Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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18.

In dieser Nacht war der Besuch meines Lichtes kurz. Es fragte mich:

Was macht unser Puzzle?

"Ich glaube, es ist vorerst komplett. Ich danke dir für deine Liebe und Mühe." Ein Lichtstrahl umarmte mich.

Ich habe ein Geschenk für dich - einen Traum, sagte es dann. Du wirst erkennen, was er dir vermittelt. Dein Herz wird aufgehen, und deine Freude wird groß sein. Mein Licht überreichte mir ein Blatt Papier. Nimm dies mit auf deine Traumreise, vielleicht wirst du es brauchen können.

Dann war unsere Begegnung auch schon beendet. Ich fiel in einen tiefen Schlaf und träumte.

Wieder war es das gleichmäßige, leise Rattern der Räder, das mich hatte einschlafen lassen. Und es war das Kreischen der Bremsen, das mich weckte. Wir Reisenden wurden ein bißchen durcheinandergerüttelt, dann stand der Zug. Diesmal waren wir nicht nur zu zweit. Alle sechs Plätze des Zugabteils waren belegt. Auf den Gängen saßen und standen dichtgedrängt weitere Fahrgäste.

Ein Blick durch das Fenster zeigte mir, daß es draußen dunkel war. Das überraschte mich ein bißchen. Hatte ich wirklich viele Stunden bis in die Nacht hinein geschlafen? Ich öffnete das Fenster und stellte fest, daß wir in einem Tunnel stehengeblieben waren. Am Zuganfang blitzten einige Taschenlampen auf.

Wir schauten uns ratlos an. Keiner konnte sich einen Reim auf unseren Halt machen. Ich beschloß, mich in Geduld zu üben. Anderes blieb mir ohnehin nicht übrig. Dann ging das Licht aus, und wir saßen im Dunkeln. Lautes Stimmengewirr erhob sich überall. Im Nachbarabteil fing eine Frau an zu schreien, auf dem Gang machten sich erste Anzeichen von Panik bemerkbar.

Ich wartete ein paar Minuten, dann fällte ich eine Entscheidung: Ich würde den Zug verlassen. So etwas wie eine Notbeleuchtung war inzwischen angegangen. Viel Licht gab sie nicht ab, aber es reichte, um Umrisse zu erkennen. Als ich aufstand, um meine beiden Koffer aus dem Netz über mir zu holen, entstand vor dem Nachbarabteil ein Tumult. Ein Blick auf den Gang überzeugte mich davon, daß hier ein Tohuwabohu herrschte.

"Sie wollen doch nicht da ‘raus?" fragte mich einer der Mitreisenden, wobei er nicht klar zum Ausdruck brachte, ob er das Gewimmel im Gang meinte oder die kalte Dunkelheit außerhalb der Sicherheit des Zuges. "Eine trügerische Sicherheit", dachte ich.

Doch, ich mußte mich aus dieser Enge befreien. Ich spürte es. Da es aussichtslos war, mit den Koffern an den aufgeregten Menschen vorbeizukommen, blieb mir nur das Fenster. Dann aber mußte ich die Koffer zurücklassen. "Was soll’s." Ich überlegte, was darin war und kam zu der Überzeugung, daß es nichts so Wichtiges war, daß es meinen Verbleib im Zug gerechtfertigt hätte. Also würde ich sie da lassen.

Ich öffnete das Fenster, warf einen Blick auf die unmittelbare Umgebung und versuchte, zumindest den Boden vor dem Fenster zu erkennen. Nichts, tiefe Dunkelheit hüllte alles ein. Ich stieg auf die Lehne meines Sitzes und schwang ein Bein nach draußen.

"Sie sind ja verrückt", rief einer und wollte nach mir greifen, doch ich saß inzwischen schon auf dem Fensterrahmen und sprang. Die Landung verlief gut, kein Umfallen, kein Umknicken, ich stand. Ich orientierte mich kurz und ging dann in Richtung Zuganfang. Schon nach zwei Minuten hatte ich ihn erreicht. Keiner von denen, die mit ihren Taschenlampen zwischen den vorderen Waggons hantierten, bemerkte mich. Ich ging ich an der Lok vorbei. In der Ferne hatte ich etwas Helles gesehen, wohl das Ende des Tunnels. Darauf marschierte ich schnurstracks zu. Es ging viel schneller und viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte.

"Siehst du, Ferdinand, es ist immer dasselbe", dachte ich. "Wenn du weißt, was du willst, hast du schon halb gewonnen." Noch ein paar Meter, und ich hatte den Tunnel verlassen. Frische Luft und Sonnenschein begrüßten mich. Ein ganzes Stück vor mir sah ich jemanden, der auf die gleiche Idee gekommen war wie ich. Vielleicht würde ich ihn einholen können; zusammenzugehen wäre viel interessanter.

Nach einigen hundert Meter konnte ich die Geleise verlassen und einen Hang hinaufklettern. Oben traf ich auf einen Weg. Ein Blick zurück zeigte mir, daß auch nach mir noch einer oder eine - so genau konnte ich das nicht ausmachen - sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht hatte.

Ich fühlte mich wohl, war mit mir und meiner Entscheidung zufrieden und schritt flott voran. Da sah ich, daß mir zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, entgegenkamen. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen und wollte sie, als wir auf gleicher Höhe waren, grüßen und ansprechen. Doch sie sahen weder nach rechts noch nach links. Die Augen fest auf den Boden gerichtet gingen sie vor sich hinmurmelnd an mir vorbei. Der Ältere schüttelte gerade heftig den Kopf. "Hat keine Lizenz und will in den Himmel! Wo sind wir eigentlich hingekommen!"

Ich schaute ihnen noch eine Weile nachdenklich hinterher, drehte mich dann um und konzentrierte mich auf meinen Weg, der jetzt meine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Aus dem breiten Feldweg war ein interessanter Lehrpfad geworden. Was gab es da nicht alles zu sehen, anzufassen, auszuprobieren. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Nach vielleicht zwei Kilometern kam ich an eine Weggabelung. "Und jetzt?" dachte ich. Ich schaute mir beide Wege in Ruhe an, versuchte zu erkennen, ob sie nach oben oder unten führten, ob ich in feuchte Niederungen gelangen, vielleicht gar in einem Sumpf landen würde oder auf sicherem, festen Boden weitergehen könnte. Der linke schien mir eher künstlich angelegt, zwar einladend gemacht, aber doch nicht ganz echt zu sein. Der rechte dagegen war irgendwie ehrlicher. Er lag im Sonnenlicht, war klar zu erkennen und schlängelte sich zuerst durch Obst- und Blumenwiesen, um dann weit hinten bergauf zu weisen. Das gab den Ausschlag.

Als es wenig steinig wurde und ich umknickte, machte ich eine Pause. Ich war mir plötzlich nicht mehr ganz so sicher, ob ich den richtigen Weg gewählt hatte. Da erinnerte ich mich daran, daß mir mein Licht etwas mit gegeben hatte. War es vielleicht eine Wegbeschreibung? Ich holte den Zettel aus meiner Brusttasche hervor und las.

Für meinen Vater

Geliebter Vater, ewig hehres Licht.

Ich knie vor Dir in meinem inneren Altar,

in dem das Wort der Liebe zu mir spricht,

das oft von mir geschmäht und dennoch immer war.

Ich trete nicht als Bettler vor Dich hin,

denn Du hast mich geschaut in Herrlichkeit und Macht.

Ich weiß nun, daß ein Königskind ich bin,

das viele Jahre in der Fremde zugebracht.

Doch nicht allein in mir brennt Deine Glut -

nicht einer ist, der nicht Dein Liebesiegel trägt!

Wo er auch sei, und was er immer tut,

sein Königtum ist seiner Seele eingeprägt.

Du lehrtest mich: So richte deinen Blick

zwar auf die Schwäche, wenn du fehlst, doch zög’re nicht

und komm zu Mir und schaue nicht zurück,

denn vor dir liegt - mit Meiner Kraft - der Weg ins Licht.

Ich mußte nichts erheischen, nichts erfleh’n,

Dir reichte, wenn ich reuig meinen Kopf geneigt.

Und fiel ich, half Dein Arm mir aufzusteh’n;

ja, g’rade dann hast Du Dich tief zu mir gebeugt.

Ich lernte, selbst zu schauen und zu geh’n,

ein freies Kind - und doch an deiner lieben Hand.

Du gabst mir, was ich brauchte, um zu seh’n,

bis daß ich schließlich Dich in meinem Herzen fand.

Du siehst mich dankbar steh’n vor Deinem Thron;

auf eines, Vater, will ich mich mit allen freu’n:

Der Tag, da jede Tochter, jeder Sohn

Dich in sich selber findet, wird der größte sein.

 

Ja, es war eine Wegbeschreibung.

Mit neuem Schwung und frischer Kraft erhob ich mich und machte mich wieder auf den Weg. Als ich das Blatt Papier zusammenfaltete, um es in meine Brusttasche zurückzustecken, bemerkte ich den fein gesponnenen Faden, der wie reines Gold schimmerte. Er ging von meinem Herzen aus und verlor sich in der Unendlichkeit vor mir.

 

Danke.