Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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16.

An diesem Abend kam ich erst gegen 20.00 Uhr nach Hause. Es war in jeder Hinsicht ein guter Tag gewesen. Nachdem ich eine Kleinigkeit gegessen und mich geduscht hatte, nahm ich mir in meiner Couchecke die beiden Bücher zur Hand, die ich mir von Max ausgeliehen hatte. Natürlich mußte es einen Grund dafür geben, daß mich mein Licht an die Bücher erinnert hatte. Es war im Zusammenhang mit der Aufklärung über die Wachsamkeit geschehen. Viel Freude beim Lesen konnte sowohl heißen "Da ist etwas Schönes, etwas Neues für dich drin", aber auch genau das Gegenteil - wenn man ein bißchen Ironie in die Worte hineininterpretierte.

Ich entschied mich, mit "Denn Christus lebt in jedem von euch" anzufangen. Der Titel sprach mich an. Ich war gespannt, unter welchen Gesichtspunkten dieses Thema dort behandelt wurde. Es war ein Buch voller Weisheit und Liebe, stellte ich nach den ersten Seiten fest. Vieles darin wurde aus ganz anderen, für mich neuen Blickwinkeln betrachtet. Es konnte einem Kraft geben.

Ich fand auf fast jeder Seite einiges, dem ich voll zustimmen konnte, z.B. "Wie willst du lernen, dich vom göttlichen Gesetz führen und tragen zu lassen, wenn du stets in sein Wirken eingreifst?" Ein wunderschöner Satz.

Oder: "Versuche nicht, vollkommen zu sein, mein Freund. Das ist ein unangemessenes Ziel ... Wünsche dir statt dessen, daß du jeden deiner Fehler erkennen und etwas daraus lernen kannst." Oder zum Leben nach dem Tod: "Wenn du deinen Körper verläßt, geht der Unterricht in einem nicht-physischen Klassenzimmer weiter ..." Oder der Gedanke: "Die meisten von euch verstehen sehr viel von Angst, aber sehr wenig von der Liebe. Ihr habt Angst vor Gott, Angst vor mir und Angst voreinander."

Was ich bis jetzt gelesen hatte, gefiel mir. So hätte "mein" Christus, falls ich Ihn jemals so klar und deutlich in mir vernehmen würde, sicher auch gesprochen. Mir fiel ein, daß ich das Vorwort nur überflogen hatte; jetzt schaute ich (warum?) hinein. Meine Augen blieben an einem Absatz hängen, der folgendermaßen begann:

"Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß Jesus keine exklusive Stellung innerhalb des Christusbewußtseins einnimmt. Krishna, Buddha, Moses, Mohammed, Lao Tse und viele andere sind im Bewußtsein dort mit ihm vereint ... Wenn es Ihnen leichter fällt, sich an Buddha oder Krishna zu wenden, dann tun Sie es. Jesus wird nicht beleidigt sein." (Davon war ich zutiefst überzeugt.)

Das konnte man glauben oder auch nicht. Ich hatte dank der Hilfe des Lichtes meine Überzeugung gewonnen. War ich intolerant, wenn ich meine für die richtige hielt, ohne eine andere zu verdammen? Mir kam das Bild mit den vielen Wegweisern und unterschiedlichen Gruppen in den Sinn. Es konnte und durfte jeder seinen Weg gehen. Wenn ich aber diejenigen sah, die auf ihren christlichen Wegen stehengeblieben waren und nicht so richtig wußten, ob sie die Gruppe wechseln oder einfach warten sollten - durfte ich dann nicht, wenn ich ihnen die gebotene Freiheit ließ, in aller Liebe sagen: "Du darfst machen was und gehen wo und wohin du willst. Doch warum wendest du dich, der du dich christlich nennst, nicht an den Führer in dir - wenn du wirklich heim willst?" Hieß Toleranz wirklich: Alle Wege sind gleich leicht und alle führen direkt ins Ziel? Konnte man nicht sagen: "So ist es meiner Meinung nach nicht"? Konnte man nicht die Vertreter der unterschiedlichen Wege als seine Brüder und Schwestern lieben, ohne daß man deshalb ihre Ansichten teilen mußte? Ihre Absichten mußten ja nicht unlauter sein; sie konnten durchaus einer richtigen Motivation entspringen. Aber nicht alles, was aus einer richtigen Motivation heraus getan wird, zeitigt auch ein richtiges Ergebnis.

Deshalb lag es mir fern, meinem Bruder, der dies empfangen und geschrieben hatte, in irgendeiner Form eine böse Absicht zu unterstellen. Ganz im Gegenteil hielt ich ihn für einen bescheidenen Lehrer, der in den Mittelpunkt seiner Lehre die Liebe stellte. Das zu leben war ja auch mein Bestreben. In diesem Punkt waren wir völlig einer Meinung.

Völlig auseinander gingen dagegen unsere Anschauungen, als ich auf die Stelle stieß: "Die Liebe Jesu, Krishnas, Buddhas und aller aufgestiegenen Meister [ "an deren Spitze Maitreya, der Antichrist, steht", dachte ich] umgibt uns mit unserem einsamen Gebet." Und ziemlich am Ende des Buches lernte ich einen mir völlig fremden Jesus Christus kennen:

"[ Einige von euch] glauben, sie müßten ihre alten Gewohnheiten ablegen und verstehen, daß ich für ihre Sünden gestorben bin! Das, meine Freunde, ist nichts als leeres Geschwätz. Ich frage euch: Warum sollte ich für eure Sünden sterben? Ich habe sie nicht begangen! Ich glaube, ihr denkt, ich sei ein großartiger Bursche. Ich bin so ‘gut’, daß ich eure Sünden einfach wie ein Schwamm aufsaugen kann und dennoch von ihnen unberührt bleibe. Dann sind wir alle fein 'raus, nicht wahr? Wirklich? Nun glaubt ihr, eure Erlösung hinge von mir ab. Und was ist, wenn ich euch nicht erlöse? ... In Wirklichkeit sage ich eigentlich etwas ganz anderes. Ja, alles ist in Ordnung - aber nicht in irgendeiner fernen Zukunft oder durch irgendeinen Glaubensakt eurerseits. Alles ist jetzt in Ordnung, ohne daß ihr irgend etwas in Ordnung bringen müßt und ohne daß ich etwas in Ordnung bringen muß."

So stellte ich mir meinen Bruder und Freund, der für mich die Liebe meines himmlischen Vaters verkörpert, nicht vor. Daran konnte auch der Satz nichts mehr ändern, den ich noch fand: "Das Licht des Christus ist in jedem von uns. Bringen wir es gemeinsam im Namen der Liebe zum Strahlen."

Ich verstand auf einmal, was mein Licht mir hatte nahebringen wollen. Ich drückte es mit meinen Worten aus: "Die Fußangeln sind hervorragend getarnt. Sie verstecken sich zwischen Aussagen, denen du ohne weiteres zustimmen kannst. Hast du oft genug zugestimmt, ist die Gefahr groß, daß du auch da ja sagst, wo du eigentlich nein sagen möchtest und müßtest. [ Übrigens ein alter Verkäufertrick, fiel mir ein.] Aber weil alles andere wie eine runde und schöne Sache aussieht, kann man doch über diesen einen kleinen Satz - und wenn es zwei oder drei sein sollten - hinwegsehen." Aber gerade wegen dieser paar Sätze waren womöglich alle anderen als verlockende Verpackung geschrieben worden.

Wenn ich es mir recht überlegte, war mit der Aussage über die Erlösung und den großartigen Burschen nichts anderes ausgedrückt worden als: "Du brauchst dich nicht an deinen Erlöser zu wenden. Es gibt gar keinen."

Sich davon nach und nach überzeugen zu lassen, weil ja die übrigen Lehrinhalte so ansprechend und endlich einmal verständlich dargestellt präsentiert wurden, so daß nichts gegen sie einzuwenden war - das war der Sinn der Falle; es war die Falle selbst. Das war die große Versuchung und nicht so sehr die Tatsache, daß man als Nichtchrist, als Andersgläubiger, seinen Weg beschreiten könnte; zumal dann nicht, wenn man sich aufrichtig bemühte. Jeder, der seinen Weg tatsächlich ginge, würde die Wahrheit finden. Egal, aus welcher Richtung er käme: Ginge er unbeirrt ins Land der Liebe, würde er dort auf seinen Erlöser und seine Brüder und Schwestern treffen.

Unter dem Gesichtspunkt, daß man klar und stark genug ist, nein zu sagen zu dem, was man für sich als falsch erkennt, fand ich es gar nicht so schlimm, auch einmal solche Literatur wachsamen Auges zu lesen. "Prüfet alles! Das Gute behaltet!", so stand es doch schon in der Bibel.

Ich legte das Buch an die Seite und nahm das zweite zur Hand: "Gespräche mit Gott - Ein ungewöhnlicher Dialog". Auch ein Thema, das mich interessierte; zum einen wegen der bisher erhaltenen Aufklärung dazu und auch wegen meines allerallerersten Schrittes in die gleiche Richtung. Und auch ein wenig, weil dieses Buch eine Zeit lang auf der Bestsellerliste in Amerika ganz oben gestanden hatte.

Schon nach dreißig, vierzig Seiten hatte ich das Gefühl, man wollte mich in eine Diskussion voller Widersprüche verwickeln. Mal konnte ich zustimmen, Absätze oder Seiten später wurde meine Zustimmung in Frage gestellt und der gleiche Aspekt so geschickt aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, daß ich die neue Sicht bejahen konnte. Außerdem wechselten sich Stellen, die ich aus meiner Perspektive heraus als richtig erkannte mit solchen, die mir gegen den Strich gingen, ständig ab. Als es mir zu bunt wurde, nahm ich einen grünen Filzstift für ja und einen roten für nein. Ich wollte zuerst auch noch einen gelben nehmen für "Fragezeichen, weil widersprüchlich oder unverständlich", aber das schien mir die Sache dann doch nicht wert zu sein. Ich begann noch einmal von vorne zu lesen. Nach etwa zwei Stunden war mir noch klarer geworden, auf was mein Licht mich hatte aufmerksam machen wollen. Und das Buch war voller farbiger Kennzeichnungen. Ich schaute sie mir nochmals an.

Grün stand zum Beispiel für "Die Frage ist nicht, mit wem ich rede, sondern wer zuhört." Oder für "Das nobelste Gefühl ist jenes, das ihr Liebe nennt." Gleich dahinter die Sätze waren rot angestrichen: "Freude, Wahrheit, Liebe. Diese drei sind austauschbar, und eines führt immer zum anderen. Die Reihenfolge spielt dabei keine Rolle."

Grün fand sich außerdem bei "Denn in Gottes Welt geschieht nichts zufällig, und so etwas wie einen Zufall gibt es nicht." (Wie wahr und wie sehr zu unterschreiben!) Grün auch an der Stelle "Doch die größte Gemahnerin ist nicht eine außenstehende Person, sondern eure innere Stimme."

Es gab noch viele grüne Stellen. Zwei seien noch besonders erwähnt. "Doch ich habe euch nie verlassen, sondern euch immer zur Seite gestanden, bereit ... euch nach Hause zu rufen." Und: "Das Versprechen Gottes ist, daß du sein Sohn bist." (Wie sicher und geborgen man sich dabei fühlen kann.) Doch schon in der nächsten Zeile eine Stelle, die ich rot markieren mußte: " ... ihm gleichgestellt."

Die Stellen mit roter Kennzeichnung überwogen ohnehin. Ich las ein paar von ihnen.

"Indem ich ‘etwas anderes’ erschuf, habe ich eine Umgebung bereitet, in der ihr wählen könnt, Gott zu sein, statt daß euch nur einfach gesagt wird, daß ihr Gott seid." 1)

"Denke, sprich und handle als der Gott, der du bist."

"Das ist es, was Jesus tat. Das ist der Weg Buddhas, der Weg Krischnas, der Weg jedes Meisters, der auf dem Planeten erschienen ist."

" ... ‘in den Himmel kommen’ gibt es nicht. Es gibt nur ein Wissen, daß du schon dort bist. Es gibt ein Akzeptieren, ein Verstehen, es gibt kein dafür Arbeiten, kein Hinstreben."

" Es ist pure Arroganz, wenn ihr denkt, daß ihr durch irgendwelches Handeln eurerseits ‘in den Himmel kommen’ könnt. Es gibt nur einen Weg ... ausschließlich durch die Gnade." ("Wenn Luther das doch hören könnte", dachte ich. Aber vielleicht hörte er es ja.)

"Du lernst hier nichts. Du hast hier nichts zu lernen. Du brauchst dich nur zu erinnern, das heißt: mich zu erinnern."

Manches war kindisch-lächerlich: " ... mußten die Religionen etwas erschaffen, worüber ich wütend werden könnte."

Und dann die raffinierte Verdrehung des Beispiels "Meister und Gesellen", über das ich mit Sebastian gesprochen hatte: "Und ein wahrer Gott ist nicht der mit den meisten Dienern, sondern einer, der am meisten dient und so aus allen anderen Götter macht."

Ich las noch einen letzten der rot angestrichenen Sätze, dann schlug ich das Buch zu. "Siehst du denn nicht, daß ich ebenso leicht deine Einbildungskraft wie alles andere manipulieren kann?" Und wie ich es sah!

Das war nicht mein Gott. Das war nicht der Urheber der Liebeschwingung, die ich in mir verspürt hatte. Das war nicht der, dessen Frage ich in mir vernommen hatte: "Bin Ich es, den du liebst?"

Es waren nur zwei Bücher von vielen, die ich gerade gelesen hatte. Ähnliche drängten zur Zeit massiv auf den Markt. Mal ging es mit Christus (oft vom Erlöser herabgestuft zum aufgestiegenen Meister), mal ging es ohne ihn. Die Seite der Dunkelheit schien eine Kampagne gestartet zu haben, um zuerst die große Verunsicherung und dann den "großen Umweg" einzuleiten. Auf der anderen Seite stand erfreulicherweise eine Zunahme aufbauender, christlicher Literatur. Aber sie beinhaltete bei aller Anschaulichkeit leider nach wie vor die gleichen, alten und nicht zufriedenstellenden Antworten, wie sie seit vielen Jahrhunderten auf die ebenfalls gleichen und alten Fragen gegeben wurden. Da war es zu befürchten, daß sie kein wirkliches Bollwerk würde darstellen können.

Auch neue Bibelausgaben - in hochwertigem Ledereinband und mit Goldschnitt für denjenigen, der es sich leisten konnte - stellten zum Aufdecken der Verfälschungen und zum Erkennen der gefährlichen Irrwege keine Alternative dar. Wenigstens dann nicht, wenn die Bibel nur als eine unterhaltsame Lektüre betrachtet würde, in der man halt liest, um den Glauben zu stärken. Als Anweisung für das Leben ja; dem würde dann aber auch das Praktizieren der Lehre folgen: die nach der Bibel gelebte Lehre. Und daraus würden sich schon bald Erfahrungen, Fortschritte und Einsichten ergeben.

Da tat sich für mich immer die Frage auf, ob man das Buch der Bücher dann noch regelmäßig lesen würde oder müßte. Als Trost und zur Auffrischung meiner Empfindung, in Gott geborgen zu sein, wäre die Bibel selbstverständlich jederzeit eine willkommene Hilfe. Aber war sie dafür da, um einen 1900 Jahre alten Text immer wieder auszulegen? Wie ein Schulbuch der ersten Klasse, das noch benützt wird, obwohl doch alle schon längst erwachsen geworden sind? (Waren sie erwachsen geworden?) Oder aus Tradition und Gewohnheit, nur um sich bereits bekannte Zitate, Verhaltensanweisungen, Gottesvorstellungen und Wunder ins Gedächtnis zu rufen?1) Da setzte ich doch einige Fragezeichen hinter. Mir kam ein solches Verhalten immer vor wie das Lesen in der Straßenverkehrsordnung, bevor sich jemand in sein Auto setzt und losfährt. Er müßte doch eigentlich wissen - und weiß es ja auch -, daß man bei Rot halten muß und bei Grün fahren soll. Zur Ehrenrettung der Autofahrer mußte ich zugeben, daß ich keinen kannte, der sich entsprechend meines Beispiels verhielt. Dann müßte das doch eigentlich - von den schon erwähnten Gründen des Trostes und der Hilfe abgesehen - auch im Falle der Bibel möglich sein. Ich würde diesen Aspekt mal mit meinem Licht besprechen.

Noch etwas kam mir urplötzlich in den Sinn, an das ich noch nie gedacht hatte. (Ich glaubte ganz sicher, daß mein Licht meinen Überlegungen die entsprechenden Impulse gab.) Ob es überhaupt ursprünglich in Gottes Plan vorgesehen war, daß die Lehre und das Wirken Jesu Christi niedergeschrieben und auf diese Weise festgehalten werden sollten? Mir schien auf einmal logischer zu sein, daß der Schwerpunkt auf dem inneren Wachstum gelegen haben muß, das sich aus der Nachfolge ergab. Wer die Liebe lebte, brauchte nicht nachzulesen, ob, daß und bei welcher Gelegenheit sein Herr und Meister Wasser in Wein verwandelt und aus zwei Fischen und fünf Broten eine Speisung für Tausende bereitet hatte. Er wußte, daß es so war.

Im übrigen gab es in den ersten Jahrzehnten die Bibel in der heute vorliegenden Form nicht. Erst später, als die Aufbruchsstimmung und langsam auch das Prophetentum nachließ und die Menschen sich nicht nur durch den zeitlichen, sondern auch durch einen zunehmenden inneren Abstand von Christus entfernten, entstanden die Evangelien. Erst sehr viel später wurden sie zusammen mit dem Alten Testament, den Briefes des Paulus u.a. mehr zur heute gültigen Heiligen Schrift gemacht.

Es könnte also ohne weiteres sein, war meine Überlegung, daß die geistige Übermittlung der Evangelien eine Art Notlösung darstellte, um den Menschen wenigstens einen Rahmen, ein Gerüst für ihren Glauben zu geben, wohlwissend, daß damit die Gefahr des engen Buchstabenglaubens verbunden war. Vielleicht war das das kleinere Übel?

Meine Gedanken waren für einen Moment abgeschweift. "Macht nichts", sagte ich zu mir, "irgendwie gehört das auch dazu." In den nächsten Tagen würde ich Max die beiden Bücher zurückbringen. Er würde möglicherweise überrascht sein über meine Meinung dazu. Ob er sich ihr anschließen würde war seine Entscheidung. Ich ging noch für ein paar Minuten in mein Inneres, war aber inzwischen zu müde, so daß ich nicht mehr als nur ein paar klare Gedanken fassen konnte. So ließ ich es einfach aus meinem Herzen strömen.

Es war bereits nach Mitternacht, als ich mich zur Ruhe begab. "Danke für deine Hilfe beim Lesen", dachte ich. "Bis gleich?" Ich war überglücklich, einen Freund, Lehrer und Begleiter wie mein Licht zu haben, vor allem bei dem durchaus nicht leichten Thema der Unterscheidung der Geister. Ich glaube, ich schlief mit einem Lächeln ein, weil ich mich noch erinnerte an sein Viel Freude beim Lesen. Ein himmlischer Humor!

*

Wie erhofft, blieb ich in dieser Nacht nicht allein. Das Licht erstrahlte vor mir. Wie meistens nahm es mich auch diesmal kurz in seine Schwingung auf.

Wie ist es dir heute abend ergangen? Mir scheint, du hast dich tapfer geschlagen.

"Eine etwas komische Formulierung", dachte ich. "Wie es mir ergangen ist, mußte es wissen. Es war doch dabei." Aber vielleicht wollte es von mir noch etwas über meine tiefsten Empfindungen erfahren.

Ich sagte: "Du warst natürlich dabei, sonst wäre mir das so wohl nicht gelungen."

Mache dich nicht kleiner, als du bist. Meinst du nicht, du hättest nach der harten Arbeit der letzten Wochen und Monate auch mal ein bißchen Lob verdient?

War Lob nicht Gift? Heute schien mein Licht sehr großzügig zu sein. Aber ganz unrecht hatte es nicht ... "Sicher war es manchmal ganz schön haarig, und es stimmt auch, daß ich, daß wir schon ein bißchen was erreicht haben." In meiner Stimme schwang eine verschwindend kleine Portion Selbstzufriedenheit mit. Gott sei Dank wirklich nur ein Promille.

Sage ruhig "ich" und nicht "wir", und schätze deinen Anteil nicht zu gering ein. Du wirst noch viel mehr erreichen. Ich sehe voraus, daß sich dein Eifer bezahlt machen wird.

Ich wollte abwinken und etwas korrigieren, doch ich wurde unterbrochen.

Nein, nein, ich kenne deine Bescheidenheit. Sie ist sprichwörtlich. Doch jetzt laß auch einmal eine Anerkennung zu. Sicher ist die innere Bereitschaft notwendig, aber wenn der Mensch nicht auch den notwendigen Ehrgeiz entwickelt, wird er kaum vorankommen.

Ich runzelte meine Stirn bei diesen Worten.

Weißt du eigentlich, daß du schon seit langem vielen Menschen und Seelen als Vorbild dienst?

Ich riß Augen und Ohren weit auf. War heute der Tag, Lob- und Fleißkärtchen gleich doppelt und dreifach zu verteilen?

Du bist verdattert und kannst kaum glauben, was ich dir sage. Doch es ist so. Du kennst nur diese großzügige Seite meines Wesens noch nicht. Ich hatte bisher wenig Gelegenheit, sie dir zu zeigen. Doch auch das gehört zu einem Engel Gottes und zu seiner Liebe, daß er Beifall und Wertschätzung dort zollt, wo sie angebracht sind.

Mein Licht hatte recht: Diese Seite kannte ich wirklich nicht. Gab es sie überhaupt? Aber wie sollte es sie nicht geben, da ich sie doch gerade erlebte? Das Licht ließ mir kaum Zeit zum Nachdenken. Es legte heute eine gewisse Hektik an den Tag, so als ob etwas eile, als ob es etwas hinter sich bringen müßte. "Ferdinand, da muß was mit dir nicht stimmen", sagte ich mir. "Du hast zuviel gelesen."

Das mit dem Vorbild meine ich ernst. Die Menschen um dich herum beobachten dich sehr genau. Denk doch nur an deine Eva. ("Es ist doch nicht meine Eva!" stellte ich sofort richtig.) Gut, vielleicht habe ich es ungenau formuliert.

"Dann hast du aber auch zuviel gelesen", dachte ich. Und als keine Reaktion darauf erfolgte: "Heute bist du aber wirklich nicht besonders in Form." So hatte ich das Licht noch nicht erlebt.

Es sprach mitten in meine Gedanken hinein: Was ich meine ist, daß du dich freuen kannst, weil deine Arbeit endlich die ersehnten ersten Früchte zeigt. Besonders im Unsichtbaren sind viele Seelen ständig um dich herum, die sich nach dir richten und versuchen, die Liebe so zu leben wie du. Wenn das kein Grund zur Freude und ein großer Tag für dich ist!

Mir fiel auf, daß die Strahlung des Lichtes immer dann, wenn es das Wort "Liebe" aussprach, auf eine bisher von mir noch nie wahrgenommene Art und Weise flackerte, was mich an meine Neonröhre im Keller erinnerte, die ich unbedingt ersetzen mußte.

Was sagst du dazu?

Ich sagte gar nichts dazu. Hier stimmte was nicht.

Hat es dir die Sprache verschlagen?

Plötzlich kam mir ein schrecklicher Verdacht. Ob er sich als richtig erweisen würde, das würden die nächsten Momente zeigen. Weil mir aufgefallen war, daß das Licht (ich dachte nicht mehr mein, sondern das Licht) heute nicht auf meine Gedanken reagierte, ließ ich meinen Verdacht - unausgesprochen, aber in Gedanken und ganz vorsichtig - zu und wartete ab, was passieren würde. Es passierte nichts. Dann ließ ich meine Gedanken massiv hinaus - wieder keine Reaktion. Jetzt war ich fast sicher. Nein, ich war sicher! Mein Licht konnte in alle Bereiche meines Denken und Fühlens eintauchen. Dieses Licht vor mir nicht. Es war also nicht mein Licht. Wenn es aber nicht mein Licht war, dann war es kein richtiges Licht, denn ein solches würde sich nicht als meines ausgeben. Wenn es aber kein richtiges war, dann war es ... ein dunkles Licht!

Ich war über mich selbst erstaunt, daß ich nicht in Panik geriet; auch keine Angstzustände überkamen mich. Wenn alles stimmte, was ich bisher gelernt hatte, dann gab es nichts, wovor ich mich fürchten mußte. Denn meine Sehnsucht und meine Liebe waren zwar noch klein, aber ehrlich. Ich war deshalb sicher, daß mein Licht in der Nähe war und mich schützte und mir Kraft spendete.

"Also gut, auf in den Kampf", dachte ich. Das Licht vor mir mußte etwas ahnen oder etwas bemerkt haben. Es flackerte jetzt stärker und zog ganz leicht, wie in einer Abwehrhaltung, seine äußersten Strahlen ein.

"Hat dir die Liebe Gottes deinen heutigen Auftrag gegeben, oder handelst du aus deinem Eigenwillen heraus?" fragte ich.

Die Liebe Gottes? Die Stimme hatte einen leicht schrillen Klang angenommen, was mich an die Begegnung mit dem älteren und jüngeren Mann im Tal der Wegweiser erinnerte.

"Ja, die Liebe Gottes! Wie oft hast du von ihr gesprochen! Weißt du es noch?" Ich fand es an der Zeit, die Sache zu beenden. "Liebst du Ihn noch?" Eine häßliche Stille herrschte. "Soll ich dich mit Seiner Kraft segnen?"

Unter Zischen und Sprühen brach die Strahlung zusammen. Im selben Augenblick war ein anderes, mein Licht, da und hüllte mich ein, so wie eine Mutter ihr erschrockenes Kind liebevoll und tröstend in den Arm nimmt. Jetzt, da alles vorbei war, merkte ich doch, daß mich das Erlebnis nicht kaltgelassen hatte. Es saß mir tatsächlich ein Schrecken, wenn auch kein großer, in den Gliedern. Ich gab mich deshalb nur zu gerne dieser göttlichen Liebe hin, die ich um nichts auf der Welt gegen weltliche Wertschätzung eingetauscht hätte. "Das ist wahre Geborgenheit", empfand ich.

Und sofort kam die Antwort. Was wirst du erst empfinden, wenn du wieder eingetaucht bist in die Geborgenheit Gottes.

Ich genoß noch eine Zeit lang die Nähe und Wärme. Dann richtete ich mich langsam wieder auf. "Du hättest mich auch warnen können."

Zum einen wäre ein aktueller Hinweis nicht im Sinne der Übung gewesen. Und zum anderen: Wenn ich mir unsere letzten Gespräche betrachte, scheint es mir schon, daß mehr als genug Warnungen ausgesprochen worden sind.

Jetzt verstand ich. Die Versuchung hatte sich schon vor Tagen herangeschlichen und in Warteposition aufgestellt. Es mußte sich nur noch der richtige Zeitpunkt ergeben. Der schien in dieser Nacht gekommen zu sein. Deshalb vorher noch der "Schnellkurs im Durchblicken"! Ein wahrhaft fehlerfrei arbeitendes Uhrwerk, das nur durch mich, dem es diente, beeinträchtigt werden konnte, indem ich Sand ins Getriebe warf. Diese Regel galt für alle Menschen.

"Aber mußte es gleich eine solche Prüfung sein? Hätte es auch nicht eine weniger große getan?" wollte ich wissen.

Dazu kann ich nur etwas wiederholen, das du vor ein paar Minuten schon erfahren hast; diesmal fehlt allerdings der falsche Zungenschlag: Mache dich nicht kleiner, als du bist. Erkenne die Kindschaft Gottes in dir und damit die Fähigkeit, eine Gefahr rechtzeitig wahrnehmen und ihr erfolgreich entgegentreten zu können. Zumindest solltest du dies grundsätzlich als eine in dir und in jedem angelegte Kombination aus Weisheit und Kraft akzeptieren, wenn sie auch noch nicht voll entwickelt ist. Ich akzeptierte.

Wer sich auf den Weg in seine ewige Heimat macht, wird stark und stärker. Entsprechend darf sich die Finsternis an ihm messen. Sie ist zwar immer der Urheber einer Versuchung oder eines Angriffs, doch manchmal bedienen sich auch höhere Kräfte ihrer, ohne daß die Dunkelheit es bemerkt.

Das verstand ich nicht. Vielleicht aber war ich auch noch nicht wieder voll da. Mein Licht half mir.

Würdest du als Mensch etwas lernen, wenn du nicht gefordert würdest? Würdest du jemals über das kleine Einmaleins hinauskommen, wenn du dich nicht irgendwann einmal an das große heranwagen würdest? Irgend jemand müßte dir, falls du es nicht selber tust, schwierigere Aufgaben als bisher vorsetzen, wolltest du dich nicht auf Dauer in deinem kleinen Einmaleins bewegen. Einverstanden?

"Aber sicher. So wie du einem das erklärst ..."

Also läßt Gott es zu, daß dich jemand mit einer Aufgabe konfrontiert, deren Lösung du zwar theoretisch schon kennst, praktisch aber noch nicht erprobt hast. Denn du hast durch dein Ja zum Ausdruck gebracht, daß du dich auf den Heimweg gemacht hast. Und indem du nun Wissen über Wissen ansammelst, wird die Notwendigkeit immer größer, dieses Wissen in praktische Erfahrung umzusetzen. Denn du sollst ja nicht nur Wissen anhäufen, sondern mit diesem Wissen endlich losmarschieren. Das ist der Hintergrund deines Ja’s zu Gott. Also läßt Er zu, daß die Kräfte, die die Absicht haben, dich zu halten und dir zu schaden, sich mit dir messen. Er bedient sich ihrer. Hast du nicht nur Wissen angesammelt, sondern auch ... [ "trainiert, würde ich sagen", dachte ich] ... also gut, trainiert, dann macht dich jeder Wettkampf mit dem Gegner stärker. Die nächste Aufgabe wird dann ein klein wenig schwieriger, aber nie so schwierig, daß du unterliegen mußt.

Hast du jedoch nicht trainiert ...

" ... dann wird es mir wie jemandem ergehen, der immer mehr Gewichte auf seine Hanteln gelegt bekommt - das war sein Wunsch; mit seinem Ja hatte er zugestimmt - und dann mangels Training unter dem Gesamtgewicht schließlich zusammenbricht." Ich verstand.

Und auch dein Inneres, das Göttliche in dir, fordert das Äußere, deinen Menschen. Das heißt: Du forderst dich selbst! Denn du - dein Inneres - willst heim und regst dich - dein Äußeres - an, die nächsten Anstrengungen zu unternehmen. Dein höheres Selbst, wenn dir dieser Ausdruck besser gefällt, kann so an der Entstehung von Situationen beteiligt sein, die du dir als Mensch in dieser Form niemals gewünscht oder geschaffen hättest. Du hättest sie sogar gemieden. Doch die seelische Evolution - merkst du, wie sich wieder ein Kreis schließt? - ist nicht aufzuhalten. Auch hierbei hilft die Finsternis, ohne daß sie es weiß, und ohne daß es ihre Absicht ist. Denn jede bestandene Prüfung bringt dich voran.

Hatte ich nicht vor kurzem gedacht: "Und ständig pfuscht der eine dem anderen ins Handwerk ‘rein, indem er versucht, das, was der Gegner gerade ankurbelt, zu unterminieren"? Das war’s doch - wenn auch nicht so elegant formuliert wie durch mein Licht. Diesmal wurde ich nicht korrigiert. Vielleicht aus Nachsicht, wegen meines Gegenlicht-Erlebnisses.

Und um das Thema abzuschließen: Da du schon seit geraumer Zeit Wissen über Wissen erhältst und dich auch bemühst, es deinem Vermögen entsprechend ... [ "schrittchenweise", sagte ich] ... genau das meine ich, also schrittchenweise umzusetzen, durften die Aufgaben ein wenig anspruchsvoller werden.

Oh, wie ich mein "altes", echtes und vertrautes Licht mochte!