja auch kein Problem bei ihm. Wenn man mit einem Pfarrer nicht auskommt ...!"

*

Heute war Sonntag, was dem kleinen Ort eine zusätzliche Ruhe bescherte, falls dies überhaupt möglich war. Ich machte den Spaziergang, den ich ins Auge gefaßt hatte. Er weitete sich zu einer mittelgroßen Wandertour aus. Morgen früh würde ich sicher den einen oder anderen Muskel spüren, aber das würde nicht schaden. Ab und zu tat es mir gut, wenn ich mich körperlich forderte; meine Hüfte machte mühelos mit.

Unterwegs begegneten mir einige Radfahrer, die auf ihren Rennrädern ein ziemliches Tempo fuhren. Ich schaute ihnen eine Weile nach, weil sie in mir eine Assoziation ausgelöst hatten. Ich dachte an die Belehrungen des Lichtes über die Tagesenergie und war wieder einmal erstaunt, daß man auch aus anscheinend unbedeutenden, kleinen Ereignissen eine Erkenntnis ziehen kann. Sturzhelm, Trinkflasche und was sonst noch dazu gehört hatten eine Gedankenverbindung zu Aspekten unseres nächtlichen Gespräches hergestellt.

Konnte man sich einen Sportler vorstellen, der sich eine Ausrüstung besorgt und darauf hofft, ohne zu trainieren oder sogar ohne loszufahren zur rechten Zeit ins Ziel zu kommen?

Mir kamen die Worte des Lichtes über Bußübungen, Techniken, Buchstabenerfüllung, Theologiestudium und mehr in den Sinn. Für die Radfahrer war ihre Ausrüstung Ergänzung, niemals aber Ersatz für das eigene Bemühen. Da wurden nicht die Gewichtigkeiten vertauscht. Es war eine genügend große Motivation vorhanden, um fleißig in die Pedale zu treten. Ich stellte mir vor, wie ich mit einem nagelneuen Trikot und einer Top-Rennmaschine am Straßenrand stände und darauf wartete, daß mich nun mein Glaube allein zum Sieg führen würde - und mußte innerlich lachen über das Bild.

Doch es enthielt auch eine Mahnung, die ich mir zu Herzen nehmen wollte: Wachsam zu sein und auf meine Toleranz zu achten, wenn ich jemanden am Straßenrand stehen sähe. Wußte ich denn, ob er nicht ein fleißiger Fahrer war, der nur für ein paar Minuten eine kleine Pause einlegte? Stand sie ihm nicht zu? Hatte ich nicht selbst viele, viele Jahre ausgedehnter Pausen hinter mir ...?

Wie präzise die Energie des Tages doch arbeitet. Wie hatte mein Licht gesagt? Was du benötigst ist dein Bemühen. Den Rest steuert dein Tag bei. Und dann vergiß nicht: Gebrauche deinen ...

Das rechte Wort oder die rechte Begegnung zur rechten Zeit am rechten Ort! Und dann noch ein rechtes Augenmerk darauf haben und die rechten Schlüsse daraus ziehen und, wenn nötig, die rechten Entscheidungen treffen. Dies richtig zu lernen und es eines Tages zu können, war mein Wunsch. In Verbindung mit der Liebe, die unsichtbar die Wege bereitet, müßte das die optimale Führung sein.

Es ist nur ein Teil davon; die Führung selbst ist viel umfassender. Sie i s t so optimal und so präzise, wie du annimmst. Wer sich ihr anvertraut, gelangt auf einem sicheren Weg zum Ziel. Oder er hat - wie würdest du sagen? - ausgesorgt.

*

Mein Abendessen nahm ich wieder in der "Linde" ein und schaute dann in meiner Pension noch in das kleine Nebenzimmer, in dem das Ehepaar Karten spielte und mein Tischnachbar in ein Buch vertieft war. Er blickte auf, als ich eintrat, und begrüßte mich. Wir tauschten ein paar Worte über den hinter uns liegenden Tag aus. Mein Blick fiel auf das Buch, das er an die Seite gelegt hatte. Er bemerkte es. "Interessiert Sie Luther?"

"Ich habe mich noch nicht viel mit ihm beschäftigt. Allerdings habe ich mir in der letzten Zeit meine Gedanken über Aspekte gemacht, die wohl auch mit ihm zusammenhängen. Einige religiöse Fragen haben angefangen, mich zu interessieren."

"So etwas Ähnliches habe ich mir heute morgen schon gedacht." Er überlegte einen Moment. "Ich habe das Buch ausgelesen, für mich war sowieso nicht viel Neues darin. Mich hat nicht die Darstellung der Lehre interessiert, sondern mehr die Person Luthers und sein Charakter, was ihn bewegt, man kann fast sagen getrieben hat. Wissen Sie, ich bin pensionierter Pfarrer ..."

"Evangelischer, vermute ich."

"Richtig. Mit fast 70 setzt man sich mit der Lehre nicht mehr auseinander. Außerdem gab es für mich nie viel, mit dem ich mich auseinanderzusetzen hatte." Er brach ab, weil ihm bewußt wurde, daß er dabei war, einem Fremden Einblicke in sein Innenleben zu gewähren. Das mußte wohl nicht sein. "Wenn Sie das Buch interessiert ...?"

Ich war einen Moment unschlüssig. Sollte ich? Sollte ich nicht? Ich hatte selbst einiges zu lesen dabei.

"Ich könnte es Ihnen sowieso nur bis morgen Abend überlassen, dann fahre ich wieder heim."

Das gab den Ausschlag. Ich könnte es mir morgen durchschauen, alles mußte ich ja nicht lesen, aber einen Überblick würde es mir vielleicht vermitteln. Er hielt mir das Buch hin. "Also, wenn Sie wollen ..."

Ich nahm das Buch dankend an1) und verabschiedete mich von ihm und den anderen Pensionsgästen.

Dann allerdings war ich so müde, daß ich nach dem Vorwort einschlief.

Mein Schlaf war tief und lang, so daß ich der letzte und einzige Gast beim Frühstück war. Für heute stand ein laut Prospekt idyllisch gelegener See auf meinem Programm, den ich in zwei Stunden zu erreichen hoffte. Ich schaffte es gut. Der See lag tatsächlich so malerisch in einer Senke, wie es der Fremdenverkehrsverein angepriesen hatte. Eine Bank unter einem mächtigen Baum bot einladend Platz. Ich ließ mich dort nieder und erfreute mich erst einmal an allem, was ich sah. Schließlich holte ich aus meiner Umhängetasche die Luther-Biographie und begann, mich in Leben und Lehre des Augustinermönchs und späteren Reformators zu vertiefen.

Es wurde doch mehr als ein Überfliegen daraus. Ich lernte einen Mann auf der Suche nach der Gerechtigkeit Gottes kennen, der sich seiner eigenen Fehler und Schwächen überdeutlich bewußt war. Wie sollte sich, das war seine Überzeugung, der gefallene Mensch anders als schlecht erweisen? Wie sollte dieser Schwächling jemals aus eigener Kraft in der Lage sein, rechtschaffene Werke zu vollbringen?

Lucien Febvre schrieb: "Er entwickelte ein intensives Gefühl von der Kraft, der Heftigkeit und der tragischen Größe der Sünde. Das war nichts Angelerntes, sondern eine alltägliche Erfahrung ... Niemand konnte verhindern, daß sie alle Menschen, auch die, die ihr am eifrigsten widerstanden und sie am weitesten von sich wiesen, mit einer ungeheuren Arroganz beherrschte. Doch zugleich entdeckte Luther in sich auch ein intensives und genauso persönliches Gefühl von der unerreichbaren, unermeßlichen Heiligkeit Gottes, der völlig souverän über das Schicksal der Kreaturen verfügte, denen er - aus für den Menschen unbegreiflichen Gründen - entweder das ewige Leben oder den ewigen Tod vorherbestimmt hatte. Luther wollte errettet werden ... Aber er wußte auch, daß jedes noch so heftige Bemühen, dieses Seelenheil zu verdienen, vergeblich sein würde; weder ihm noch irgend jemand sonst auf dieser Erde würde es je gelingen - niemals ..."

Luther war zu der Auffassung gekommen, daß jeder Kampf vergeblich sei, weil die Begierden unbesiegbar waren. Die Sünde sei nicht bloß eine Schwäche, die der Mensch mit äußeren Mitteln überwinden kann, sondern eine schreckliche, grenzenlose Macht, die den Menschen auf ewig von seinem Schöpfer trennt.

Das klösterliche Leben hatte ihm keinen Frieden verschafft, nicht die Übungen, das Fasten, die Gesänge in der Kapelle, nicht die vorgeschriebenen Gebete und Meditationen. "Gegenüber seiner ungestümen, nach Zwängen lechzenden Seele, die sich nach göttlicher Liebe und unerschütterlichen Gewißheiten sehnte, blieb die Mechanik der Frömmigkeit wirkungslos."

Er fand zunächst tastend, dann immer deutlicher erkennbar einen Weg, wie er all den Schrecken, den Qualen und Angstzuständen entkommen konnte, die ihn verzehrten. Statt seinen Willen zu überfordern, könnte er sich als Christ auch dem Willen Gottes unterwerfen; dann "brauchte er nicht mehr vergeblich der Hölle zu entfliehen suchen, sondern im Gegenteil bereit sein, sie als tausendfach verdient zu akzeptieren; statt zu kämpfen und am Ende doch zu unterliegen, könnte er sich unter die schützenden ‘Fittiche der Henne’ begeben und das ihm Fehlende von der göttlichen Allmacht als Geschenk erflehen, um auf diese Weise endlich Trost und Frieden zu finden." Der Mensch mußte sich zu Gott in seinem Glauben bekennen und auf Seine Gnade vertrauen. Mehr blieb ihm nicht zu tun; mehr konnte er nicht tun.1)

Denn zwischen der Heiligkeit Gottes, das war Luthers Ansicht, und der Verworfenheit der Kreatur gähnte ein unendlich breiter Abgrund. "Gott allein kann den Abgrund überwinden, indem er sich dem Menschen zuwendet und ihn mit seiner helfenden Liebe umfängt. Diese Liebe durchdringt die Kreatur, spendet ihr neues Leben und bringt sie ihrem Schöpfer näher."

Das genügte mir für den Anfang. Es reichte mir auch deshalb aus, weil ich im letzten Satz eine, wenn auch vielleicht nur vorläufige Antwort auf eine ungestellte Frage gefunden hatte. In diesem Punkt mußte Luther sich entscheidend geirrt haben - wobei mir klar war, daß das Gelesene nicht Originalton Luther war, sondern die Formulierung des Autors.

"Luthers Verkennung bestand darin", sagte ich mir, "ausschließlich das eigene Bemühen, mit dem er oft genug gescheitert ist, als Voraussetzung dafür anzusehen, Gott näherzukommen. Aus diesem Mißlingen abzuleiten, daß es des eigenen Bemühens gar nicht bedarf, ist ein gewaltiger Trugschluß. Er hat dazu geführt, daß die sich herausbildende neue Bewegung, die erst später zur Kirche wurde, keine wirkliche Alternative zur römischen wurde. Im Grunde genommen ist es eine Pseudo-Reform gewesen, durch die alte, verfälschte Lehren durch neue, auch nicht richtigere Lehren ersetzt wurden."

Ich wurde in meinem Gedankengang durch ein Rotkehlchen unterbrochen, das sich auf die Rückenlehne der Bank gesetzt hatte, mir ein kleines Liedchen zwitscherte und dann wieder davonflog.

"Luther hat die erlösende Kraft Christi im Menschen nicht erkannt", ging es beinahe wie von selbst in meinen Gedanken weiter. (War ich nicht allein? Natürlich nicht.) "Recht hat er mit der Annahme, daß der Mensch aus eigener Kraft die Rückkehr nicht vollbringen kann. Dazu hat er sich zu weit von der Liebe entfernt. Aber hat Luther nicht die Erlöserkraft mit einbezogen in seine tägliche Arbeit? Hat er vielleicht gar nicht um die Erlöserkraft gewußt? Das konnte aber auch nicht sein, redet doch die Bibel davon, daß ‘Christus die Menschen mit Seinem Blut erlöst hat’. Hat er diesen Aspekt nicht oder falsch verstanden? Wer hat ihn religiös erzogen oder geprägt? Nicht zu vergessen: Luther war Katholik, wenigstens viele Jahre lang. Hat man dort um den Erlöserfunken und seine Bedeutung gewußt? Weiß man es heute?"

Eines stand für mich fest: Die Erlösung, die sich auf Golgatha vollzog, war etwas ganz Reales, etwas, das man erklären konnte. Jesus Christus hat für alle Menschen und Seelen den Himmel wieder geöffnet, der bis dahin verschlossen war. Durch das Tor hindurchgehen aber muß jeder selbst. Die ihm seit der Erlösung innewohnende Liebekraft Christi hilft ihm dabei. Hineingetragen in den Himmel wird keiner, denn Gott beachtet den freien Willen.

"Hier liegt der Denkfehler Luthers", flocht ich in meine eigenen Gedanken ein, "der auf Grund der eigenen Schwäche schlicht und einfach den freien Willen leugnete", wie ich es in dem Buch gelesen hatte. Er verkündete, daß alles, was dem Menschen zustößt (auch sein Seelenheil) nur die Folge einer absoluten, souveränen und unwiderstehlichen Ursache ist, die Gott heißt.

"Aha", dachte ich, "deshalb wohl auch die Frage am Frühstückstisch, ob ich an die Willensfreiheit glaube."

Wer wird mit Sicherheit sagen können, wo die Ursachen für Luthers Unfähigkeit lagen, sich selbst lieben zu können, und zwar mitsamt seinen Fehlern und Schwächen? Nicht seine Fehler und Schwächen! Nein, sich lieben zu können trotz der Unvollkommenheit, die ja in dieser gravierenden Form nur eine vorübergehende Erscheinung darstellt, wenn der Mensch sie gemeinsam mit Christus bearbeitet und nach und nach wandelt. Daß der Mensch Vollkommenheit auf Erden nicht erreichen kann, steht auf einem anderen Blatt. Das heißt aber nicht, daß er so unvollkommen, wie er ist, auch bleiben muß. Es widerspräche vehement der Aufforderung Jesu, Ihm nachzufolgen. Schon ein rechtes Bemühen darum muß die ersten Ecken und Kanten glätten, die Spitzen brechen und die gröbsten Löcher füllen. Was würde erst eine wirklich ernstgemeinte Nachfolge bewirken können, ja müssen?

Es wäre sicher müßig, im nachhinein über die Gründe zu spekulieren, die für das Fehlen einer echten Beziehung zwischen dem Kind (Mensch) und dem Vater (Gott) verantwortlich waren. Fest steht dagegen, daß Luther mit inneren Kämpfen und mit seinem Bild von einem Gott, dem er sich nicht anders zu nähern wußte als mit dem Ruf: "Aus tiefer Not schrei ich zu dir", nicht allein war in Deutschland. Unzählige Menschen, die sich im Verlauf der nächsten Jahre und dann unzählige Millionen in den nächsten Jahrhunderten seiner Vorstellung anschlossen, müssen ähnlich empfunden und von der Liebekraft Christi im Menschen (Ich Bin euch näher als eure Arme und Beine) nichts gewußt haben. Heute noch nicht. Würden sie es glauben, wenn man es ihnen sagte? Sie hatten (und haben) anstelle von Begeisterung und Aufbruchsstimmung ihr Unvermögen, ihre Hilflosigkeit und immer wieder ihr Scheitern vor Augen, so daß sie für ihre Rettung keinen anderen Ausweg mehr sahen, als sich ratlos und ohnmächtig einer völlig unbegreiflichen Macht und ihrer scheinbaren Willkür zu unterwerfen. Geschah dies aus Demut? War dies eine Hingabe aus Liebe? Begab sich das Kind freudig in die Arme des Vaters, weil es darin sein höchstes Glück erkannte? Kann man überhaupt "Liebe" empfinden und denken, wenn einen Schmerz und Ohnmacht beherrschen?

Ich knüpfte an meinen früheren Gedanken an. "Die Entscheidung, Gott näherzukommen, wird von Ihm unterstützt, und zwar in einem Maße, das über unser Verstehen geht. Eines aber setzt mein Wunsch, zu Ihm zurückkehren zu wollen, voraus ...", jetzt hatte ich den Punkt klar vor Augen, "er setzt voraus, daß dies aus Liebe zu Ihm geschieht."

Ich konnte und wollte mir keine Meinung darüber bilden (und würde es auch nicht tun, denn schon war eine Warnlampe in meinem Inneren angegangen!), ob die Liebe bei Luther der innere Antrieb war. Nur eines wußte ich inzwischen: Angst, Minderwertigkeitskomplexe, Schuldgefühle, Liebe heischen durch ein Sich-selber-klein-machen und manches mehr waren keine Beweggründe, die der Himmel freudig unterstützt - wohl dagegen die Hingabe an die ewige Liebe durch die erwachende Liebe im Menschen. Dann war tausendfältige Kraft da, die das eigene Bemühen zu einem Bemühen der Liebegemeinschaft "Gott und Mensch" macht.

"Diese Liebe durchdringt die Kreatur, spendet ihr neues Leben und bringt sie ihrem Schöpfer näher", hatte ich gelesen und darin den Fehler gefunden. Das war er: Nicht die Liebe des Schöpfers bringt die Kreatur ihrem Schöpfer näher, sondern die Liebe der Kreatur zu ihrem Schöpfer. Denn die Liebe des Schöpfers ist schon da; die Liebe der Kreatur dagegen muß erst noch entwickelt werden.

Ich hatte knapp die Hälfte des Buches gelesen, als sich die ersten Wolken vor die Sonne schoben. Das hätte mich nicht weiter gestört, doch ich war - in tiefem Vertrauen auf die Wettervorhersage - ohne Schirm losmarschiert. Ein paar Wolken mußten nichts heißen; morgen konnte die Sonne schon wieder scheinen und die Vorausschau der Wetterfrösche bestätigen. Vorsichtshalber aber machte ich mich auf den Heimweg, während der Himmel sich mehr und mehr bezog. Es blieb aber trocken.

Dreiviertel meines Heimwegs hatte ich zurückgelegt, als ich auf Viktor Gabliczek traf, der von einem Spaziergang heimkehrte. Es war selbstverständlich, daß wir miteinander gingen: Er mit großen, weit ausgreifenden Schritten, ich fast ebenso munter, nur heute ein wenig hinkend. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt, wobei ich mich nicht mehr so weit vorwagte wie gestern morgen. Er kam auch auf das morgendliche Gespräch nicht mehr zurück. Dafür fragte er mich, wie weit ich mit dem Luther-Buch gekommen sei. Ich klopfte auf meine Tasche.

"Da ist es drin. Ungefähr die Hälfte habe ich durch. Wenn ich es heute abend noch behalten darf, kann ich den Rest lesen. Ich gebe es Ihnen dann morgen früh zurück."

Das war möglich. Wir gingen ein paar Schritte schweigend miteinander, dann fragte er:

"Haben Sie etwas darin gefunden? Ich meine, etwas das Ihr Interesse geweckt hat?"

"Mich hat der Kampf interessiert, den Luther in erster Linie mit seinem sündhaften Menschen geführt hat, auch die Folgerungen, die er daraus abgeleitet hat", antwortete ich. "Doch ich weiß nicht ... Hätte man nicht auch andere Schlüsse ziehen können?"

"Welche beispielsweise? Denken Sie an etwas Besonderes?"

"Daß man vielleicht etwas falsch gemacht hat, wenn man sich erfolglos allein bemüht."

Das überraschte ihn ein wenig. "Was kann man falsch machen, wenn man so wie Luther ringt? Dann hätten ja alle etwas falsch gemacht, die wie er sich mühen und mühen."

" ... und dabei oftmals an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln."

"Das kann passieren", gab er zu, "wir sind schwache Menschen."

Ich entschied mich dafür, dieses Thema nicht weiter zu behandeln. Er würde nicht verstehen, was ich meinte. Selbst einer vorsichtigen und einfachen Wortwahl würden Jahrzehnte einer theologischen Praxis gegenüberstehen, die sich in sein Denken so tief eingeprägt hatte wie Wagenspuren in einen Waldweg. Doch vielleicht konnte ich ihm aus meinem Herzen etwas mitgeben?

"Ich glaube an die große Liebe Gottes zu uns Menschen." Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß Viktor Gabliczek zustimmend nickte. "Aber ich glaube auch - und in dem Punkt unterscheiden wir uns vermutlich - an die große Liebesfähigkeit des Menschen Gott gegenüber. Nicht aus eigener Kraft heraus, aber aus eigener Entscheidung, die von Gott gefördert, unterstützt und in der Folge ... Sie würden vielleicht sagen: gesegnet wird."

"Glauben Sie denn", meinte er, "Gott sei auf die Liebe der Menschen angewiesen?"

War da eine Spur Dialektik drin? Ich wußte es noch nicht.

"Nein, das glaube ich nicht. Wir sind auf Seine angewiesen ..."

" ... wie Luther richtig erkannt hat", unterbrach er mich kurz.

"Ja, aber das war vielleicht nicht alles." Jetzt ging ich ganz kurz in die Offensive, liebevoll, wie ich mir vornahm, um dann das Thema abzuschließen. "Ich weiß in meinem Inneren, daß Gott ein Ziel für uns vorgesehen hat: Daß wir nämlich die in uns schlummernde Liebesfähigkeit wieder zu wecken beginnen, und zwar hier auf Erden, nach Möglichkeit noch in diesem Leben. [ Hoffentlich war das nicht zuviel.] Aber nicht Seinetwegen, weil Er das braucht. Nein, unsertwegen, damit wir wieder das werden, was wir einmal waren."

Entweder gab ihm das zu denken, oder er sah ein, daß ich für kirchen-religiöse Anstöße nicht aufnahmefähig genug war. Auf jeden Fall sagten wir beide eine Weile gar nichts; aber es war nichts Angespanntes in der Situation. Jeder hing nur seinen Gedanken nach. Als das Dorf und dann schließlich unsere Pension in Sichtweite kamen, wechselten wir noch ein paar freundliche Worte und verabschiedeten uns. Ich ging in meine "Linde", um etwas Kräftiges zu Abend zu essen. Mir war danach.

Später im Bett nahm ich das Buch noch einmal zur Hand. Ich war wohl auf das meiste, das ich brauchte, gestoßen, denn viel fand ich nicht mehr, das für mich wichtig war. Etwas fiel mir noch auf: Immer wieder war davon die Rede, daß Luther vom "Wort" sprach. Im Laufe der Jahre hatte sich aber seine Ansicht, was darunter zu verstehen war, gewandelt. "Der Glauben darf nie einem Buchstaben unterworfen werden ...", las ich. "Der Glauben ist allen Texten überlegen ... Der Glauben beruft sich unmittelbar auf das WORT, und das WORT ist nicht die Schrift ..."

(Wieder fiel mir auf, daß der Glaube den Mittelpunkt bildete, obwohl Jesus von Nazareth gelehrt hatte: "Das Größte aber ist die Liebe.")

" ... Ich selbst, meinte er, muß hören, was Gott mir zu sagen hat. Wie aber hört man Gott? Indem man mit seinem Verstand einem Credo, einer dogmatischen Lehre zustimmt? Was für ein Unsinn! Man kann zwar das Wort predigen, aber niemand außer Gott allein kann es in die Herzen der Menschen einpflanzen."

Das war Luthers Wunsch, Vorstellung, Überzeugung oder Ziel, wie auch immer: " ... daß der Christ das lebendige WORT in seinem Herzen erfährt." So etwas zu unterschreiben, dazu wäre ich sofort bereit.

In späterer Zeit stellte er seine frühere Kühnheit zwar nicht offen in Frage, "aber er ließ sie nun wie ein vorsichtiger Bürger auf sich beruhen. Stattdessen wurde nun das WORT wieder mit dem Buchstaben identisch, was äußerst folgenreich war. Bald tat er sogar noch einen Schritt weiter, indem er meinte, daß kein einziger Buchstabe unnütz überliefert sei und erst recht kein einziges Wort".

Statt eines Papstes aus Fleisch und Blut", schrieb Febvre weiter, "begann damit allmählich ein Papst aus Papier seinen sterilen Schatten über den neuen Glauben zu werfen".

" ... der heute leider nicht weniger lichtdurchlässig ist als damals", dachte ich. "Dabei waren die Ansätze für einen Neuanfang ohne die Belastungen, die Rom in beinahe 1500 Jahren geschaffen hatte, vorhanden." Was war im Geistigen passiert? Ob die Aufklärung darüber mit zu dem Thema "Licht und Finsternis" gehörte, von dem mein Licht gesprochen hatte?

Ich war müde geworden, löschte das Licht und schickte meine Liebegedanken nach innen. Während des Einschlafens fiel mir auf einmal ein, daß ich doch daran denken sollte und wollte, wo, wer oder was wohl die überwachende Instanz beim Menschen ist, die die Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung sicherstellt. "Das hat Zeit", murmelte ich unhörbar, "für heute hat mir’s ohnehin gereicht." Das Puzzle nahm eine gewisse Form an ...

Ich segne deinen Schlaf, mein Bruder, und bin bei dir.

*

Viktor Gabliczek kam vor mir die Treppe herunter. Er hatte seine Koffer schon gepackt und war in Abschiedsstimmung. Die Urlaubstage hatte er genossen, jetzt freute er sich wieder auf zu Hause. Wir frühstückten noch miteinander und unterhielten uns dabei nett und unverbindlich. Sein Buch gab ich ihm dankend zurück, er nahm es dankend an. Wir sprachen ein bißchen über meine Vorhaben während der noch verbleibenden Urlaubstage, er nannte mir drei oder vier Ziele, die auch eine längere Wanderung lohnten, dann verabschiedeten wir uns voneinander und wünschten uns eine gute Zeit.

Ich schaute ihm nach, bis er die Hauptstraße erreicht hatte und links abbog. "Ein Bruder aus dem Licht", dachte ich, "noch gehen wir auf verschiedenen Straßen." Aber das schien mir auf einmal nicht mehr so entscheidend, denn es schob sich ein Bild vor meine Augen. Ich sah ein riesiges Tal vor mir, das übersät war mit Wegweisern verschiedenster Art. Menschen kamen und gingen, hielten sich auf, sprachen miteinander; kurzum, es herrschte ein reges Leben. Mich interessierten die Aufschriften und Hinweise, also trat ich näher heran - und war überrascht. Es waren die Wegweiser der verschiedenen Weltreligionen mit ihren unzähligen Unterorganisationen und Absplitterungen, auch kleine, selbständige Gruppierungen hatten ihre Schilder. Manche trugen zusätzlich Symbole, wie z.B. unterschiedliche Kreuzesformen, eine Lotusblume, eine Bibel, einen Halbmond, einen Davidsstern, Leuchter und manches mehr. Gruppen von Menschen wurden herangebracht und meist sofort zu einer der Hinweistafeln geführt.

Die allermeisten Aufschriften trugen außer dem Namen der Kirche oder Organisation den kleinen Zusatz "zum Himmel" oder "ins Land der Liebe", manche auch die Ergänzung "zum Berg der Erleuchtung und der Meisterschaft". Ich war neugierig geworden und suchte mir irgendeinen der Wege aus, ging ihn einige hundert Meter und mußte, als ich um die erste Biegung kam, verblüfft feststellen, daß ein großer Teil der Wanderer es sich bequem gemacht hatte. Sie standen, saßen oder lagen in Gruppen beieinander, unterhielten sich und waren anscheinend der Meinung, den Hauptteil der Wegstrecke schon geschafft zu haben. Diese Ansicht vertraten sie tatsächlich, wie sich auf meine entsprechende Frage herausstellte.

"Aber ihr seid doch kaum losmarschiert." Ich schaute sie verständnislos an. "Schaut doch mal um die Ecke dort, und ihr könnt den Wegweiser noch sehn! Ihr haltet euch ja praktisch noch in seinem Einflußbereich oder Dunstkreis, oder wie ihr wollt, auf."

"Das reicht. Man hat uns gesagt, den Rest erledigen unsere Reiseleiter."

"Und das Land der Liebe, in das ihr wolltet? Deshalb seid ihr doch mit dieser Gruppe gegangen!" Ich muß ziemlich dumm geguckt haben bei meiner Frage, weil mich geringschätzige Blicke trafen.

Hier und da war ein Schulterzucken die Antwort; einige sagten, sie hätten es sich schon gut überlegt und nannten mir ihre Gründe; manche meinten, man hätte sie einfach in diese Gruppe geschoben, und da wären sie halt drin geblieben.

"Und wenn man euch in eine andere Gruppe geschoben hätte? Was dann?"

Einer von ihnen übernahm es, die Antwort zu geben, mit der die meisten anscheinend einverstanden waren, denn es erhob sich kaum Widerspruch.

"Was soll dann gewesen sein? Dann wären wir in einer anderen Gruppe mitgelaufen; wir hatten doch keine Wahl."

"Nicht ganz", warf einer ein, "einige gab es schon, die haben die Abteilung gewechselt und marschieren jetzt einen anderen Weg."

"Und warum haben sie das getan?" Ich war ehrlich neugierig. "Haben sie die Wegbeschreibungen miteinander verglichen, oder sich nach einer klaren Definition des Zieles erkundigt? Oder warum sind sie einen anderen Weg gegangen? Weiß das jemand?"

"Also, ich kenne einen, dem hat der Reiseleiter nicht gepaßt", meinte einer. Und ein anderer rief: "Ich weiß von einem, der hat gesagt: ‘Da drüben scheint’s einfacher zu sein’." Noch einer ließ sich vernehmen: "Ich kann ja nur für mich selbst sprechen. Beinahe hätte ich mir’s auch überlegt. Die haben alle eine schöne Wandertracht bekommen, viel schöner als meine oder unsere. Aber dann hab’s ich doch gelassen." Er schaute in die Runde. "Ich habe so viele Bekannte hier."

Da erst fiel mir auf, daß sie alle ein mehr oder weniger gleiches Gewand trugen, dem aber jeder seine individuellen Accessoires hinzugefügt hatte. Sie bemerkten meinen Blick. "Das hat nichts zu sagen, das ist erlaubt; darauf achtet auch keiner. Nur wenn man sich von der Gruppe entfernen will, das sieht man nicht so gerne. Aber sonst kann man eigentlich fast alles machen, was man will."

"Manchmal", kicherte eine ältere Dame, "kommen ja welche, die versuchen es mit dem erhobenen Zeigefinger. Die wollen uns bei der Stange halten, indem sie uns Schauermärchen erzählen; was uns alles passieren kann, wenn man nicht dabeibleibt. Aber denen glaubt kaum einer. Oder?" Sie blickte fragend in die Runde, einige nickten, andere schauten ein bißchen bedrückt zu Boden, von weiter hinten meldete sich jemand. "Also ich glaub’ das schon; die machen mir immer richtig Angst. Da bleib’ ich lieber dabei. Wer weiß ..."

Ich fragte den einen oder anderen, ob er nicht ein Stück weitergehen wollte. Drei oder vier berieten sich, zwei schlossen sich mir an. Ich wollte erkunden, wie es weiter vorn auf dem Weg aussah. Nachdem wir eine Weile gegangen waren, blieb zuerst einer, dann gleich darauf der andere stehen. Ich drehte mich um. Es war ein bißchen steinig und steil geworden an der Stelle.

In die Augen des Älteren war Mißtrauen getreten. "Haben Sie eigentlich eine Lizenz?"

"Was für eine Lizenz?"

"Auf was haben wir uns da eingelassen?" Der Jüngere sprach mit einer Stimme, die mir auf einmal ein wenig schrill vorkam. "Sie sind ja gar nicht berechtigt, hier überhaupt herzugehen, geschweige denn welche mitzuziehen."

"Ich ziehe doch keinen mit", entgegnete ich verwundert. "Ich gehe den Weg und habe gefragt, ob einer mitgehen möchte."

Der Ältere war wieder dran. "Mir ist das zu unsicher."

"Mir auch", stimmte der andere ihm zu. "Das Ganze kommt mir auf einmal komisch vor. Hat keine Lizenz und will den Himmel finden!" Ein erschreckter Ausdruck stand plötzlich in seinem Gesicht. "Sie wollen uns in die Irre führen, jetzt weiß ich es. Komm", er wandte sich an den Älteren, "laß uns schnell zurückgehen." Er schaute mich wieder an und streckte die Arme abwehrend weit vor. "Bleiben Sie mir vom Leib ..."

Kurze Zeit später waren sie außer Sichtweite. Ich setzte meinen Weg fort und traf zu meiner Verwunderung immer wieder auf vereinzelte Wanderer, die sich von ihrer Gruppe entfernt hatten und ihr schon eine gehörige Wegstrecke voraus waren. Die meisten von ihnen machten einen entspannten Eindruck und gingen frohen Schrittes voran. Sie hatten sich zwar noch nicht von ihrem Gewand getrennt, trugen es aber in ihrer Reisetasche oder über der Schulter oder hatten es sich um die Hüften gebunden.

Dann lockte mich zu meiner Linken ein Hügel, den ich bestieg. Man hatte von hier oben einen Überblick über das gesamte Tal. Ich konnte das große Sammelbecken erkennen, die Wegweiser und Gruppen; ich sah die unzähligen Wege, die sich durch die Landschaft schlängelten. Und dann erkannte ich, daß diejenigen Pfade, an deren Ausgangspunkt die Hinweise "zum Himmel" oder "ins Land der Liebe" angebracht waren, alle auf der gleichen Bergspitze endeten, die in strahlendes Sonnenlicht eingetaucht zu sein schien.

Mein Blick richtete sich auf die Wanderer, die den anderen voraus waren, meistens allein, fast immer ohne Führer. Ich sah, daß es auf allen Wegen solche gab. Sie blieben zwar auf ihren Pfaden, ließen sich aber nicht davon abhalten, weiterzuschreiten. Sie hatten den Wegweiser und seine Botschaft ernst genommen.

Beinahe hätte ich das Wichtigste übersehen. Als ich meinen Blick noch einmal auf die Bergspitze richtete, stellte ich fest, daß alle, die dabei waren, den Gipfel zu erreichen, ihre Kleider gewechselt hatten und nun anstelle ihrer früheren Gruppenkleider jetzt hell leuchtende Gewänder trugen. Sie unterschieden sich zwar voneinander, aber allen gemeinsam war dieses von innen kommende, kaum zu beschreibende Leuchten. Sobald sich die Wanderer auf den Wegen rechts und links des eigenen sahen, winkten sie sich zu, erkannten sich als alte Freunde, die nur von einer anderen Seite her an das gleiche Ziel herangegangen waren. Auf dem Plateau, wo sich die schmalen Pfade und zerklüfteten Wege trafen, fielen sie sich in die Arme. Ich konnte meinen Blick kaum von diesem Bild wenden.

Eine kleine Vorschau soll dir zeigen, was sich später - frage mich nicht, wann - ereignen wird.

Die Gruppen begannen sich aufzulösen. Immer mehr Wanderer entschieden sich loszumarschieren. Die Nachzügler wurden immer weniger, schließlich waren es nur noch vereinzelte, bis sich schlußendlich alle auf dem Plateau eingefunden hatten. Ein Blick ins Tal bestätigte meine Vermutung: Die Wegweiser waren verschwunden, die Wege waren nicht mehr zu erkennen; ganz schwach konnte man allerdings noch Spuren sehen, wenn man genau hinschaute - so, als wenn sie den Betrachter an den guten Ausgang einer gewaltigen Irrfahrt erinnern wollten, die sich nie mehr wiederholen wird.

Das Bild, das sich vor meine Augen geschoben hatte, begann sich zu verflüchtigen. Ich stand noch immer vor dem Haus und schaute auf die Stelle, an der Viktor Gabliczek, Pfarrer und Bruder, nach links abgebogen war.

"Wir sind alle auf dem Weg", dachte ich. "von welcher Seite aus man sich dem Berg nähert, spielt nicht die entscheidende Rolle. Der eine versucht’s auf diesem Pfad, der andere auf jenem, wie es dem Naturell, der Empfindungs- und Denkweise des einzelnen entspricht. Wir werden uns wiedersehen. Wer will sich schon anmaßen zu entscheiden, wann und wo? Oder wer eher den Gipfel erreicht hat? Oder wer kann erkennen, wer wieder zurückgegangen ist, um einem anderen auf dem letzten Stück des Weges zu helfen?"

Es spielt nicht die entscheidende Rolle, welchen Weg du betrittst. Was aber ist dann das Entscheidende?

"Ich glaube, dieses Bild hat etwas auf eine wundervolle Weise veranschaulicht. Entscheidend ist, daß man den Weg geht, der ‘ins Land der Liebe’ oder ‘zum Himmel’ führt. Das ist die einzige Möglichkeit um festzustellen, ob der Wegweiser echt ist oder nicht. Denn mir schienen auch ein paar gefälschte dabei zu sein, deren Wege sich irgendwo im Dickicht verloren haben."

Wie willst du das herausfinden, wenn du dich nicht Schritt für Schritt, Meter für Meter und Streckenabschnitt für Streckenabschnitt vorwärts bewegst? Wer im Einflußbereich oder Dunstkreis seines Wegweisers bleibt, wird nie dahinterkommen, ob die Ankündigung hält, was sie verspricht. Gehst du jedoch deinen Weg und verlierst dabei nie dein Ziel aus den Augen, weil du die Sehnsucht in deinem Herzen nicht verlöschen läßt, dann w i r s t du erkennen. Darin liegt ein großes Versprechen Gottes. Es ist gleichzeitig eine Art Versicherung für die Ängstlichen unter euch. Wer den Weg g e h t , auch wenn er ihn noch nicht ganz überschauen kann, dem werden die Augen geöffnet; und er wird gleichzeitig stark, um den Weg verlassen zu können, sollte sich dieser als Sackgasse erweisen. Wer ihn n i c h t geht, wird auch dann einen richtigen Weg nicht erkennen, wenn es der richtige ist.

Viele Wanderer sind auf vielen Wegen. Die liebenden Herzens sind werden alle in die Arme des Christus finden, auch dann, wenn sie zu Lebzeiten nichts von Ihm gewußt haben. Denn die Liebe führt sie direkt in Sein Herz.

"Er hat gesagt: ‘Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Keiner kommt zum Vater, denn durch Mich’."

Ja, und wer nicht am Buchstaben hängt, sondern sein Herz befragt, der erhält die Antwort in seinem Inneren. Möchtest du dein Herz fragen?

Ich dachte einen Moment nach.

"Wenn Jesus Christus ‘durch Mich’ sagt, kann ich dies auf zweierlei Art verstehen. Hänge ich am Buchstaben, dann müßte ich annehmen, es ginge um die Anerkennung der Person des Jesus von Nazareth in Seiner Eigenschaft als Sohn Gottes. Die Schlußfolgerung wäre: Nur, wer einer christlichen Kirche, Gemeinschaft oder Organisation angehört, hat die Aussicht, zum Vater zu kommen. Wenn ich dagegen versuche, den tiefen Sinn zu erfassen, bleibt nur eine Deutung übrig. ‘durch Mich’ ist nicht auf die Person bezogen, sondern auf das, was sie in dieser Welt verkörperte: die Liebe Gottes. So betrachtet sagt der Herr:

‘Keiner kommt zum Vater, wenn er nicht das, was Ich Bin, anerkennt, anstrebt und in sich erschließt, bis daß er mit der Liebe Gottes wieder eins geworden ist’."

Geht er diesen Weg ehrlich und aufrichtig, wird Christus eines Tages vor ihm stehen. Und der Wanderer wird in Ihm d e n erkennen, dem er ein Leben lang gefolgt ist.

Ich schaute mich um, keiner hatte mein nachdenkliches Stillstehen bemerkt. Es hatte möglicherweise auch nur wenige Sekunden gedauert. Das Geheimnis von Zeit und Raum, nahm ich an, würde ich wohl nie verstehen. Vielleicht später mal "oben". Aber auch das hielt ich für sehr fraglich.