Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


nächstes Kapitel                                 zurückblättern                               zum Anfang des Buches

17.

Es war ein paar Tage später. Ich hatte wieder einmal einen mit Terminen vollgepackten Tag hinter mir, war auf dem Weg nach Hause und freute mich auf den Abend daheim. Peter wollte vorbeikommen; vielleicht würden wir wieder einmal Schach spielen. Diesmal hätte er einen stärkeren Gegner vor sich als beim letzten Mal.

Kaum hatte ich meine Wohnung betreten, klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab, ehe sich der Anrufbeantworter einschalten konnte. Maria Gollberg war am Apparat.

Als ich Marias Stimme hörte, machte mein Herz plötzlich ein paar Schläge mehr. Das überraschte mich. Nicht so sehr der Grund für die außerplanmäßigen Herzschläge; den hatte ich schon vor Tagen erkannt. Nein, es waren mehr körperlichen Begleiterscheinungen selbst, die ich auf einmal mit knapp 56 Jahren noch - oder wieder - empfand. Wann hatte ich so etwas zuletzt erlebt? Vor 27 Jahren, damals, als ich Judith kennenlernte.

Maria hatte sich entschlossen, in die Wohnung ihrer Mutter zu ziehen. Der Vermieter war einverstanden, einen Nachmieter für ihre jetzige Wohnung würde sie finden. Da war sie absolut sicher. Wenn ihre neue Wohnung auch mit einem längeren Anfahrtsweg zu ihrer Arbeitsstätte verbunden war, so lagen für sie doch die Vorteile auf der Hand: eine ruhige Lage, eine bessere Aufteilung, etwa 10 qm mehr Wohnfläche, aber eine kaum höhere Miete.

Im Zusammenhang mit dem Umzug und möglichen Renovierungsarbeiten sowohl in ihrer alten als auch in ihrer neuen Wohnung taten sich für sie viele Fragen auf. Sie sei, so sagte sie mir, die kleine Liste ihrer Bekannten durchgegangen, ohne auf jemanden zu stoßen, dem sie wirklich zutraute, ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können. Ihr Bruder Volker wäre zwar willig, aber er hätte zwei linke Hände und gehöre eigentlich mehr an den Schreibtisch als sonstwohin. Da wäre als letzte Möglichkeit ich übriggeblieben. Und obwohl wir uns ja so gut noch nicht kennen würden, hätte sie das Gefühl, mich bitten zu dürfen ...

Wir vereinbarten, uns am Sonntag nachmittag in der Wohnung ihrer Mutter zu treffen.

*

Während der letzten Tage war ich auf die verschiedenste Weise immer wieder mit dem Thema "freier Wille" konfrontiert worden. Zum Teil waren es eigene Erlebnisse, die mich veranlaßten, gedanklich in diesen Komplex einzusteigen, zum Teil aber auch Meldungen aus der Tagespresse. Passierte ein größeres Unglück - so war mir aufgefallen -, dann wurde regelmäßig in Ansprachen die Frage nach dem Warum? gestellt. Beantwortet werden konnte sie nicht, denn zum einen wußte keiner die Antwort - was zu verstehen war -, und zum anderen suchte man ohnehin nicht ernsthaft danach. Schicksal ...

So manche Gespräche ergaben sich in der letzten Zeit ohne mein Zutun. (Nur sehr selten noch machte ich versuchsweise eine ganz kleine Bemerkung, mehr nicht; denn ein bißchen was hatte ich schon gelernt.) Im Mittelpunkt stand oft die Frage, wie man sich frohen Herzens einer höheren Macht nähern könnte, die doch augenscheinlich soviel Leid entweder auf die Erde schickte oder es zumindest zuließ. Ich gab dann, so gut ich es vermochte, aus meiner Sicht die Antwort. Anscheinend fehlte zu meinem richtigen Verständnis aber noch manches, denn mein Licht nahm ein abends geführtes Telefongespräch mit einem alten Bekannten zum Anlaß, meine Auffassung zu vertiefen.

Mache, wie schon erprobt, e i n e Annahme zum Fundament deiner Überlegungen. Behalte dir vor, diese Annahme jederzeit zu widerrufen, wenn sich herausstellt, daß du mit deinen Folgerungen in eine Sackgasse gerätst. Widerrufe sie n i c h t , nur weil dir die Antworten nicht passen. (Darüber hatten wir schon gesprochen, aber es schien angebracht, diesen Punkt zu wiederholen. Nun gut.) Suche dir also einen Aspekt heraus, den du zu einem vorläufigen Fundament machst. Ob es ein endgültiges sein kann, wird sich später herausstellen.

Ich dachte kurz nach. "Schutz und Führung? Erweckung der Liebe? Leben im eigenen oder im göttlichen Gesetz? Wie Vertrauen entsteht?" Was sollte ich nehmen?

Es spielt nur eine untergeordnete Rolle, wofür du dich entscheidest. Du wirst sowieso immer zur selben Antwort finden.

"Dann entscheide ich mich für ‘Leben im eigenen oder im göttlichen Gesetz’."

Dann fang an.

"Wer? Ich?"

Wer denn sonst? Ich kenne die Antwort schon.

War das eine Liebe! Ich begann.

"Du hast mir einmal ausrichten lassen: Nichts ist, das außerhalb von Mir ist. Da Gott auch das Gesetz ist, müßte man daraus folgern können, daß es nichts außerhalb Seines Gesetzes gibt.

Man müßte nicht nur können, man kann.

"Das würde dann ... das bedeutet dann, daß auch das menschliche Gesetz, der Eigenwille, Teil des übergeordneten Gesetzes des göttlichen Willens ist. Also gibt es doch nur ein Gesetz. Aber dann hätte ich ja keinen eigenen Willen." Jetzt wurde es schwierig für mich. "Du siehst ja", sagte ich nach einer Pause des Nachdenkens, "daß ich mir Mühe gebe, aber viel kommt dabei nicht heraus."

Eigentlich hätte ich es nicht besonders zu betonen brauchen. Und natürlich bekam ich Hilfe.

Gott ist alles. Damit ist Er auch Liebe und auch Gesetz. Oder anders ausgedrückt: Seine Liebe ist Sein Gesetz - oder umgekehrt. Wie du magst. In eine absolute Freiheit hineinzuwachsen - was du dir ja wünscht, wenn es hier auf Erden auch nur in unvollkommener Weise möglich ist - bedeutet, sich freiwillig der großen Liebe Gottes hinzugeben. Eine freiwillige Hingabe kann aber nur auf der Grundlage der Sehnsucht und Liebe erfolgen.

Mir kam gerade ein Gedanke, ein anderer Gedanke. Aber so anders war er vielleicht doch nicht, auch wenn er das Thema "Wiederverkörperung" betraf. "Wir haben schon des öfteren darüber gesprochen, daß es einen Sinn hat, über seine früheren Leben nichts zu wissen. Zu den bereits bekannten Argumenten kommt für mich nun noch eines hinzu."

Und das lautet?

"Das einzig richtige Motiv, den Himmeln näherkommen und frei werden zu wollen, kann nur die freiwillige Hinwendung zu Gott sein, die aus Liebe zu Ihm erfolgt. Das bedeutet, ein Ja zu Ihm hat wenig Sinn, wenn es beispielsweise - in Kenntnis meiner Vorleben - gegeben wird, um mögliche Auswirkungen früherer Verfehlungen in diesem Leben zu vermeiden. Also kann ich mir schon aus diesem Grund ein Nachforschen ersparen. Ein dem Buchstaben und Gesetz nach ‘richtiges’ Handeln aufgrund solcher Erkenntnisse hätte sowieso kaum einen positiven Einfluß auf meinen Weg, weil als einzige Beweggründe die Sehnsucht und Liebe zu Ihm zählen. Sind die aber vorhanden, werden sie geweckt oder vermehrt, spielt ein Wissen über meine Vorleben keine Rolle mehr."

Wenn wir nun festhalten, daß nur die Liebe zählt, tut sich dann nicht die Frage auf: Trage ich diese Liebe schon in mir? Wenn ja, wie ist sie zu wecken?

"Und: Warum überhaupt soll ich sie wecken? Ich lebe doch recht gut so, wie ich lebe."

Womit wir zu deinem Fundament "Leben im eigenen oder göttlichen Gesetz" zurückgekehrt sind.

Ich sah den Zusammenhang noch nicht.

Gottes Gesetz ist Liebe. Es führt absolut präzise jeden Menschen und jede Seele. Fälschlicherweise wird manchmal formuliert: "Der Mensch hat sich aus dem Gesetz der Liebe entfernt." Das kann er nicht. Er kann nur innerhalb des großen Gesetzes sein kleines, eigenes Gesetz schaffen, das aber auch nach genau festgelegten Richtlinien arbeitet ...

"Was aber keiner weiß."

Das ändert nichts daran, daß die Rädchen des Gesetzes wirkungsvoll ihre Arbeit leisten. Der Mensch, der gegen die Gebote der Liebe verstößt, hat sich zwar sein eigenes Gesetz geschaffen; den Mechanismus aber, der sein Gesetz steuert, hat er nicht konstruiert. Der ist Teil der göttlichen Liebe, weil nichts außerhalb dieser Liebe existiert.

Wenn das, was den Menschen in seinem eigenen Gesetz trifft, auf die Regeln des großen Gesetzes Gottes zurückzuführen ist, dann muß alles, was dem Menschen widerfährt - Liebe sein. Eine Liebe, die ihr Kind - das geistige Wesen, nicht den Menschen - zurückholen will. Das wäre logisch, revolutionär und provozierend. Es hätte, würde es morgen über alle Medien verbreitet, weltweit bei den meisten Menschen einen Aufschrei der Empörung zur Folge.

"Aber noch einmal meine Frage: Warum überhaupt soll ich die Liebe in mir wecken? Ich lebe doch recht gut so, wie ich lebe."

Weil dein eigenes Gesetz dir entweder Unpäßlichkeiten oder Schmerzen zufügt und du irgendwann - wenn deine Schmerzgrenze erreicht ist - die Frage nach dem Warum? stellst. Damit hast du den ersten Schritt getan.

Es gibt noch einen Grund ...

"Wenn das kleine Feuer der Liebe in mir größer wird. Wenn der kleine Ruf in mir lauter wird: ‘Bitte komm auf meinem Weg an meine Seite’. Auch dann habe ich einen Schritt getan.

Beide Schritte führen dich über kurz oder lang aus dem kleinen, menschlichen Gesetz in das große Gesetz der Liebe hinein. Aus menschlicher Sicht hast du damit schon halb, aus geistiger Sicht schon ganz gewonnen.

Ich schaute fragend. Das allein reichte schon; zu sagen brauchte ich nichts. Die Antwort kam auch so.

Halb gewonnen, weil dir natürlich noch dieses oder jenes vorgesetzt wird, das es anzuschauen, zu bereuen und nach Möglichkeit wiedergutzumachen gilt. Vielleicht auch einiges, das noch abzutragen ist. Da kann es schon sein, daß der Mensch wieder ins Zweifeln verfällt, ob es denn wirklich eine so gute Idee war, sich Gott zuzuwenden.

Ganz gewonnen deshalb, weil du - wenn deine Absicht und dein Bemühen ehrlich sind - vom Augenblick deiner Entscheidung an in einem andern Maße als zuvor geschützt bist. Du hast deine Willensfreiheit dazu benutzt, dein eigenes Gesetz zu verlassen, um dich dem göttlichen anzuvertrauen. Damit kann Gottes Schutz, der auf diese Entscheidung nur gewartet hat, wirksam werden.

"In der gleichen Sekunde?"

In der gleichen tausendstel Sekunde. Würde nicht schon dein Bemühen vielfach unterstützt werden, kämst du nicht von der Stelle. So aber legt Gott auf den Seine Hand, der sich aus Liebe zu Ihm für Ihn entscheidet. Denke an das Bild, in dem das Böse von den vergeblichen Versuchen sprach, die Lichtgeschützten anzugreifen.

"Du hast von zwei Schritten gesprochen", sagte ich. "Entweder der Schritt durch Schmerzen, Fragen und Einsicht oder durch die Stärkung der Liebe. Gibt es nicht noch viele andere Wege bis zu dem Punkt der Entscheidung?"

Es gibt so viele Wege, wie es Menschen gibt. Ich habe zwei Hauptwege aufgezeigt. Genaugenommen ist es nur einer: der Weg, auf dem die Liebe mehr und mehr zunimmt. Der Weg des Schmerzes und der Erkenntnis mündet in ihn ebenso ein wie alle anderen.

Das brachte mich zu einer Überlegung. Niemand würde gerne Not, Leid, Krankheit und vieles mehr verspüren. Man könnte diesen Weg doch meiden, indem man schon bei den Kindern so früh wie möglich die Liebe weckt. Am besten natürlich durch das Vorbild. Taufe, Kommunion, Firmung, Konfirmation und vieles mehr weckten ja nicht die Liebe. Sie machten die Kinder zu Kirchenmitgliedern. Auf einem ganz anderen Blatt stand, ob sie jemals erkennen würden, daß es nur um die Liebe geht. Den Erwachsenen ging es mit Sakramenten, Gottesdienst und Abendmahl ebenso. Auch bei ihnen wurde dadurch nicht die Sehnsucht gestärkt - die Antriebskraft überhaupt - und die Liebe nicht belebt ...

"Wie ist das Fundament anzulegen? Wie ist es zu erweitern?" fragte ich.

Muß die Antwort jeder verstehen können? Und müssen alle das Fundament, das ja schon in ihnen ist, freilegen können?

"Aber gewiß, Gott ist doch die Gerechtigkeit."

Kann es unter diesen Umständen Voraussetzungen, Bedingungen oder Techniken geben, die man erst erfüllen oder beherrschen muß? Das konnte natürlich nicht sein. Dann gibt es nur einen Weg: bewußt die Sehnsucht in sich zuzulassen. Oder - wenn man sie noch nicht verspürt - in freier Willensentscheidung um ihr Wachstum zu bitten.

Vier Zeilen eines Gedichtes gingen mir durch den Kopf: "Die Sehnsucht ist der Schlüssel, der dich finden läßt, und Ich Bin es in dir, der dein Bemühen trägt. Ich Bin es, der sich stark und tröstend in dir regt, und wenn du schwankend wirst, dann halte Ich dich fest."1)

"Nun gibt es aber viele", warf ich ein, "die möchten schon, aber sie können oder schaffen es nicht. Oder sie trauen sich nicht, weil sie vielleicht zu stark in eine Gemeinschaft und deren Denken eingebunden sind."

Du hast die Antwort schon vor dir liegen. Gerade eben hast du sie ausgesprochen.

Ich schaute verblüfft. Was hatte ich gerade gesagt?

Hast du nicht von einge-bunden gesprochen? Wer das Gefühl hat, nicht das tun zu können oder zu dürfen, was er sich von Herzen ersehnt, hat sich von Kräften binden lassen, die verhindern wollen, daß er seinen nächsten Schritt tut. Irgend etwas fesselt ihn und hält in bewegungslos auf der Stelle. Gott ist dies sicher nicht. Wer also eine Bindung verspürt, der könnte sich fragen, wer oder was ihn hält.

"Ich glaube, er kann sich glücklich schätzen, wenn er überhaupt noch in der Lage ist, eine Bindung zu erkennen. Denn das gehört auch zur Raffinesse der Täuschung, daß ich eine Bindung dann nicht mehr wahrnehme, wenn ich mich nur lange genug habe fesseln lassen."

Ich nahm mir vor, künftig noch wachsamer zu sein als bisher und bei nächster Gelegenheit in alle Ecken meines Ichs hineinzuleuchten, um nach möglichen Bindungen zu suchen. Denn diese waren ja nicht auf die Gebiete der Religion und Weltanschauung beschränkt. Sie fanden sich überall, in jeder Gewohnheit, Bequemlichkeit, Tradition, Sturheit, ängstlichen und eingefahrenen Verhaltensweise und vielem mehr.

Hatte ich eine oder mehrere der Bindungen erkannt, konnte ich mit freiem Willen oder in freier Wahl ... Das war’s! Das war der Punkt, den ich irgendwo im Hinterkopf gehabt und nach dem ich die ganze Zeit gesucht hatte: Hat der Mensch den freien Willen, oder hat er die freie Wahl? Die Antwort darauf mußte ich unbedingt noch mit meinem Licht finden.

Ich vergesse den Punkt nicht; wir kommen nachher darauf zurück.

"Danke." Wo war ich stehengeblieben? ... Bei der Überlegung, was mit einer erkannten Bindung zu tun ist. Ich dachte kurz nach. Es mußte, wenn eine Lösung herbeigeführt werden sollte, eine Entscheidung getroffen werden.

Plötzlich wurde mir klar, daß ich dem Schritt, der "Entscheidung" hieß, in meinem bisherigen Leben wenig Bedeutung beigemessen bzw. überhaupt nicht über ihn nachgedacht hatte. Ich war sicher, daß dies den meisten Menschen so ging.

"Entschuldige, bitte. Laß mich für einen Moment mal über etwas nachdenken, das mir gerade in den Sinn gekommen ist", bat ich mein Licht. "Ich halte das für wichtig. Achte du bitte darauf, daß wir den roten Faden nicht verlieren. Ich bin gleich wieder da."

Also: Es tritt ein Ereignis ein. Man nimmt es hin oder regt sich auf oder verzweifelt. Oder man fragt sich, warum das passieren konnte. Nicht immer, aber doch recht oft, findet man eine Antwort, wenn sie auch noch nicht die letze Weisheit darstellt; aber das spielte jetzt keine Rolle. Und was geschah dann in der Regel? Man hatte den Auslöser - und man hatte das Ergebnis. An was man nicht dachte, was man nicht kannte, war das Zwischenstück. Ein solcher Komplex bestand nämlich immer aus drei Teilen: der Ursache, der Entscheidung und der Wirkung. Da in vielen Fällen gar nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen wurde und somit auch wahrgenommen werden konnte, durch das Fällen einer Entscheidung die Wirkung zu verändern, wurde die anscheinend nicht zu beeinflussende Wirkung gottergeben und mit gesenktem Kopf hingenommen. Achselzucken, Schicksal, nichts zu machen! Keine Kenntnis darüber oder auch nicht der Wille, eine Entscheidung fällen zu können oder zu müssen. Also keine Entscheidung. Oder? Lag wirklich keine Entscheidung zwischen dem ersten und dem letzten Glied der Kette? War nicht eine Entscheidungsunterlassung auch eine Entscheidung? Egal, ob sie aus Unkenntnis, Angst, Eigenwillen oder aus welchen Gründen auch immer unterblieb?

Doch! Auch keine Entscheidung war eine Entscheidung, denn die Zahnräder des Gesetzes würden nicht stille stehen, nur weil ich (noch) keine Entscheidung treffen würde.

"Ich bin wieder da", sagte ich. "Es hat nicht lange gedauert, und ich habe mich auch nicht weit entfernt."

Du hast dich überhaupt nicht entfernt. Dir scheint es nur so, weil du die vielen Gesichtspunkte, die das Thema hat, noch nicht alle siehst. In Wirklichkeit bist du ganz eng an unserem roten Faden geblieben. Wir können, wenn du möchtest, an dieser Stelle mit "freier Wille" oder "freie Wahl" weitermachen. Auch das paßt. Deshalb sagte ich dir auch eben, daß es nur eine untergeordnete Rolle spielt, für welches der vier Themen du dich entscheidest. Du wirst stets immer zu denselben Antworten finden.

"Dann ist das ja wie in einem Trichter: Alles führt auf einen Punkt. Dieses Bild finde ich überhaupt passend. Es gilt auch für die seelische Evolution. Wenn ich mich dazu entschließe, nicht an der Trichterwand kleben bleiben zu wollen (weil ich meine Position irrigerweise schon für die endgültige halte), wenn ich also weitersuche und nicht zu früh aufhöre, gelange ich immer ins Zentrum."

Das ist das Gesetz. Auf diese Weise finden alle Kinder heim. Denn keiner will und kann für immer "an der Trichterwand kleben bleiben" - wenn ich deine Worte gebrauchen darf.

Ich dachte: "Wenn ich mal wieder ‘oben’ bin, werde ich mich bestimmt auch gewählter ausdrücken. Hoffe ich wenigstens."

Da bin ich mir nicht so sicher.

Hatte ich mir das gerade nur eingebildet? Da war ich mir auch nicht sicher.

"Er wird sich also eines Tages entscheiden", nahm ich nach diesem kleinen Zwischenspiel den Faden wieder auf. "Aus freien Stücken? Hat er eine andere Wahl? Womit wir bei diesem Thema wären."

Du bist einmal im Freibad vom 5-Meter-Turm gesprungen. Erinnerst du dich daran?

"Nicht so gerne." Ich hatte damals gewaltige Angst gehabt. Gesprungen war ich nur, weil ich vor den Mädchen angeben wollte.

Während du zwischen Turm und Wasseroberfläche unterwegs warst, hättest du am liebsten den Sprung rückgängig gemacht. "Das ging natürlich nicht mehr." Warum nicht? Du hast doch den freien Willen. Du konntest doch jederzeit "nein" sagen. "Aber doch nicht mehr, nachdem ich mich entschieden hatte. Da steckte ich doch mitten in den Folgen meiner Entschei ..." Siehst du, so einfach kann das sein mit Wille und Wahl.

Du hattest zuvor die Wahl zwischen springen und nicht-springen. Du hast dich mit deinem freien Willen für den Sprung entschieden. Du würdest mitten im Flug nicht sagen: "Weil ich meinen Sprung nicht mehr unterbrechen kann, ist mein Wille eingeschränkt."

"Unter diesem Gesichtspunkt", sagte ich, als ich mich von meinem Aha-Erlebnis erholt hatte, "ist die Bezeichnung ‘freier Wille’ aber nicht ganz richtig. Denn ich wurde ja von meiner Angeberei getrieben, fast gezwungen. Mein Wunsch nach Bewunderung war so stark, daß ich gar nicht anders konnte, als auf den Turm zu klettern. Wo war denn da mein freier Wille? Er war doch eingeschränkt, also war er gar nicht so frei."

Wer hatte denn den starken Wunsch nach Bewunderung in dich hineingelegt? Gott?

"Natürlich nicht." Wieder aha. Wenn Gott es nicht war, dann war es wohl mein Ego, das ... Gott genährt hat?

"Nein, das ich selbst genährt habe; bzw. habe ich zugelassen, daß es genährt wurde. Aus Minderwertigkeitskomplexen heraus."

Die aber auch nicht aus oder von Gott sind. Entstehen sie nicht durch falsche Maßstäbe, die du an dich anlegst, und die du nicht erfüllen kannst, nämlich so sein zu wollen wie andere? Dabei bist du einmalig, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes. Legst du diesen Maßstab an, kannst du keine Minderwertigkeitsgefühle entwickeln, weil deine Unvollkommenheit keine Schande, sondern der Grund dafür ist, daß dir in Christus die Liebe entgegenkommt, die mit dir gemeinsam deinen nächsten Schritt tun möchte.

Wer sich dafür entscheidet, nutzt seine Wahlmöglichkeit. Das, was ihm zuvor in den engen Grenzen seiner inneren Gebundenheit kaum Spielraum gelassen hat, tritt zurück. Die Freiheit, gleichzusetzen mit dem freien Willen, tut sich wie ein Tor jetzt wieder vor ihm auf. Er alleine hatte es geschlossen, aber er muß es nicht alleine wieder öffnen. Beginnt es sich zu öffnen, dann kann er seinen freien Willen wieder bewußt einsetzen. Das ist ein Geschenk, sein Erbanteil. Er wird nicht mehr getrieben von Kräften - auch nicht von seinen eigenen -, die seine Willensentscheidungen steuern, die unter diesem Gesichtspunkt alles andere als souverän waren.

Die W a h l "Ich will frei werden" hat er jederzeit. Darauf hat die Gegenseite keinen Einfluß, das heißt, sie kann diese Entscheidung nicht verhindern. Seinen W i l l e n wirklich frei einsetzen kann er nicht, bevor nicht sein Entschluß für die Freiheit gefallen ist, weil er, wie du bei deinem Sprung, Sklave seiner früheren Entscheidungen ist.

"Ich will frei werden" bedeutet: "Ich entscheide mich für die Liebe Gottes."

"Und das Abenteuer kann beginnen." Wie Schall und Rauch würde bald das alte Leben erscheinen. Wir schwiegen eine Weile. Es war viel heute, was mir vermittelt wurde.

Weißt du einen Grund, der dagegensprechen würde, sich der Liebe zumindest einmal "probeweise" anzuvertrauen? Ich wußte keinen. Was könnte passieren? Würde es demjenigen an Gottes Hand schlechter ergehen als zuvor? Wäre ein Risiko für ihn damit verbunden? Daß Gott keinem etwas nimmt, das hatten wir schon.

Dann könnte aus einem anfänglichen "Ich liebe Dich, weil Du mein Leben ordnest" das viel größere "Weil ich Dich liebe, ordnest Du mein Leben" werden. Diese letzte Formulierung, spürte ich, war ein Schritt hin zur Hingabe. Er enthielt keine Bedenken, Erwartungen und Bitten um Vorleistungen mehr, kein "wenn du" und "weil du". Das Vertrauen war aufgebrochen.

Ich hatte mich der Liebe Gottes in der letzten Zeit anvertraut. Die ersten Schritte auf festem Boden hatte ich gemacht. Ich hatte sie nicht allein tun müssen.

Keiner muß sie allein tun.

Mich bewegte noch etwas.

Formuliere deinen Gedanken. Er enthält einen wunderbaren Ansatzpunkt.

Ich konzentrierte mich. "Du hast eben, als du von ‘halb gewonnen’ sprachst, unter anderem gesagt: Da kann es schon sein, daß der Mensch wieder ins Zweifeln verfällt, ob es denn wirklich eine so gute Idee war, sich Gott zuzuwenden. Warum könnten Zweifel aufkommen? Das verstehe ich nicht ganz."

Du wirst dich gleich wundern, warum du nicht selbst darauf gekommen bist. Ich stelle mal ein paar Thesen auf, und du sagst mir, ob du ihnen zustimmen kannst oder nicht.

Ich nickte.

Jeder Mensch hat seine eigene Vergangenheit. "Richtig." Damit hat jeder Mensch seine eigene Zukunft. "Richtig." Evolution geht schrittweise vor sich. "Auch richtig." Jeder kann nur den nächsten Schritt tun, niemals den übernächsten. Ich nickte nur noch, denn ich ahnte schon, wie unser "Spiel" ausgehen würde. Kennst du deinen nächsten Schritt? Ich schüttelte den Kopf. Kennst du den Schritt, den dein Nächster für seine Entwicklung machen muß? Mein Kopfschütteln war nicht mehr sehr ausgeprägt. Glaubst du, es gibt jemanden, der sowohl den nächsten Schritt kennt als auch die Kraft verleihen kann, diesen Schritt zu tun? Kopfnicken meinerseits. Meinst du, du wärst nicht selbst darauf gekommen? Nicken und Kopfschütteln zugleich.

"Gegen dich kann man nie gewinnen", sagte ich. "Ich weiß auch, warum das so ist."

Da bin ich aber gespannt.

"Weil du in die Tiefe meines Bewußtseins schaust. Deshalb weißt du schon immer alles im voraus."

Genau in dieser Antwort liegt der Schlüssel zu deiner Frage. Da du nichts dagegen hast, wenn ich ein bißchen in dich "hineinschaue" [ "im Gegenteil"] schlage ich dir vor, daß du die Antwort in Form des Bildes gibst, das du soeben vor deinen Augen hattest. (Es war wirklich völlig ausgeschlossen, jemals gegen mein Licht gewinnen zu können. Vielleicht später einmal, wenn wir wieder "gleichberechtigt" sein würden ...)

Ich begann. "Ich sah einen Irrgarten mit beinahe mannshohen Hecken und mich dazwischen, der sich vergeblich bemühte, den Ausgang zu finden. Da erblickte ich über der Hecke links neben mir den Kopf eines Bekannten, der mir zurief: ‘Ferdinand, mir scheint, hier um die Ecke ist der Ausgang. Komm.’ Das nützte mir nichts, ich konnte ja nicht über die Hecke. Ich mußte meinen Weg finden. Da wurde ich aufmerksam auf einen Mann in einer weißen Kleidung, der - ähnlich wie der Schiedsrichter eines Tennismatches - auf einem hohen Stuhl saß und als einziger den Überblick hatte.

‘Soll ich Sie führen?’ fragte er. Ich nahm das Angebot an; schlechter als meine Suche konnte es mit seiner Führung auch nicht werden. ‘Dann gehen Sie jetzt erst einmal nach rechts, dann geradeaus, wieder zweimal rechts, nach einer scharfen Kurve ein paar Meter zurück ...’

‘Moment mal.’ Ich war ärgerlich geworden. ‘Der Ausgang war doch eben ganz nah, direkt links neben mir, einen Meter von mir entfernt. Warum soll ich jetzt nach rechts und zurück?’

Der Mann war die Ruhe selbst. ‘Wollen Sie hier ‘raus?’

‘Aber sicher.’

‘Kennen Sie den kürzesten Weg?’ wollte er wissen. Wenn ich ihn kennen würde, hätte ich sein Angebot nicht angenommen. ‘Glauben Sie, daß ich ihn kenne?’ fragte er.

‘Also gut.’ Ich war bereit, noch einen Versuch zu wagen.

‘Zweimal links, dann rechts, Achtung, nicht stolpern ...’

Auf einmal hörte ich meinen Bekannten. ‘Ferdinand, wo bleibst du denn? Du läßt dich ja im Kreis ‘rumführen. Ich kann dich von hier aus sehen. Ich bin gleich draußen. Du bist auch bald da, nur noch ein paar Schritte rechts.’

Auch von der anderen Seite rief mir jemand etwas zu. ‘Sie müssen Ihre Sonnenbrille abnehmen, so sehen Sie ja gar nichts. Dann müssen Sie sich auf Ihr Sonnengeflecht konzentrieren und ständig ‘Ausgang, Ausgang, Ausgang’ vor sich hinmurmeln. Und dann immer rechts halten.’

Und einer, der mit mir durch das Labyrinth irrte, aber anscheinend so etwas wie einen Plan gefunden hatte, riet mir, mit ihm zu gehen: ‘In zwei Minuten sind wir draußen.’

Ich war stehengeblieben. Vor lauter Zurufen und guten Ratschlägen wußte ich nicht mehr, was ich machen sollte. Der Mann auf dem Stuhl, der hier so etwas wie ein Führer war, hatte die ganze Zeit geschwiegen.

‘Ich will hier ‘raus’, schrie ich.

‘Dann gehen Sie bitte links und noch einmal rechts. Jetzt müßten Sie den Ausgang eigentlich schon sehen können.’

Nichts konnte ich sehen. Da entsann ich mich meines Taschenmessers und holte es ‘raus. Jetzt würde ich die Sache in die Hand nehmen. Mühsam schnitt ich ein paar kleine Löcher in das zähe Heckengestrüpp und versuchte schließlich, mich da durchzuzwängen, obwohl ich hätte erkennen müssen, daß ich da nicht durchkommen würde. Ich kam auch nicht durch. Ein paar Meter rechts und links neben mir waren andere Besucher des Irrgartens ebenfalls dabei, sich eigene Wege zu suchen. Sie waren ebenso wie ich enttäuscht. So hatten auch sie sich die Führung nicht vorgestellt.

Nach einer halben Stunde gab ich verschwitzt, schmutzig, verschrammt und blutend auf. Ich setzte mich völlig erschöpft in eine Ecke, schaute zu dem Mann hoch und sagte: ‘Bitte.’

Da stieg er von seinem Stuhl, nahm mich auf den Arm und trug mich in Richtung Ausgang."

*

So, wie es mir zur lieben Gewohnheit geworden war, morgens in mein Inneres zu gehen, ebenso versuchte ich dies auch abends. Nicht immer fand ich die nötige Zeit und Ruhe dafür; auch fehlte zu später Stunde oft die nötige geistige Frische. Heute war es nicht zu spät für meine inneren Gespräche geworden.

In der Zwischenzeit hatte ich die Erfahrung gemacht, auf die mich mein Licht vorbereitet hatte. Es war keineswegs so, daß es nach dem Wahrnehmen der ersten klaren Impulse nun regelmäßig zu einem ausführlichen Austausch kam, wie ich das von der Kommunikation mit meinem Licht her kannte. Ich mußte noch in Geduld lernen, wirklich stille zu werden. Einige Male jedoch hatte ich es in kleinen Ansätzen schon so erlebt, wie es später - wenn ich Ihm näher gekommen war - sein würde. Dies war mir Ansporn, mich immer wieder zu bemühen, in die Stille zu finden. Ob ich Ihn vernahm oder nicht, das spielte nicht die Rolle. Ich stand ja nicht unter Erfolgszwang.

Ich schloß die Augen und dachte kurz über den Tag nach. In Gedanken gab ich noch in einige Situationen der letzten Stunden meine Liebesempfindungen hinein. Dann entstand noch einmal das Bild des Irrgartens vor mir, vor allen Dingen mein "bitte". Danach war die Liebe gekommen, hatte mich aufgehoben und hinausgetragen. "Die Liebe", dachte ich. "Meine Liebe, deine Liebe."

Nach wie vor hatte ich die Frage vor Augen: Bin Ich es, den du liebst?

Als die Frage gestellt war, hatte ich die Antwort schon gewußt. Sicher hatte ich sie in der Zwischenzeit auch schon ein paarmal in kleinen Empfinden gegeben. Doch die Frage war so gewaltig für mich, daß sie mehr verdiente als nur ein rasch empfundenes Ja. Für mich war sie mit einer Grundsatzentscheidung verbunden, die ich bewußt treffen wollte. Und ich wollte mir auch sicher sein - so sicher wie möglich, mußte ich einschränken -, daß die Antwort aus dem allertiefsten Grund meines Herzens kam, freiwillig und freudig gegeben. Ich hatte diesen Grund erforscht und meine Antwort gefunden.

"Ja, du bist es, den ich liebe", sagte ich und verspürte etwas in mir, das ich nur mit den Worten "positive Erschütterung" beschreiben kann. Lange Zeit war es still in mir. Schließlich kam die Antwort.

Dann tritt dein Erbe an.