Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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11.

Donnerstag abend gegen 19.00 Uhr klingelte das Telefon. Maria Gollberg war am Apparat. Als ich ihre gedrückte Stimme hörte, ahnte ich, was geschehen war. Sie bestätigte es mir.

"Mutter ist am Nachmittag gestorben. Es ging alles ganz plötzlich. Sie hat zwar die letzten Tage viel gelegen, aber nichts deutete darauf hin, daß es so bald schon zu Ende gehen würde. Zumal sie ja nicht richtig krank war." Maria weinte jetzt leise.

"Ich glaube, sie hat es gewußt", antwortete ich. "Und da sie keine Angst hatte, war es ihr auch nicht wichtig, groß darüber zu sprechen. Für sie, so habe ich sie kennengelernt, gehörte das Sterben genauso zum Leben wie die Geburt. Dabei hat sie, wenn es ging, das Wort Tod oder Sterben vermieden, aber es ist halt unser Sprachgebrauch. Sie sprach lieber davon, daß sie geht - in eine andere Welt."

"Das hat sie auch an dem Nachmittag getan. Sie sagte zu mir: ‘Maria, ich glaube, bald ist es so weit’, und dabei strahlte sie mich fast an. Ich wußte nicht, ob ich heulen oder mich zusammennehmen und ihr was Aufmunterndes sagen sollte." Das Weinen hatte sich etwas verstärkt. "Sie war eine starke Frau und für mich die beste Mutter, die ich mir vorstellen kann."

"Maria", ich bemerkte nicht, daß ich sie mit Vornamen anredete, "wenn es Ihnen recht ist, komm’ ich morgen vormittag vorbei. Wegen der Beerdigung müssen wir sicher einiges bereden."

"Ja, darum wollte ich Sie bitten." Ich spürte, daß sie dabei war, sich wieder zu fangen. Es gab Praktisches zu tun, so manches mußte vorbereitet, entschieden und in die Wege geleitet werden. Das würde sie ein wenig von ihrem Kummer ablenken. "Der Doktor war heute nachmittag da, auch mein Bruder, der sich um die Formalitäten kümmert. Die Beerdigung wird vermutlich Montag oder Dienstag stattfinden, das werden wir morgen früh erfahren. Den Rest besprechen wir dann, wenn Sie hier sind."

"So machen wir es. Und wenn der Schmerz zu groß wird, dann denken Sie daran, was Elisabeth getan hätte ..."

"Ja?"

"Sie hätte sich hingesetzt, ihre Sorgen und ihr Weh betrachtet und diese ins Verhältnis gesetzt zu dem großen Leid, das überall auf der Welt herrscht, und von dem sie verschont worden ist. Und dann hätte sie gesagt: ‘Lieber Gott, ich danke dir, daß ich nicht mehr tragen muß. Und daß du das bißchen auch noch mit mir trägst.’ So hat sie es mir einmal erzählt."

"Es tut gut, mit Ihnen zu sprechen." Maria hatte jetzt aufgehört zu weinen. "Bis morgen also, und eine gute Nacht."

Ich rief Peter an, erzählte ihm, daß Elisabeth Scheffler gestorben war und sagte ihm, daß ich morgen früh etwas später ins Büro käme. Ihm kam der Gedanke, mit zur Beerdigung zu gehen. Er hatte meine Lehrerin ebenfalls gekannt, wenn auch nicht so gut wie ich. Mir war das deshalb sehr recht, weil ich moralischen Beistand gewiß würde brauchen können.

Anschließend informierte ich Anne; auch sie entschied sich, an der Beerdigung teilzunehmen. Elisabeth Scheffler war ihr nicht fremd. "Außerdem ist das eine gute Gelegenheit, dich mal wieder in den Arm zu nehmen. Ich werde sicher einen Tag frei bekommen - Stunden zum Abfeiern haben sich genug angesammelt. Auf Peter und Katharina freue ich mich natürlich auch. Die hab’ ich lange nicht mehr gesehen", meinte sie.

"Und dein Michael, mein künftiger Schwiegersohn? Kommt der auch mit?"

"Du sollst nicht lästern Papa. Es steht ja noch gar nicht fest, ob er dein Schwiegersohn wird! Allerdings", räumte sie ein, "die Aussichten dafür sind gar nicht so schlecht. - Aber im Ernst, er wird nicht mitkommen können. Er bereitet sich gerade auf eine Prüfung vor."

Damit verabschiedeten wir uns voneinander. Ich nahm mir die Zeit, tief in mein Inneres einzutauchen und sandte aus dieser Stille und diesem Frieden heraus meine Lichtgedanken an Elisabeth und ihre Angehörigen, wobei ich die Liebe Gottes bat, meine Empfindungen und Gedanken zu begleiten und zu verstärken. Plötzlich hatte ich die Gewißheit, daß Elisabeth auf einer Straße des Lichtes unterwegs war. Das machte liebevolle Gedanken und aufrichtige Gebete nicht überflüssig; sie stellten immer eine Segensenergie dar und wurden von jedem dankbar angenommen. Doch mir war es Trost und Hilfe, die ich vielleicht auch an die Teilnehmer der Trauerfeier weitergeben konnte.

Als ich Maria am nächsten Morgen aufsuchte, sah man ihr die Spuren der Trauer zwar an, aber es war auch schon wieder Leben da. Sie erzählte mir noch ein paar Details, wozu auch der Besuch ihres Bruders gehörte, der einen Tag vor Elisabeths Tod ein längeres Gespräch mit ihr geführt hatte.

"Es ging dabei aber nicht um ihre Beerdigung, da hat sich seine Ansicht sowieso nicht geändert. Die zwei hatten wohl ein paar grundsätzliche Dinge zu besprechen. Es hat in den letzten Jahren einiges in Volkers Verhalten gegeben, das ihr weg getan hat, auch wenn sie kaum darüber gesprochen hat. Ich wünsche beiden, daß sie das ausräumen konnten. Mein Bruder hat mir nicht gesagt, um was es ging."

"Aber die Beerdigung ...?" fragte ich.

"Sie wird so ablaufen, wie Mutter es sich gewünscht hat. Ich habe das Volker klargemacht." (Ich zog im Stillen meinen Hut vor ihr.) "Er wird es mehr oder weniger zähneknirschend akzeptieren. Er ist halt so, doch er hat auch seine guten Seiten." Sie sagte es fast entschuldigend und sah mich dabei bittend an, so als möge ich ihn doch verstehen. Ich verstand ihn ja auch. Niemals hätte ich im Traum daran gedacht, mich in irgendeiner Form hier einzumischen (wie käme ich auch dazu), wenn es nicht Elisabeths Wunsch gewesen wäre.

Ich bat Maria, mir ein paar Einzelheiten aus dem Leben ihrer Mutter zu erzählen, wobei ich ihr sagte, daß ich nicht vorhätte, dies zum Mittelpunkt meiner Ansprache zu machen. Das hätte Mutter auch nicht gewollt, war auch Marias Ansicht. Es könnte sein, erklärte sie mir dann noch, daß weitere Redner sich anmelden würden, vielleicht ein ehemaliger Schulrat, der in etwa in Elisabeths Alter war und sie gut gekannt hatte. Und vielleicht auch noch jemand vom örtlichen Gesangverein, den sie vor 40 Jahren mit gegründet hatte und in dessen Vorstand sie viele Jahre tätig gewesen war. Darin sah ich kein Problem, und wir verblieben so, daß sie mich anrufen würde, sobald der Beerdigungstermin feststand ("das wird sicher heute morgen noch geschehen"). Ansonsten würden wir selbstverständlich in Verbindung bleiben und uns wahrscheinlich vorher auch noch einmal sehen.

Sie brachte mich zur Tür. Als wir uns verabschiedeten, ließ sie meine Hand nicht gleich los. Ich hatte den Eindruck, sie wollte mir etwas sagen, konnte es aber wohl nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Da sagte ich ihr etwas.

"Ihrer Mutter geht es gut."

Sie hielt mich nicht für einen Spinner. In ihren Gesichtsausdruck traten neben Traurigkeit auf einmal Hoffnung und Mut. Ohne daß es einer von uns beiden gewollt hätte, aber auch ohne daß es uns störte - es schien im Gegenteil das Natürlichste der Welt zu sein -, legte sie ihren Kopf an meine Schulter und ich meinen Arm um sie. So standen wir einige Augenblicke da; ich konnte nicht verhindern, daß mir eine Träne die Wange hinunterlief. Schließlich löste sie sich. Nachdem sie sich die Nase geputzt hatte, sagte sie mit dem ersten kleinen Lächeln an diesem Morgen: "Danke."

*

Die Friedhofskapelle begann sich zu füllen, das nahm ich aus den Augenwinkeln heraus wahr. Peter, Anne und ich waren frühzeitig eingetroffen. Man hatte mir angeboten, daß ich mich in einen kleinen Raum, in dem sich ansonsten die Geistlichen umziehen und vorbereiten, zurückziehen könnte. Das wollte ich nicht, ich wäre mir dann womöglich noch einsamer vorgekommen, als ich mich ohnehin fühlte.

Vor der Kapelle hatte ich Maria und Volker getroffen, wir hatten uns begrüßt (Volker war mir gegenüber von größter Zurückhaltung) und dann gemeinsam die Aussegnungshalle betreten. Maria hatte sich zwischen uns Männer gesetzt, rechts und links von uns hatten Verwandte Platz genommen, die ich nicht kannte.

Mir war schon ein wenig eigenartig zumute. Peter und Anne hatten sich natürlich nach meinem Gemütszustand erkundigt. Ich konnte sie beruhigen: nervös, ängstlich oder übermäßig angespannt war ich nicht. Aber ungewohnt war es für mich; eine Sicherheit, wie ich sie sonst an den Tag legte, mußte sich erst noch einstellen. Bei anderen gehörte das Abhalten einer Trauerfeier regelmäßig zu ihrer Berufsausübung, ich machte so etwas zum ersten Mal. Hinzu kam, daß ich eine Distanz zwischen einigen Trauergästen und mir verspürte, die greifbar war. Der Gedanke jedoch, daß sich Elisabeth doch lieber etwas anderes hätten wünschen mögen, als eine Beerdigung durch mich, kam mir nicht. So war es vorgesehen, und so würde ich es im Andenken an unsere Freundschaft tun.

Maria machte mich darauf aufmerksam, daß der Harmoniumspieler seinen Platz eingenommen hatte. Ich machte ihr mit den Augen Mut. Fast schien es mir, als wäre das nicht nötig, als wolle im Gegenteil sie mir sagen: Du wirst deine Sache schon gut machen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, ich - wie von Elisabeth gewünscht - einen mehr hell- als dunkelgrauen Anzug, dazu ein hellblaues Hemd und eine blaue Krawatte. Alle anderen trugen Schwarz.

Wir hatten uns selbstverständlich über den Ablauf unterhalten und ihren Bruder mit einbezogen in die Überlegungen. Maria hatte zwei Lieblingslieder von Elisabeth vorgeschlagen. Ansonsten gab es nicht viel zu bereden. Nach mir wollten, wie Maria schon vermutet hatte, noch zwei Redner sprechen. Keiner hatte mich gefragt, was ich sagen würde. Ich hätte es ihnen auch kaum sagen können. Zwar hatte ich mir einige Notizen gemacht, aber es waren eigentlich mehr Gedanken und Stichworte; eine Rede, ausgetüftelt und fein säuberlich formuliert, hatte ich nicht vorbereitet.

Die Halle war inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Türen waren aber nicht geschlossen, weil sich draußen mehr und mehr Menschen ansammelten. Elisabeth war in ihrem Stadtteil eine bekannte und angesehene Persönlichkeit gewesen.

Der Sarg wurde hereingeschoben, dann erklang "Ich bete an die Macht der Liebe". Ich blieb danach noch für einen Augenblick sitzen. Als ich mich erheben wollte, um ans Mikrofon zu gehen, bemerkte ich, daß Volker unmittelbar vor mir aufgestanden war. Er drehte sich zu den Anwesenden um und sagte:

"Verehrte Trauergäste, wir sind hier zusammengekommen, um meine Mutter, Elisabeth Scheffler, auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Der Ablauf der Trauerfeier, das möchte ich ausdrücklich betonen, entspricht ihrem Willen. Somit war und ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Aber", er machte eine ganz kleine Pause, "er entspricht nicht ganz unseren Vorstellungen. Lassen Sie uns dennoch diesen Abschied in einer inneren Haltung begehen, die dem Anlaß gerecht wird."

Er setzte sich wieder, ohne mich anzusehen. Ich schaute Maria flüchtig an und meinte, eine leichte Blässe in ihrem Gesicht zu bemerken. Doch ich mußte mich auf das konzentrieren, was vor mir lag. "Wenigstens hat er das Wort ‘Atheist’ nicht gebraucht", dachte ich, "darin will ich was Positives sehen." Ich stand auf, festen Schrittes, aber nun doch mit einem leicht erhöhten Puls, und trat ans Rednerpult. Das Blatt mit meinen Notizen legte ich vor mich hin und ließ dann meinen Blick für einige Sekunden auf den Anwesenden ruhen. Eine spürbare Spannung lag über der Versammlung.

Ich Bin da.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es war klar und unmißverständlich.

"Liebe Angehörige, liebe Bekannte und liebe Anwesende", begann ich, "der Mensch, den wir als Elisabeth Scheffler kannten und liebten, hat uns verlassen. Das ist für die meisten von uns ein Grund, traurig oder betroffen zu sein, je nachdem, wie nahe ihr der einzelne stand. Wir sind Menschen, und so lange wir leben, leben Empfindungen, Gefühle und Gedanken in uns. Da wäre es verwunderlich, wenn wir nicht berührt würden von dem Verlust eines geliebten und geachteten Menschen. Aber ich meine, es ist ein Unterschied, ob wir uns in unsere Trauer hineinfallen lassen, wohl wissend, daß es zwar einen Gott gibt, dem wir aber in diesen Stunden und Tagen wenig trauen. Und ob wir dabei immer wieder ein nutzloses "Warum?" in den Himmel rufen, dessen Antwort - würde sie denn je gegeben - uns kaum zufriedenstellen würde.

Oder ob wir uns, im Vertrauen darauf, daß es diese andere, wenn auch vielen unzugänglich erscheinende Macht gibt - daß wir uns mitsamt unserem Schmerz dieser Macht in die Arme legen. Wer Elisabeth Scheffler gut gekannt hat, der weiß wie ich, daß sie letztere Lösung in vielen Situationen ihres Lebens bevorzugt hat."

Ich schaute bewußt die Menschen vor mir an; einige, die zuvor nur einfach vor sich hingeschaut hatten, schenkten mir inzwischen ihre Aufmerksamkeit. Als mein Blick auf Anne fiel, nickte sie mir fast unmerklich zu. Deutlich hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein; so ähnlich hatte ich schon oft die stille Anwesenheit des Lichtes verspürt.

"Als ich von ihr gebeten wurde, diese letzten Worte zu sprechen, fiel mir zuerst das Lied ein "Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ew’gen Heimat zu". Die meisten von Ihnen werden es kennen. Doch dann sagte ich mir: ‘Dieser Text ist mit Sicherheit schon viele Male zur Grundlage einer Ansprache gemacht und ausgelegt worden’. So kam mir das Gleichnis vom verlorenen Sohn in den Sinn, das Ihnen allen bekannt ist. Dieses Gleichnis hat einen interessanten Aspekt, der zumeist übersehen wird. Er betrifft die Entscheidung für den Heimweg und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen. Denn wer sich auf den Weg macht, um in sein Vaterhaus zurückzukehren, der weiß, daß er eines hat. Wer sich also in diesem Beispiel erkennt, kann sich nicht als gleichzeitig als verloren ansehen, da er auf dem Rückweg in seine Heimat ist. Wann und warum er sie einmal verlassen hat, das sei dahingestellt. Er ist also nicht hier als ein Produkt des Zufalls, weil sich seine Eltern einmal geliebt und ihm das Leben gegeben haben, sondern er ist hier auf einer Art Zwischenstation. Seine Heimat hat er verlassen, dann ging er in die Fremde um zu lernen und zu erkennen, dann kehrt er aus eigenem Entschluß wieder in seine Heimat zurück."

Maria schaute mich mit großen, ruhigen Augen an, Volker blickte zu Boden. In der Halle war es mucksmäuschenstill.

"Von Elisabeth Scheffler habe ich im Laufe unserer langen Bekanntschaft viel gelernt. Nicht nur, weil sie viele Jahre lang meine Lehrerin war. Damals konnte sie uns Kindern ...", ich sah einige meiner ehemaligen Klassenkameraden an, die in einer der hinteren Reihen beisammen standen und nickte ihnen zu, "nur Grundkenntnisse vermitteln. Nein, was ich von ihr gelernt habe, betraf das Leben. Die meisten von uns kannten sie als eine Frau, die gradlinig und dennoch flexibel genug war, um sich nicht sinnlos den Kopf einzurennen und sich und anderen dabei weh zu tun ..."

Jetzt kam ich an die Stelle, an der ich es für notwendig hielt, in einem kleinen Rückblick ihr Leben zu streifen. Aber eben nur zu streifen, mehr nicht. Mehr wäre nicht ihr Wunsch gewesen. Ihr Anliegen war vielmehr ein Leben lang, von der Theorie weg zur Praxis zu kommen. Dabei fielen ihr ständig die verrücktesten Beispiele ein, die aber dennoch - das konnte ich neidlos zugeben - meistens ins Schwarze trafen. Nach der kleinen Betrachtung ihres Lebenswerkes fuhr ich fort:

"Ich weiß, daß es die Regel ist, gerade bei einer Beerdigung von der oder dem Verstorbenen zu sprechen. Darauf möchte ich verzichten, dafür aber etwas tun, von dem ich weiß, daß es viel eher ihrer Art entsprochen hat."

Eine kleine Pause unterstrich die Bedeutung des Folgenden.

"Was hätte Elisabeth Scheffler zu sagen, uns allen zu sagen, wenn sie an meiner Stelle hier stehen würde? Am deutlichsten macht dies ein kleines Beispiel. Sie sagte mir eines Tages:

‘Stell dir vor, du hast einen Unfall, wirst bewußtlos und wachst im Krankenhaus auf, beide Beine in Gips.’

‘Und dann?’ fragte ich.

‘Kannst du dir vorstellen, daß du den Unfall gar nicht hattest, sondern ein anderer?’

‘Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz’, antwortete ich. ‘Ein anderer hat einen Unfall, und ich wache auf mit Gips an den Beinen?’

‘Genauso meine ich es.’

‘Also, wenn ich Sie nicht besser kennen würde ...’ meinte ich damals. ‘Natürlich ist das unmöglich.’

‘Du meinst also nicht, daß ein anderer was verursacht hat, das du jetzt auslöffeln mußt? Gut, dann mußt du daran glauben, daß etwas, das dir zustößt, auch etwas mit dir zu tun hat!’ Jetzt war sie wieder ganz Lehrerin. ‘Wenn diese einfache Logik zutrifft, dann versuche doch einmal herauszukriegen, warum die Menschen an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln, wenn es um ihr Schicksal geht.’

Ich sehe noch genau den Waldweg vor uns, auf dem wir spazierengingen. Es war ihr ernst mit dem, was sie sagte und fragte. Und da sie einer von den Menschen war, die nicht gleich die Antwort verrieten, sondern darauf baute, daß der Schüler - denn das war ich ein Leben lang für sie - auch seinen Verstand gebrauchte, vertiefte sie das Thema an dieser Stelle nicht. Später, als ich die Lösung gefunden hatte, haben wir nochmals darüber gesprochen.

‘Siehst du’, sagte sie, ‘eigentlich ist es ganz einfach. Jeder weiß, daß nicht du mit einem Brummschädel aufwachst, wenn dein Nachbar zu viel getrunken hat. Keiner verläßt den Weg der Logik. Wenn es jedoch um Gott geht, dem wir eigentlich zutrauen könnten, daß Seine Gesetze noch viel präziser arbeiten als unsere, dann setzt unser Verstand auf einmal aus, und wir verlassen doch den Weg der Logik. Dann unterstellen wir Ihm, daß Er uns etwas zu lernen oder zu tragen gibt, das mit uns nichts zu tun hat. Nur weil wir uns nicht mehr daran erinnern können, daß es sehr wohl uns betrifft! Da nehmen wir lieber Zuflucht zu den ‘Geheimnissen Gottes’, in die der Mensch doch nicht eindringen kann. Sicher gibt es die, daß sich aber dahinter Ungerechtigkeit und Willkür verbergen, das glaube ich nicht. Und nicht nur das: Ich weiß, daß es so nicht ist.’

‘Und warum nicht?’ fragte ich sie und erhielt die, ich möchte beinahe sagen klassische Antwort, die mich nie mehr losgelassen hat, und die ich - leider - viel zu spät verstanden habe:

‘Weil Gott die Liebe ist.’

Wenn Elisabeth Scheffler an meiner Stelle hier stände, dann würde sie von der Liebe Gottes sprechen, in der es keinen Tod gibt, sondern nur Leben. Doch weil sie das nicht kann, möchte ich es für sie tun."

Ich glaube, es gab keinen in und vor der Halle mehr, der nicht inzwischen aufmerksam meinen Worten lauschte. Eine solche Rede war etwas Neues für sie; keiner hatte so etwas erwartet, mich selbst eingeschlossen. Einerseits war ich überrascht, andererseits auch wieder nicht. War ich doch nicht allein. Auch dazu fiel mir Elisabeth ein, die einmal gesagt hatte: "Die Menschen wundern sich immer, wenn mal was gut geht, wenn beispielsweise ein Gebet erhört wird. Eigentlich sollten sie sich wundern und hinterfragen, wenn es nicht erhört wird."

Meine ganze Konzentration galt wieder meiner Ansprache. Ich schaute kurz auf den Zettel vor mir und fuhr fort:

"Nichts liegt mir ferner, als eine neue Lehre oder Religion zu kreieren. Das konnte und wollte Frau Scheffler nicht, ich ebensowenig und sicher keiner von uns." Ich ließ meinen Blick kurz durch die Friedhofshalle schweifen, um dann weiterzumachen: "Es geht um etwas ganz anderes, eigentlich um genau das Gegenteil. Anstatt wieder neue Ideen in die Welt zu setzen, mit denen sie bereits überreich gesegnet ist, scheint es notwendig zu sein, zu den Ursprüngen zurückzukehren, zu dem, was die christliche Lehre ausmacht - zur Liebe, zur selbstlosen Liebe, die in ihrer höchsten Form die bedingungslose Liebe ist.

Diese Liebe kam in Jesus von Nazareth in diese Welt. Es war die Liebe eines göttlichen Vaters, der alle Kinder ohne Ausnahme wieder an Sein Herz zurückholen will und wird. Was haben wir uns in beinahe 2000 Jahren bemüht, diese einfache Lehre - nicht im Sinne von primitiv oder armselig, das wissen Sie so gut wie ich, sondern in ihrer natürlichen, selbstverständlichen Begreifbarkeit - was haben wir uns bemüht, sie zu interpretieren und zu erläutern! Was meinten wir, nicht alles in sie hinein- und aus ihr herauslesen zu können und zu müssen - anstatt sie zu befolgen! Man kann nur gut mit dem Herzen sehen, hören und denken. Wie oft haben wir es gehört oder gelesen, vielleicht selbst gesagt! Und wie schwer fällt es uns doch, wenn wir es anzuwenden versuchen. Da nehmen wir viel eher Zuflucht zu unserem Intellekt, und sehen dann nur noch die Buchstaben und Worte. Was sie beinhalten, erschließt sich uns nicht mehr.

Dabei wäre es so einfach. Ich bitte Sie - und ich weiß, daß das gewiß im Sinne von Elisabeth Scheffler ist -, mir für einen Moment gedanklich zu folgen. Wenn Gott für Sie die Liebe ist, wie immer man sich diese Liebe auch vorstellen mag, und wenn sie das Höchste, Größte und Mächtigste der gesamten Schöpfung darstellt, dann lassen Sie zu, daß sich Ihr Herz aufschließt und erkennt: In dieser Liebe ist kein Platz für irgendeinen Gedanken der Strafe, Drohung, Angstmacherei, Verdammung oder ähnliches. Und wenn sich Seine Kinder hundert- und tausendmal gegen Ihn versündigen: Er ist und bleibt die Liebe. Und wenn wir daran glauben und Seine Liebe als das Allumfassendste einstufen, müssen wir Ihm auch die Allmacht zuschreiben. Die Allmacht, spüren wir für einen Augenblick in dieses Wort hinein, aber läßt sich keines ihrer Kinder nehmen. Sie hat im Gegenteil alle Möglichkeiten, alle Macht, einen Rückweg anzubieten und bereitzustellen.

An eine solche Liebe zu glauben, sich ihr anzuvertrauen und in allem, was sie uns zu lernen vorsetzt, den Wunsch Gottes zu erkennen, daß das verlorene Kind doch möglichst bald reif und stark genug wird für die Heimkehr und Ankunft im Vaterhaus - das bedeutete für Elisabeth Scheffler Hinwendung und Hingabe. Auch, wenn diese unvollkommen bleiben muß, weil es hier keine Vollkommenheit gibt. Darin, wenn wir denn menschliche Vorbilder brauchen, könnte sie uns auch im nachhinein Vorbild sein. Auch wenn ich weiß, daß sie eine solche Vorstellung vehement ablehnt."

Ich hatte bewußt nicht "ablehnen würde" gesagt, in der Hoffnung, daß der oder die eine oder andere den "Versprecher" vielleicht zum Anlaß nehmen würde, darüber nachzudenken. Mein Blick traf den von Peter, der mir ein angedeutetes Lächeln schickte.

"Und es bedeutete noch etwas für sie ...", kein Husten, Räuspern oder Schneuzen war zu hören, " ... es bedeutete für sie Freiheit. Es bedeutete, sich zu lösen aus einem gefesselten Denken, die Seele atmen zu lassen und ohne Ängste leben zu können. Wußte sie doch, daß es Einen gab, der sie liebte. Und der ihr, wenn ihre Beine schon einmal in Gips lagen, damit das zu lernen vorsetzte, was sie wiederum ein Stück voranbrachte, ihrer Freiheit ein Stückchen näher."

"In der Halle ist es totenstill geworden", dachte ich und erinnerte mich daran, daß ich mir auch zu den Punkten Leben und Weiterleben ein paar Notizen gemacht hatte und vorsichtig etwas zum "sogenannten Tod" sagen wollte. Von der Liebe leitete ich den schon erwähnten Gedanken "Leben" ab, sprach darüber, was für eine Bedeutung Leben für Elisabeth und mich hat (wieder keine Vergangenheitsform), daß Gott das Leben ist und außerhalb von Ihm nichts existiert. Seine Botschaft an mich kam mir in den Sinn, die Er mir durch mein Licht hatte zukommen lassen.

"Alles Leben ist aus Ihm, für jeden von uns trifft das zu", wieder schaute ich in die Runde, "denn Er ist das Leben. Und was immer der einzelne auch von Ihm halten mag: Daß Er Sein eigenes Leben ablehnt, zerstört oder vernichtet, das wird Ihm sicher keiner zutrauen."

Langsam kam ich zum Schluß. "Ich bin auch davon überzeugt, und Elisabeth war es ebenso, daß unser himmlischer Vater kein Gott der Traurigkeit und Trübsal ist. In dem Punkt mögen wir ein naives Vorstellungsvermögen haben, das macht nichts. Doch ich glaube, daß es hilfreich sein kann, sich auf eine kindliche Weise dem Vater zu nähern, sonst bleiben wir Ihm möglicherweise fern, wenn wir in Ihm nur den gewaltigen Schöpfer und den ehrerbietig anzusprechenden Gott sehen, dem Lob und Preis gilt. Ihm gilt in erster Linie unser Ja als Kind, auch wenn wir es noch stotternd oder zaghaft sagen, weil wir uns erst wieder daran gewöhnen müssen, Ihm frei und aufrecht zu begegnen. Zu lange haben wir uns Ihm nur befangen, verschüchtert und verkrampft genähert.

Er ist und bleibt für uns alle ein wunderbarer Vater, war und ist uns in Jesus Christus Freund und Bruder. Er ist noch viel, viel mehr. Mutlos und schwermütig aber ist Er sicher nicht. Wir könnten uns bemühen - zumindest sollten wir es versuchen -, es ebenso zu halten, auch wenn der Anlaß für uns, die wir noch Menschen sind, traurig ist."

Ich wandte mich in Richtung Harmonium. "Sie hat sich das Lied ’Von guten Mächten wunderbar geborgen’ gewünscht. - Vielleicht gelingt es uns, in die gleiche Geborgenheit zu finden, die sie bereits verspürt." Dann steckte ich meinen Zettel wieder ein und ging an meinen Platz zurück.

Maria legte ihre Hand auf meine und drückte sie kurz. Nachdem das Lied verklungen war und ein weiterer Redner ans Mikrofon ging, flüsterte sie mir zu:

"Ich weiß, warum Sie die Rede halten sollten."

"Jetzt weiß ich es auch", flüsterte ich zurück.

Als auch der zweite Redner fertig war, wurde der Sarg hinausgefahren, und wir gingen zum Grab. Ich sprach ein Gebet, trat dann zurück und schließlich ganz an den Rand. Eine große Anzahl von Trauergästen warf Erde oder Blumen auf den Sarg und sprach im Stillen ein kurzes Gebet. Viele gingen zu Maria und Volker und drückten den beiden stumm oder ein paar Worte murmelnd die Hand. Einige der um mich Herumstehenden schauten mich aufmerksam an, zwei oder drei nickten mir zu; einer, hatte ich den Eindruck, wäre beinahe auf mich zugekommen, überlegte es sich dann aber doch.

Bis jetzt hatte ich kaum Gelegenheit, an mein Licht ein paar Worte des Dankes zu richten. Ich tat es, nicht meditativ, nicht mit geschlossenen Augen, sondern einfach, indem ich mich mit meinen Gefühlen und Gedanken nach innen wandte. Das brauchte keiner zu bemerken, und es bemerkte auch keiner. Dann sagte ich noch:

"Das war so konzentriert, so dicht in der letzten Stunde, ich mußte so viel reden. Ich habe dich nicht wirklich vergessen, aber auch nicht ununterbrochen an dich gedacht. Vielleicht weil ich wußte, daß du da warst."

Es war noch jemand da. Er hat es dir gesagt. (Richtig, aber das war noch zu neu für mich.) Du mußt nicht ununterbrochen an Ihn denken, keiner muß das. Zum einen kann man das nicht, weil es das Konzentrationsvermögen übersteigt; zum anderen ist es nicht erwünscht, weil es ein sinnvolles Handeln unmöglich macht. Es geht nicht darum, an Ihn zu d e n k e n , sondern Seinen Willen zu erfüllen. Wenn du dich entscheidest, etwas selbstlos zu tun, handelst du in Seinem Namen. Für die Durchführung deines Tuns - was immer es sein mag - mußt du deine Fähigkeiten und Kenntnisse einsetzen. Dazu bedarf es deiner ganzen Aufmerksamkeit, du mußt "bei der Sache sein". Wenn deine Motivation für eine Handlung die richtige ist, dann ist Er es, der dir zur Seite steht. Du mußt nicht extra deine Gedanken auf Ihn richten. Du denkst an Ihn, indem du handelst. Und du betest Ihn an, indem du Seinen Willen erfüllst, nicht indem du zu Ihm betest. Das wirst du darüber hinaus aus freien Stücken tun.

Das war mein Licht: In ein paar Sätze kurz und knapp die Weisheit eines halben Lebens verpackt!

"Während ich also eben geredet habe ..."

... hast du ununterbrochen an Ihn gedacht.

Als bis auf die Verwandten und engen Freunde und bis auf Peter und Anne fast alle gegangen waren, kam Volker auf mich zu. Er streckte mir die Hand hin. "Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten."

Alles hätte ich erwartet, nur das nicht. Ich nahm seine Hand und schaute ihn an. Er wich meinem Blick nicht aus.

"Lassen wir’s gut sein", entgegnete ich. "Auch ich habe viel gelernt in der letzten Stunde."

Aus den Augenwinkeln heraus hatte ich registriert, daß Maria uns beobachtete. Als sie sah, daß wir vernünftig miteinander sprachen, kam sie mit einem Lächeln auf uns zu.

"Gehen Sie noch mit auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen? Was Warmes wird mir guttun. Mir ist ein bißchen kalt geworden." Sie rieb sich die Hände. Ehe ich antworten konnte, meinte Volker:

"Das wollte ich Sie auch gerade fragen. Es ist nicht weit." Er deutete mit seiner Hand auf das nicht weit entfernte Friedhofstor. "Links ‘runter, nach 300 m rechts, auf der Ecke das Café."

"Wenn ich meine Tochter mitbringen kann?" Natürlich ging das. Peter verabschiedete sich, er fuhr noch ins Büro. Ich hatte mir für heute freigenommen.

"Erzähl’ Eva nicht zu viel", rief ich ihm noch nach. "Die hält mich sowieso bald für ..." Ich ließ offen, was ich meinte.

Anne hakte mich unter, und wir gingen in Richtung Café. "Ich bin mächtig stolz auf dich", sagte sie nach ein paar Schritten. "Alles hätte ich dir zugetraut, nur so etwas nicht."

"Laß dich ausnahmsweise mal korrigieren." Ich lächelte sie zwar an, meinte es aber ernst. "Stolz auf was zu sein ist nie gut." Sie wollte protestieren, doch ich redete weiter. "Ich weiß ja, wie du es meinst", milderte ich meine Worte ab. "Das betrifft auch nicht dich, sondern vielmehr mich, dem so etwas wie Butter oder Sahne ..."

" ... oder Olivenöl", scherzte sie in Anspielung auf meine Pizzabäckerei.

" ... oder Olivenöl ‘runtergeht. Lob ist Gift, habe ich mal gelesen [ oder hatte mein Licht es mir gesagt?] und es nicht geglaubt. Doch inzwischen weiß ich’s. Allerdings gibt es Ausnahmen."

Sie schaute mich fragend an.

" Kindern kann man damit Mut machen, und hübsche Töchter brauchen so etwas einfach, schon damit sie noch hübscher werden."

Sie knuffte mich in die Seite, und dann waren wir da.

Ein paar Minuten später saßen wir zwischen etwa dreißig uns weitgehend unbekannten Leuten. Maria hatte mir durch eine Geste zu verstehen gegeben, daß sie uns an ihrem Tisch bedauerlicherweise keinen Platz hatte freihalten können. Das fanden wir überhaupt nicht tragisch. Es dauerte gar nicht lange, da begann sich die anfänglich noch gedrückte Stimmung zu lockern. Die Gespräche wurden etwas lebhafter, alte Bekanntschaften wurden aufgefrischt, und Elisabeth, die zu Anfang noch im Mittelpunkt der Unterhaltungen stand, trat mehr und mehr in den Hintergrund. Das wäre ihr sicher recht gewesen.

Neben mir saß ein junger Mann, der sich angeregt mit seiner Cousine unterhielt, die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Von zwei älteren Damen mir gegenüber wurde ich in ein Gespräch über die Vorzüge der Naturheilkunde und Ganzheitsmedizin verwickelt (sie liefen bei mir offene Türen ein), und Anne tauschte mit ihrer Tischnachbarin Urlaubserinnerungen aus. Als sich eine der beiden Damen verabschiedete und eine Gesprächspause entstand, wandte sich der junge Mann mir zu. Fast schien es so, als hätte er auf diese Gelegenheit gewartet. Er hatte ein offenes Gesicht; blaue Augen schauten wach in die Welt und sein rotes, struppiges Haar und seine Sommersprossen verliehen ihm einen lausbubenhaften Ausdruck.

"Darf ich Sie mal was fragen?" sprach er mich an. "Übrigens", er streckte mir die Hand hin, "ich bin der Sebastian, um drei Ecken verwandt mit Tante Lissi, wie wir sie immer genannt haben."

Wir gaben uns die Hand, ich überlegte kurz. "Wenn du der Sebastian bist - darf ich du sagen ...?"

"Klar, find’ ich viel besser".

" ... dann bin ich der Ferdinand." Das überraschte ihn ein wenig, aber es freute ihn auch, wie ich ihm anmerkte. "Ferdinand Frei."

"Prima. Ich wollte Sie was fragen ... dich was fragen. Deine Rede hat mir gefallen. Sie war so ganz anders als das, was ich bisher gehört habe." Er unterbrach sich. "Vielleicht muß ich Ihnen ... dir doch vorher was anderes sagen. Ich komme aus einem katholischen Elternhaus und studiere im fünften Semester Theologie. Eigentlich habe ich vor ...", abermals unterbrach er sich und schüttelte leicht seinen Kopf. "Warum habe ich jetzt ‘eigentlich’ gesagt? Also, ich habe es nicht eigentlich, sondern richtig vor. Ich möchte Priester werden. Nach Abschluß des Studiums werde ich auf ein Priesterseminar gehen. So zumindest sind bis jetzt meine Pläne."

"Und nun hast du Fragen, vermutlich auf Grund der Beerdigung bzw. der Dinge, die ich gesagt habe." Es war nicht schwer zu erraten, daß ihn manches beschäftigte.

"Ja, wie schon gesagt, die Ansprache fand ich zwar gut, aber für mich haben sich doch einige Fragen aufgetan. Auch schien mir manches nur angedeutet zu sein."

"Dann hast du aber gut hingehört. Zwei, drei Punkte habe ich wirklich nur angedeutet, und manches stand zwischen den Zeilen. Ich habe sogar einiges weggelassen, weil es nicht hineingepaßt hätte."

"Das meine ich." Er griff nach der Kaffeekanne auf unserem Tisch, schaute mich fragend an, ich sagte "ja, bitte", dann schenkte er uns beiden ein. "Und dazu hätte ich gerne etwas mehr gewußt. Ich habe das Gefühl, du hast noch einiges sozusagen ‘in der Hinterhand’. Das interessiert mich." Eine gesunde Neugierde trieb ihn an. "Ich möchte auch gerne wissen, ob und wie das in mein Weltbild hineinpaßt. Zwar bin ich noch jung, aber ich habe natürlich schon eines, auch wenn es nicht abgerundet ist und zweifelsohne noch Löcher hat wie ein Käse. Aber ohne meine Vorstellungen hätte ich mich nicht entschließen können, einmal Priester zu werden."

"Und wie stellst du dir das vor? Ich glaube, daß sich das nicht in zehn Minuten erledigen läßt."

"So sehe ich das auch. Deshalb hat es wenig Sinn, jetzt und hier", er deutete in den Raum, in dem es inzwischen lebhaft zuging, "damit anzufangen. Oder? Was meinst du? Wir könnten doch nicht mehr als nur ein paar Fragen anreißen ..."

"Und dann wärst du neugieriger als vorher", lachte ich. "Mach’ einen Vorschlag."

"Darf ich dich in den nächsten Tagen einmal anrufen? Ich bin nämlich entweder in der nächsten oder übernächsten Woche nochmals hier. Vielleicht finden wir dann ein bißchen Zeit für meine Fragen."

So verblieben wir. Ich gab ihm meine Telefonnummer und dann erinnerte mich Anne daran, daß wir noch zu Peter und Katharina wollten. Wir standen auf, verabschiedeten uns von unseren Tischnachbarn, und während Anne schon nach draußen ging, trat ich an den Tisch von Maria Gollberg und Volker Scheffler. Beide standen auf, Volker sagte "nochmals herzlichen Dank" und reichte mir die Hand. Wir hatten Frieden geschlossen, das merkte man. Es war ein gutes Gefühl. Sicher hatte er nicht seine Weltanschauung geändert (Warum sollte er auch? Wer hätte das erwarten wollen?), aber die Angst und Unsicherheit waren weg. Vielleicht hatte sogar in dem Punkt, der seine Ansicht über einen Beerdigungsablauf betraf, eine Spur von Fanatismus einer gewissen Weitherzigkeit Platz gemacht. Ich wünschte es ihm.

Maria begleitete mich noch bis vor die Tür. "Es wäre schön, wenn wir uns nicht aus den Augen verlieren würden, obwohl Sie ja jetzt, nachdem Mutter nicht mehr lebt, keinen Grund haben ..." Sie führte den Satz nicht zu Ende und überließ es damit mir, eine Entscheidung zu treffen. Sie hatte, wenn man so wollte, ihre Karten auf den Tisch gelegt. Ich legte meine dazu.

"Wir werden uns nicht aus den Augen verlieren, Maria. Das verspreche ich." (Hatte ich nicht vor vielen Jahren ganz ähnliche Worte zu ihrer Mutter gesagt?)

Ein sanftes Lächeln trat in ihre Augen. "Und danke für alles. Ich erzähle Ihnen später mal, wie es mir jetzt geht." Mit meinem Händedruck sagte ich ihr, daß ich mich auf dieses "Später mal" freute.

Anne stand ein paar Meter abseits, die beiden Frauen winkten sich kurz zu. Maria ging wieder hinein und ich auf Anne zu. Sie hatte die kleine Szene beobachtet, sagte aber nichts dazu, sondern tat mit einem Blick voll rätselhafter Weisheit so, als wisse sie schon viel mehr als ich.

*

Katharina hatte damit gerechnet, daß ich mit Anne vorbeikommen würde. Ihre Tochter Irene war nur ein oder zwei Jahre älter als Anne. Die Kinder waren über einen langen Zeitraum miteinander groß geworden, hatten viel Freud und Leid geteilt und sich auch nicht aus den Augen verloren, als Anne vor Jahren beruflich fortzog. Leider konnte Irene an diesem Nachmittag nicht dazukommen. Die Begrüßung zwischen Katharina und Anne war überaus herzlich; die zwei hatten sich eine Weile nicht mehr gesehen. Anne hatte inzwischen die "Tante" gegenüber Katharina genauso weggelassen wie Irene den "Onkel" bei mir - unsere Kinder waren Erwachsene geworden. Uns hatte das Weglassen gefreut, weil es ihre Beziehung zu uns von der Stufe einer guten Bekanntschaft auf die der Freundschaft hob. Für Anne war ich jedoch immer noch der "Papa". Das würde sie, hatte sie mal gemeint, auch bis an ihr Lebensende nicht ändern.

Katharina wollte Kaffee und Kuchen auftragen, doch Anne und ich vertrösteten sie mit der Bitte: "Laß uns ein bißchen Zeit, wir sind im Moment satt. Verschieben wir’s um eine Stunde."

Hauptthema war natürlich die Beerdigung. Katharina wollte alles möglichst genau wissen. Ich überließ es Anne, davon zu erzählen. Dabei war nicht zu verhindern, daß schließlich doch ein kleines Loblied daraus wurde, das ich mit den Worten abbrach: "Ich habe es gern getan, doch es ist jetzt vorbei. Viel wichtiger als das, was ich gesagt habe, ist doch, daß der eine oder andere etwas zum Nachdenken mitgenommen hat. Wenn auch nur einer von den zahlreichen Anwesenden anfängt, ein paar vorsichtige Schlüsse zu ziehen, war es schon ein Erfolg. Und wenn nicht? Dann war es auch einer, weil ich viel dabei gelernt habe ... Außerdem", fiel mir dazu noch ein, "habe ich mal irgendwo gelesen, sollte man nie auf das Ergebnis fixiert sein."

Anne war damit nicht ganz einverstanden. "Das ist aber doch nur bedingt richtig."

"Sicher, ich habe es auch so verstanden, daß man zwar ein Ziel haben muß, nicht aber - ich sage mal - mit Gewalt darauf zusteuern sollte."

"Aber bemühen muß ich mich doch", meinte Katharina.

"Das ist vermutlich der Knackpunkt." Ich mußte niesen und kam gerade noch rechtzeitig an mein Taschentuch heran. "Bemühen muß ich mich, ernstlich sogar, egal was ich tu. Und dann brauche ich mir auch keine Gedanken über den Rest zu machen. Mehr als bemühen kann ich mich nicht, immer vorausgesetzt, ich habe wirklich alles entsprechend meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten getan. Damit habe ich dann alles getan, was ich tun kann. Und mehr können als ich kann, kann ich nicht. Den Rest lege ich in andere Hände." Ich wußte im Moment auch nicht, woher ich das hatte.

"Wauuu." Anne sah mich erstaunt an. "Das ist ja die halbe Lösung für alle meine Schuldgefühle."

"Du bist ein kleiner Philosoph geworden in den letzten Monaten." Katharinas Blick ruhte für einen Moment auf mir. "Ich hab’ das schon bemerkt, kann mir aber keinen Reim darauf machen." Ich schwieg. Sie wandte sich an Anne.

"Kannst du mir das erklären, wenn er", sie deutete frotzelnd mit dem Kopf auf mich, "uns dumm halten will?"

Anne konnte sich auch keinen Reim darauf machen, wie sollte sie auch! Gott sei Dank wechselten sie gleich darauf das Thema. Anne erzählte von dem, was sie als Krankenschwester erlebte, Katharina von ihrem Garten und Tommi, dem Kleinen von Irene. Inzwischen hatten wir auch ihren Kuchen, eine hervorragende Biskuitrolle mit Sauerkirschen, probiert. Ich war mehr Zuhörer als Teilnehmer, was mir äußerst recht war. Für diesen Tag, hatte ich das Gefühl, war mein Pensum an reden sowieso fast erschöpft.

Nach einer Stunde kam Peter heim. Er hatte eine einzelne Rose für Katharina dabei. "Die lachte mich so an", sagte er, als er sie Katharina überreichte. Dann setzte er sich zu uns. Wir hatten ihm genügend von seinem Lieblingskuchen übriggelassen, und, wie es schien, war er hungrig.

"Macht er das öfters?" fragte Anne.

"Daß er den Rest vom Kuchen ißt?" antwortete Katharina unschuldig mit einer Gegenfrage. Ich mußte lachen.

"Nein, daß er dir Rosen mitbringt."

"Ab und zu schon". Katharina fuhr ihm über die Wange. "Im großen und ganzen kann ich mich nicht beschweren; mir hätte Schlimmeres passieren können."

"Dir?" Peter tat erstaunt. "Ich dachte immer, du wärst schon die Ärmste, Vernachlässigteste, Unterdrückteste und Verkannteste, die es auf der ganzen Welt gibt."

"Das war mal so", gab Katharina zurück. "Es hat sich geändert, als ich anfing, mich auf meine Hinterfüße zu stellen."

"Da wurde ich der Ärmste ..."

"Nein, nein, mein Lieber, da habe ich mir nur mühsam meine 50 Prozent unserer Ehe erkämpft, die mir zustehen."

"Und jetzt kann man’s lassen." Peter lachte. "Nein wirklich, jetzt kann man’s lassen."

Anne nutzte eine kleine Pause. "War es schwierig für euch oder bei euch." Beide schauten sie an. "Wißt ihr", erklärte sie, "das steht für mich ja auch irgendwann mal an. Obwohl ich vorige Woche Papa gesagt habe, das mit dem ‘Schwiegersohn’ würde vielleicht noch was dauern." Sie unterbrach sich.

"Ich habe euch doch von Michael erzählt?" Peter und Katharina nickten." Gerade dachte ich mir, daß so ein kleines Ehe-Rezept nicht schaden kann. Falls es eines gibt, und falls ihr es mir verraten wollt."

Ich war ganz Ohr. Vielleicht würde ich jetzt etwas dazulernen. Wir hatten nie über ein solches Thema gesprochen. Nicht, weil das ein Tabu war, sondern es hatte sich nie die Notwendigkeit ergeben. Die zwei hatten sich schon vor Jahren gut zusammengerauft, so wie das auch bei Judith und mir der Fall gewesen war. Ich hatte mir, allerdings erst nach Judiths Tod, auch meine Gedanken über das Geheimnis einer glücklichen Ehe gemacht. Was würden Katharina und Peter erzählen?

"Also ..." Peter machte eine auffordernde Handbewegung zu Katharina hin, und beide sagten im gleichen Atemzug: "Bitte, du!" Dann übernahm Katharina das Reden.

"Erst einmal gehört eine ganze Portion Humor dazu. Ich meine nicht nur blödeln oder Witze machen, obwohl das auch manchmal auflockernd wirkt, sondern ein Humor, der vielem die Spitze nehmen kann und der einen, am besten öfters am Tag, herzlich lachen läßt. Und den natürlich beide haben müssen. Wenn er nicht von der selben Art ist", sie schaute Peter an und er sie, "macht das nicht ganz so viel. Man ist ja lernfähig."

"Wenn ihr zwei euch in dem Punkt einig seid", ergänzte Peter, "kommt das schon einer ganz guten Versicherung gleich. Aber es ist natürlich noch nicht alles. Was für uns wichtig war: Daß wir ein gemeinsames Ziel hatten. Darüber haben wir uns aber zu Anfang überhaupt keine Gedanken gemacht. Man hält das für selbstverständlich."

"Ist es das nicht?" Anne wandte sich an mich. "Was meinst du, Papa?"

"Ich weiß, was Peter meint. Es kommt darauf an, was man unter einem gemeinsamen Ziel versteht. Möglichst lange wie die Turteltauben verliebt zu sein, auf eine Weltreise zu sparen, ein Haus zu bauen, gemeinsam Reitturniere zu bestreiten und vieles mehr? Natürlich sind das Ziele. Sie können auch kleiner angesiedelt sein: jeden Modegag mitzumachen, möglichst jedes Stadt- oder Dorffest zu besuchen, gut zu essen und zu trinken - das sind auch gemeinsame Interessen.

"Aber es sind nicht die, die auf Dauer halten. Das ist es, was du damit meinst", sagte Anne.

Peter nahm den Faden wieder auf. "Ja, es sind andere Zielsetzungen, die Mann und Frau verbinden, ohne daß die Gefahr besteht, daß die beiden sich auseinanderleben, sobald ein Ziel erreicht ist oder nicht weiter verfolgt werden kann. Oft genug wird so etwas ja auch angestrebt, ohne daß es jemals formuliert worden ist. Die zwei spüren oder wissen das, und dann gehen sie los. Nur, wenn eine entsprechende Absicht nicht besteht, wenn man sich um eines eher zweifelhaften oder vordergründigen Vergnügens willen zusammentut ..."

" ... dann ist viel leichter die Möglichkeit gegeben, daß was schiefgeht", beendete Anne den Satz. "Daran will ich denken, aber ich glaube, die Gefahr besteht bei uns nicht so sehr."

Katharina hatte angefangen, den Tisch abzuräumen. Ob wir uns auf die Couch und in die Sessel setzen wollten, fragte sie. Wollten wir nicht, wir fanden es viel gemütlicher in der Eßecke. Dann schenkte sie uns Männern einen Cognac ("zur Feier des Tages") und sich selbst einen Kirschlikör ein. Anne lehnte ab, sie hatte noch eine Strecke zu fahren. Katharina setzte sich wieder zu uns.

"Das Wichtigste kommt meines Erachtens jetzt." Sie machte es spannend. Peter wußte wohl schon, was kam. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie sah es und boxte ihn in die Rippen.

"Eine Ehe kann nicht gutgehen, wenn nicht ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis herrscht. Ich meine gutgehen, nicht einfach zusammenbleiben, nur damit es keine Scheidung gibt. Das war zu Anfang bei uns nicht gleich so." Peter nickte.

"Mit ausgeglichen meint Katharina halbe-halbe, nicht 49 und 51 Prozent, sondern wirklich zweimal 50. Das war für mich nicht ganz einfach. Ich war doch der Ältere - ich bin es immer noch -, der Erfahrenere ..."

" ... der Klügere", ergänzte Katharina.

"Na, ja." Peter wandt sich ein bißchen wie ein Aal. "Das mußt du nicht sagen; da werd’ ich ganz verlegen ... Aber im Ernst: Es war für uns beide gar nicht so einfach. Katharina mußte sich durchsetzen und sich ihren fehlenden Anteil holen, und ich mußte zurückstecken und ihr von dem größeren Anteil, den ich fälschlicherweise für meinen hielt, ein Stück abgeben." ("Wie sich die Bilder doch gleichen", dachte ich.)

"Weißt du", richtete sich Katharina an Anne, "wenn dieser Kampf - und es ist ein Kampf! - nicht geführt wird, verschiebt sich auf Dauer was. Denn daß von Anfang an die Gewichte gleichmäßig verteilt sind, das kommt höchst selten vor, vielleicht überhaupt nicht. Außerdem geht es auch nicht darum, daß immer der Mann seine Dominanz zurücknehmen muß, umgekehrt ..."

"Hab’ ich mal gelesen", warf ich schnell ein.

" ... umgekehrt kann es genauso sein. Und wenn sich was verschiebt und so bleibt, dann werden beide nicht glücklich damit. Dann entstehen Abhängigkeiten, Unselbständigkeiten, Unfreiheit. Der eine gibt was vor, und der andere tut’s aus Angst oder Trägheit. Nein, nein, dann lieber mal in den sauren Apfel beißen und, nach Möglichkeit von Anfang an und selbstverständlich in aller Liebe, die Weichen richtig stellen. Gell, Großer?" Dabei schaute sie ihren Peter aufmunternd an.

"Ich glaube, ich liebe dich", sagte dieser. Wir mußten alle lachen.

Anne hatte aufmerksam zugehört. Sie fragte: "Kennt ihr das Ying- und Yang-Symbol?" Wir nickten. "Kann man das, was ihr mir gerade über euer Gleichgewicht erzählt habt, nicht damit vergleichen?"

Peter übernahm die Antwort. "Das scheint mir ein gutes Bild zu sein. Jeder ist selbständig und gleichwertig, die Unterscheidung bei den regentropfenähnlichen Formen liegt lediglich in den Farben, beim Menschen würde ich sagen ‘in den Mentalitäten und Fähigkeiten’. Das Wichtigste aber ist, daß beide Formen bei all ihrer Eigenständigkeit erst zusammen ein vollkommenes Ganzes bilden. Das wäre auch für eine Ehe ein erstrebenswertes, wunderbares Ziel. Ob es zu erreichen ist, weiß ich nicht, weil zwei Hälften nicht automatisch ein harmonisches Ganzes ergeben. Aber selbst, wenn es hier auf Erden nicht ganz zu schaffen ist, lohnt doch der gemeinsame Weg dorthin."

"Und er lohnt nicht nur, er macht auch Freude." Damit rundete Katharina Peters Betrachtung ab. Wir schwiegen für einen Moment.

"Ich würde auch gerne mal was sagen", melde ich mich zu Wort, "aber mich fragt ja keiner."

"Also frag’ ich dich, Papa." Anne strich mir übers Haar. "Hast du in deinem Erfahrungs-Schatzkästlein auch noch was für mich gefunden?"

"Ja, im Ernst. Mir ist vor einigen Wochen etwas klargeworden. Ich weiß nur nicht mehr den Anlaß, warum ich darüber nachgedacht habe. Für mich war es fast wie eine Offenbarung, und ich habe mich gefragt, wieso ich noch nie davon gehört habe, daß jemand auf diesen Punkt hingewiesen hat."

Jetzt hatte ich ihre gespannte Aufmerksamkeit.

"Mir kam das Bild, daß jeder Mensch zugleich Muster und Farbe ist ..." An ihren Mienen erkannte ich, daß ich einen anderen Ansatzpunkt suchen mußte. "Andersherum: Auch wenn sich zwei Menschen noch so lieben, so haben sie doch ihre unverwechselbaren Charaktereigenschaften und Merkmale. Diese stellen für mich das Muster dar. So, als wenn du ...", wandte ich mich an Anne, " ... auf eine durchsichtige Folie einen Kreis von z.B. Tellergröße malst und dort hinein ganz verschiedene Formen, runde, eckige, längliche, ovale, Kringel, Punkte, Striche, alles, was dir einfällt, zeichnest. Das wärest dann du, einmalig, nicht zu wiederholen. Dann nimmst du eine zweite Folie, malst wieder einen Kreis und füllst ihn ebenfalls mit Formen und Mustern. Das wäre dann dein Michael. Nun legst du beide Kreise aufeinander und wirst feststellen, daß da kaum etwas übereinstimmt."

"Ist das nicht ganz normal?

"Sicher ist es das, es wäre äußerst unwahrscheinlich, wenn die Zeichen übereinstimmten. Ich möchte sagen, es ist so gut wie unmöglich."

Katharina verstand als erste. "Du meinst ‘zu Anfang übereinstimmten’. Oder?" Ich ging darauf nicht ein.

"Nun nimmst du die schönsten Farben, die du hast, und übermalst damit die obere Folie mit dem Ergebnis, daß von den Mustern darunter kaum noch was durchschimmert."

Anne schwärmte: "Ich nehme ein strahlendes Blau, ein ganz warmes Gelb und Braun, dann natürlich ein frisches Orange; ein bißchen Türkis oder Zartviolett wären auch nicht schlecht. Und was mir noch so einfällt." Sie tat so, also sähe sie das Bild im Geiste vor sich, und meinte: "Das gefällt mir. So lasse ich’s."

"Liebe Anne", sagte ich mit betrübter Miene, "die Sache hat einen Haken."

Sie ging auf das Spiel ein. "Das ist aber traurig."

"Ja und nein. Paß auf, du hast meine kleine Geschichte ja längst durchschaut. Wenn zwei, die sich lieben, darangehen, die Ecken und Kanten ihrer Muster nach und nach zu runden, vielleicht unästhetische und störende Formen sogar zu entfernen, werden die Bilder zwar nicht gleich - was auch nicht der Sinn ist -, aber sie passen auf einmal gut zueinander, sie ergänzen sich, nichts tut dem Auge mehr weh. Es macht im Gegenteil Freude, dieses Bild, das jetzt wie eines wirkt, anzuschauen."

"Und der Haken?" Sie schaute mich an, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ihre Mutter vor mir zu sehen: die gleichen Augen, der gleiche, starke Ausdruck, die gleiche feine und doch feste Art. Dann war der Moment vorbei. Keiner hatte etwas bemerkt. "Michael kann sich glücklich schätzen", dachte ich noch. "Er wird hoffentlich nicht dieselben Fehler machen wie ich."

"Die Farben verblassen, unweigerlich. Dagegen ist nichts zu machen. Es mag Jahre dauern, vielleicht Jahrzehnte, aber einmal werden sie die darunterliegenden Muster nicht mehr verdecken." Peter und Katharina waren ganz ruhig, sie wollten den Dialog zwischen Vater und Tochter nicht stören.

"Für was stehen die Farben? - Nein, ich weiß es ja", gab sie sich selbst die Antwort. "Sie stehen für Leidenschaft, Vergnügen, Genuß, Fitness, Jugend, Schönheit und mehr."

"Gegen die es absolut nichts einzuwenden gibt."

"Nur?"

"In den Jahren, in denen sie als Farbe die unterschiedlichen, vielleicht wenig zusammenpassenden Muster überdecken, wäre es am sinnvollsten, an der Übereinstimmung der darunterliegenden Bilder zu arbeiten. Das fällt in dieser Zeit auch besonders leicht; dafür ist sie vermutlich ohnehin vorgesehen. Wenn dann die bunte Oberfläche eines Tages in zunehmendem Maße durchsichtig wird, gibt es nicht nur kein Erschrecken, sondern in hohem Maße ein Sich-erfreuen an den Früchten der gemeinsamen Arbeit früherer Jahre. Wer Angst vor den Mustern hat, die unverändert unter den dünner werdenden Farben schlummern, wird versuchen, das Verblassen der Farben so lang wie möglich - letztlich doch vergeblich - hinauszuzögern.

Man bleibt dann möglicherweise beieinander, aber nicht aus Liebe, sondern aus Bindung, Angst, finanzieller Abhängigkeit, Gewohnheit und mehr. Die Farbe ist ab, die alten Muster sind wieder da. Vielleicht hätte man sich an die Bearbeitung der Muster während der Zeit der Farben gemacht, wenn man die Notwendigkeit mit klaren Augen gesehen hätte, wenn man auf sie aufmerksam gemacht worden wäre. Vielleicht ..."

Anne schaute mich an. "Ich bin richtig neidisch auf meinen Michael."

"Warum das denn?" fragte ich, weil ich überhaupt keinen Zusammenhang erkennen konnte.

Sie lachte. "Weil er einen so tollen Schwiegervater bekommt."