Bin Ich es den Du liebst?
von Hans Dienstknecht


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14.

Es war ein Tag, an dem einfach alles zusammenpaßte. Meine Besuche am Nachmittag waren eine reine Freude, nicht nur des geschäftlichen Erfolges wegen; auch das gute Miteinander zwischen meinen Kunden und mir trug mit dazu bei. Und dann natürlich mein Licht und all das, was ich erfahren und lernen durfte.

Mir war klar, daß sich dieses Hochgefühl nicht auf Dauer halten würde. Das wäre auch nicht gut, denn gesundes Wachstum - ich brauchte nur an den Kalenderzettel von Viktor Gabliczek zu denken - bedeutet Kommen und Gehen. Deshalb wartete ich aber lange noch nicht auf das nächste Tief. Etwas Erfreuliches hatte ich in letzter Zeit an mir bemerkt: Daß das Pendel des Schicksals oder der Gefühle nicht mehr so weit in die negative Seite ausschlug wie früher. Ich wollte in jedem Fall wachsam sein gegenüber allem, was mir begegnete.

Das Geschäft meines nächsten Kunden lag in der Innenstadt. Ich ließ mein Auto auf einem Parkplatz etwas außerhalb stehen und ging dann die paar Minuten zu Fuß. Eine Bäckerei bot frische Berliner an. Das machte mir Appetit, und ich kaufte gleich drei Stück, weil ich die Idee hatte, damit vielleicht auch meinem Kunden - einem älteren Ehepaar, das ich schon lange kannte - eine Freude zu machen. Auf dem Weg zu einer Fußgängerampel kam ich an einem Bettler vorbei, dessen trauriger Blick mich für einen kurzen Moment traf, ehe er wieder seinen Kopf senkte.

Ich hatte ein zwiespältiges Gefühl. Während des Weitergehens fragte ich mich, ob ich ihm Geld geben sollte. Was würde er damit machen? Tat ich etwas Gutes, oder unterstützte ich damit seinen ... (Vorsicht!). Inzwischen hatte ich die Ampel fast erreicht, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Da wurde sie mir abgenommen: Die Ampel sprang auf Rot, und ich mußte warten.

Eine Frage stieg in mir auf, die ich sofort nach innen richtete: "Was soll ich tun, Vater?"

Höre auf dein Herz.

Unser kleines Zwiegespräch spielte sich in ein, zwei Sekunden ab. Bevor die Ampel für mich Grün zeigte, hatte ich mich umgedreht, war die paar Meter zurück- und neben dem Mann in die Hocke gegangen. Er blickte auf, und es kam eine kleine Unterhaltung zustande. Ich ging ohne die Tüte mit den drei Berlinern zu meinem Kunden.

Auf der Heimfahrt mußte ich an diese kleine Episode, mehr war es ja nicht, denken. Meine Geste dem Bettler gegenüber war ehrlich gewesen, das konnte ich mit gutem Gewissen sagen. Aber sie war absolut nichts Besonderes; wenn sie überhaupt etwas war, dann war sie viel zu klein oder zu gering ausgefallen. Das machte mir immer wieder zu schaffen: Daß ich nicht schnell und klar genug eine solche oder ähnliche Situation einschätzen und dann richtig entscheiden konnte. Ich hoffte, ich würde es lernen.

Was mich glücklich gemacht hatte, war der kurze innere Kontakt gewesen. "Doch auch das ist nichts Besonderes", dachte ich, um den Satz dann in einem kleinen Wortspiel zu beenden, "auch wenn es für mich noch etwas Besonderes ist." Freuen darüber konnte und wollte ich mich in jedem Fall.

Abends rief mich Sebastian, der Theologiestudent, an. Er wollte mich am kommenden Samstag besuchen.

*

Sebastian kam gegen 14.00 Uhr. Diesen frühen Termin hatte ich vorgeschlagen, weil ich annahm, daß es keine kurze Unterhaltung werden würde. So hatten wir die Möglichkeit, eine ausgedehnte Wanderung zu unternehmen, unterwegs einzukehren, um dann - vielleicht auf einem anderen Weg - wieder zurückzugehen. Mir mit meiner vielen Autofahrerei würde das guttun. Er war sofort einverstanden. "Man kann auch viel besser reden dabei", meinte er. Da mußte ich ihm zustimmen. Und die frische Luft hatte mein Denken auch immer gefördert.

"Gehst du mit?" hatte ich mein Licht völlig überflüssigerweise gefragt und dann gegrinst über den Lapsus, der mir passiert war. Sebastian hatte mein Grinsen bemerkt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen und hatte auch nicht gefragt.

Wir fuhren ein paar Kilometer mit meinem Wagen, um uns anschließend auf den Weg zum "Forsthaus am Weiher" zu machen. Gut anderthalb Stunden Weg lagen vor uns; wir freuten uns beide darauf. Der Eindruck, den ich vom ihm auf der Beerdigung bekommen hatte, bestätigte sich. Er war bei aller Offenheit und Munterkeit seines Wesens ein junger Mann, der die richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt ernst genug nahm, um sich mit ihnen zu beschäftigen.

Keiner von uns brauchte zu fragen: "Wo fangen wir an?" Es ergab sich von allein. Es ging auch nicht darum, einzelne Aussagen oder Passagen meiner Beerdigungsrede zu untersuchen. Alles würde, wenn es wichtig wäre, genau in die Stellen hineinpassen, in die es hineingehörte. Davon war ich überzeugt.

Sebastian erzählte mir von seiner Kindheit und Jugend und wie im Laufe der letzten Jahre von ganz allein der Wunsch in ihm entstanden sei, Priester zu werden.

"Willst du mir sagen, warum?" fragte ich.

"Aber sicher, das ist sozusagen die wichtigste Frage überhaupt." Er hielt inne, suchte sich ein kleines Stöckchen und half einem Käfer, der auf dem Rücken lag, wieder auf die Beine zu kommen. "Und obwohl es die wichtigste ist, denke ich manchmal, ich habe immer noch keine klare Antwort gefunden."

"Weißt du es nicht, oder kannst du es nicht formulieren?"

"Manchmal beides, doch meistens letzteres." Er machte eine kleine Pause. "Ich versuch’s mal. Tief hier drinnen", er deutete auf seine Brust, "ist etwas, das mir sagt: ‘Das ist deine Aufgabe’. Solange ich darauf höre, ist alles gut. Schalte ich meinen Kopf ein, wird das Bild unscharf. Dann weiß ich auf einmal nicht mehr, warum oder für wen ich das tue. Für mich? Das wäre sicher der schlechteste Grund. Um anderen helfen zu können? Das wäre schon ein besserer Grund. Aber kann ich das dann wirklich?"

"Hast du mal überlegt, ob es noch jemanden gibt, für den du es vielleicht tun könntest?"

"Noch jemanden?" Dann hatte er begriffen. "Du meinst Gott?" Ich nickte. Wir gingen ein paar Schritte schweigend.

"Eigentlich ist das eine komische Sache", meinte er dann. "Warum fällt mir, der ich Priester werden möchte, so etwas nicht oder nur auf Nachfrage ein? Wo doch mein späterer Oberhirte sogar Gottes Stellvertreter auf Erden ist."

Ich störte ihn nicht bei seinen Überlegungen. Laß die Dinge geschehen. Ein anderer hat die Gesprächsführung in der Hand.

Er beantwortete seine Frage selbst. "Ich glaube, das liegt daran, daß versucht wird, Gott oder die Wissenschaft von Gott, oder wie du es bezeichnen willst, zu studieren. Das macht alles so abstrakt. Man braucht Intellekt dazu, um die Zusammenhänge zu sehen, die Geschichte zu erfassen, die Lehre zu verstehen. Es stimmt, von Gefühlen spricht keiner, die wären wohl auch im Hörsaal fehl am Platz. Wie einer mit dem Herzen daran geht - ob überhaupt -, kann ja auch gar nicht vermittelt werden. Das muß man wohl schon mitbringen oder auch nicht."

"Könnte es sein, daß darin der Unterschied zwischen einem Seelsorger und einem Theologen besteht?"

"Ja, das glaube ich. Ich habe sowohl vom Kopf als auch vom Gefühl etwas mitbekommen. Und dann natürlich durch die Prägung des Elternhauses. Viele Jahre als Meßdiener - und es ist einfach dein Leben."

"Wenn du anstatt Theologie Medizin studieren würdest, hättest du bei der Wahl zwischen Kopf und Gefühl entweder eine Karriere als anerkannter Wissenschaftler oder als Landarzt mit einem 14-Stunden-Tag vor dir."

"Oder in der Theologie als Kardinal oder Landpfarrer." Er lachte. "Könnte ich nicht beides miteinander verbinden?"

Ich ließ ihm Zeit, die Antwort selbst zu finden. "Es würde schwer werden", sagte er schließlich. "Du bist mir um einiges an Jahren ..."

"Gut dreißig."

" ... und an Lebenserfahrung voraus, das habe ich bei der Beerdigung gemerkt. Du hast eine Art, die Dinge darzustellen, daß es einem fast nicht möglich ist, deinen Gedanken nicht zu folgen. Wie ein Hund muß man auf der Fährte bleiben. [ "Das ist wirklich des Lobes zuviel", dachte ich. Aber ein ganz klein bißchen war dran, das wußte ich.] Natürlich kann man an dieser oder jener Stelle nein sagen oder eine andere Meinung haben. Aber ich hatte bei mir irgendwie das Gefühl, wenn ich das tun würde, käme ich vom Pfad der Logik oder folgerichtigen Argumentation ab. Und das hätte mein Verstand nicht zugelassen. Da war ich in einer gewissen Zwickmühle, aber gerade das hat mich so fasziniert."

"Lieber Sebastian, damit hast du gute Aussichten, in deinem Leben hinter so manches zu schauen."

"Und wo soll ich anfangen? Wie hast du es gemacht? War es schwer?"

"Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?" Wir mußten beide lachen. "Zuerst einmal ein Kompliment an dich, daß du überhaupt fragst. Ich habe mich in deinem Alter mit solchen Fragen noch nicht beschäftigt. Das ist das eine."

Ich war stehengeblieben, weil ein Schnürsenkel aufgegangen war. Ich bückte mich und band ihn neu. Dabei hatte ich Zeit zum Nachdenken, gleichzeitig schickte ich eine kurze Bitte los.

"Und das andere?" Er war neugierig.

Die Hilfe war schon da. "Mühsam, sehr mühsam habe ich mir eine wichtige Erkenntnis erarbeitet, die für mich so etwas wie eine Patentlösung geworden ist." Ich sah seinen erstaunten Blick. "Ich meine es ernst. Den ersten Teil habe ich in meine Beerdigungsrede hineingepackt."

"Du meinst die Sache mit dem Beinbruch? Fand ich gut, das Beispiel."

"Nur die konsequente Anwendung ist nicht immer so gut. Das heißt, gut ist sie schon, aber nicht immer angenehm. Die Essenz aus meinem Beispiel lautet: Alles, was mir widerfährt, hat mit mir zu tun."

Er wollte zustimmen, doch ich stoppte ihn. "Sag’ nicht vorschnell ja. Es kann nämlich dein Weltbild auf den Kopf stellen oder es einstürzen lassen. Und dann stehst du da. Dein altes ist kaputt, und ein neues hast du noch nicht."

"Du hast immer Bilder parat ..." Er schüttelte den Kopf.

"Der zweite Teil meiner Patentlösung besteht aus ... Machen wir’s anders herum. Bist du damit einverstanden, wenn ich sage, daß das Leben ein Lernprozeß ist?"

"Ja, das habe ich bisher immer gedacht." Er schaute mich von der Seite an. "Du willst mir jetzt doch nicht was anderes beweisen wollen?"

"Im Gegenteil, ich möchte es bekräftigen. Aber dieser zweite Teil ist nicht minder gefährlich wie der erste. Er könnte ein weiteres Weltbild einstürzen lassen."

"Ich trau’ mich", antwortete er, "es werden ja nicht alle einstürzen. Ein paar werden hoffentlich noch übrigbleiben." Humor blitzte in seinen Augen auf. "Zur Not können wir ja die alten wieder aufbauen."

Es hatte leicht zu regnen angefangen. Ich machte meinen Zweimannschirm auf, den ich vorsichtshalber mitgenommen hatte. Der Regen störte uns nicht. Das Nebeneinander unter dem großen Schirm vermittelte uns den Eindruck, als würden wir uns schon lange kennen.

"Mit der Erkenntnis, daß alles mit dir zu tun hat, und dich alles etwas lehren will", knüpfte ich an meine vorigen Überlegungen an, "hast du ein Instrument in der Hand, dem kaum ein Problem widerstehen kann. Nimm die erste Hälfte. Du hörst auf, mit Gott und der Welt zu hadern, du schickst deinen Ärger und deine Wut nicht mehr zu den angeblich Schuldigen in aller Welt hinaus, du machst keinen anderen mehr für dein Schicksal verantwortlich (Wie das auf einmal floß, danke. Bitte.), du lädst deinen Frust nicht mehr bei deinem Nächsten und Übernächsten ab, denn alles hat mit dir zu tun und kommt daher nicht aus Versehen auf dich zu. Wenn es nichts mit dir zu tun hätte, sondern mit deinem Nachbarn, würde ihm das vorgesetzt. Beträfe es aber doch deinen Nachbarn und du bekämst ‘den Segen ab’, hätte Gott einen Fehler gemacht." Ich legte eine kleine Pause ein. "Wenn du aber glaubst, daß Er Fehler macht, dann würde ich Ihn an deiner Stelle nicht studieren. Du kannst auch ohne Studium lernen, wie man Fehler macht." Der Scherz in meiner Stimme war nicht zu überhören, obwohl es mir ernst war. Aber man konnte die Dinge ja auch ruhig mal ein bißchen lockerer betrachten.

Sebastian sprang über eine große Pfütze, die sich von dem wenigen Regen heute noch nicht gebildet haben konnte. Er kam wieder zu mir unter den Schirm, obwohl das bei seiner Wind- und Wanderjacke, die er trug, gar nicht nötig gewesen wäre. Aber es gefiel ihm so. "Das habe ich gemeint mit deiner Art, die Dinge aufzuzeigen. Was mache ich jetzt? Soll ich dir zustimmen? Darf ich erst nachdenken?"

"Du mußt sogar erst nachdenken. Wehe, du stimmst nur meinetwegen zu. Und wenn du glaubst, eine bessere Erklärung zu haben, dann untersuch’ deine Auffassung auf Lücken und geheimnisvolle, schwarze Löcher, die in ihrer Unersättlichkeit so gerne die kleinen Vernunftbausteine einsaugen. Wenn dir dann deine Meinung immer noch als die bessere erscheint - sei es auch aus Erziehung, Gewohnheit, Unflexibilität, Angst und vielem mehr -, dann bleibst du bei deiner. Du kannst gar nicht mit einer Überzeugung leben, die nicht deine eigene ist."

"Ich könnte ja auch sagen: ‘Ich versteh’ das nicht’." Es war nichts Persönliches in unserer Rede und Gegenrede. Wir versuchten mehr nach Art des "Advocatus Diaboli"1), die Erkenntnisse "herauszukitzeln".

"Dann, Sebastian, hättest du gelogen, weil du eigentlich hättest sagen wollen: ‘Ich glaub’ das nicht’."

"Also gut, dann sage ich: ‘Ich glaub’ das nicht’."

"Das würde ich sofort akzeptieren, weil dagegen nichts zu sagen ist. Nur hätte es dann natürlich auch wenig Sinn, wenn wir versuchen würden, noch tiefer einzudringen."

Der Regen wurde schlagartig stärker. Wir hielten nach einer Möglichkeit Ausschau, um uns unterstellen zu können. Auf einer kleinen Lichtung, nur ein paar Meter in den Wald hinein, entdeckten wir eine Schutzhütte. Wir hatten sie kaum erreicht, als es ‘runterprasselte, was es nur konnte. "So ein wunderbarer Zufall." Sebastian mußte laut sprechen, fast schreien, um das Geräusch zu übertönen, das die Regenflut in den Bäumen und auf dem Hüttendach hervorrief.

Trotz allem war der Situation eine gewisse Romantik nicht abzusprechen. Es roch nach kalter Feuerstelle, und Sebastian ließ seiner Phantasie freien Lauf und bot Rehen, Hasen ("Im Wald?") und Füchsen ("Aber bitte keine Wildschweine.") Platz in unserer Hütte an. Als der Regen auf ein Normalmaß zurückging, so daß eine Unterhaltung in üblicher Lautstärke möglich wurde, nahm ich den Faden wieder auf und brachte den zweiten Teil der Patentlösung ins Gespräch..

"Bist du soweit?"

"Es kann losgehen, Ferdinand."

"Du hattest zugestimmt, daß das Leben ein Lernprozeß ist." Ein Nicken. "Wann finden die Lehrstunden statt? Montags bis mittwochs ganztägig? Oder täglich morgens von acht bis neun?" Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, daß er nicht sofort verstand. "Das war nicht wörtlich gemeint. Ich wollte damit fragen, ob bestimmte Zeiten oder Tage für das Lernen reserviert sind."

Jetzt machte es klick bei ihm. "Nein, ich nehme einmal an, das gilt für das ganze Leben." Auf einmal fing er an zu grinsen. "Du bist ein richtiger Fallensteller. Warst du früher mal Trapper?"

"Vielleicht im letzten Leben. Ich kann mich aber nicht erinnern."

Er nahm die Bemerkung nicht ernst und ging deshalb auch nicht darauf ein. ("Okay, war ja auch nur ein Versuchsballon.") "Weil ich gerade ‘für das ganze Leben’ gesagt habe, wirst du mir jetzt klarmachen, daß alles, mit dem ich mich während meines Lebens auseinandersetzen kann, darf oder muß, unter dem Aspekt des Lernens zu betrachten ist. Gutes und Böses, Leichtes und Schweres, Wichtiges und weniger Wichtiges. Alles."

"Du hast gesagt ‘für das ganze Leben’. Du müßtest den Faden jetzt zu Ende spinnen - wenn du möchtest. Vielleicht kommst du ja nochmals zu der Erkenntnis, daß Gott Fehler machen muß. Oder du drückst dich vor der letzten Antwort und läßt die Frage einfach offen." Ein letzter Satz fiel mir ein. "Oder du folgst der Logik, die dich so fasziniert."

Fast bewundernd schaute er mich an. "Mann, bei dir kann man was lernen. Und Jesuit warst du auch nicht, da bist du sicher?" Wir hatten unsere Freude an unserem kleinen Geplänkel, wobei ich nicht vergaß, daß der überwiegende Teil dessen, was ich von mir gab, nicht auf meinem Beet gewachsen war. Daß auch Sebastian der ernsthafte Hintergrund unseres Gesprächs bewußt war, bewies er mit seiner nächsten Frage.

"Wenn ich etwas zu lernen vorgesetzt bekomme, muß ich auch regelmäßig entscheiden. Hier tut sich für mich eine Schwierigkeit auf. Woher weiß ich, welche die richtige Entscheidung ist?"

Ich konnte ihn gut verstehen. Das war auch für mich viele Jahre eine unbeantwortete Frage gewesen. Mit Hilfe meines Lichtes hatte ich die Antwort gefunden, auf mich und meinen Alltag angewendet und durfte nun eine Antwort geben, die nicht mehr aus dem Wissen alleine kam.

"Können wir voraussetzen, auch wenn das jetzt alles nur Theorie ist, daß du eine anstehende Frage oder Problematik ernsthaft prüfst und auch bereit bist, aus den Fehlern zu lernen?"

"Ja."

"Dann ist die Antwort denkbar einfach: Jede Entscheidung ist richtig." Ich ahnte, daß ich ihm damit einiges zumutete, aber die Lösung würde sich schon bald abzeichnen.

Er kam wirklich ins Straucheln. "Jede Entscheidung soll richtig sein? Und wenn ich mich falsch entscheide, beispielsweise in der Frage meines Priesterberufes?"

Jetzt mußte ich ihn behutsam führen. "Wenn dir eine Aufgabe gestellt wird, deren Lösung du noch nicht weißt, bedeutet das doch, daß du hier noch ein Wissens- oder Erfahrungsdefizit hast. Oder?" Ich schaute ihn fragend an.

"Das ist richtig."

"Wenn du nun keinen danach fragen kannst, was richtig oder falsch ist, bist du auf dich selbst und dein unzureichendes Wissen angewiesen. Du kannst dabei auf deinen Kopf oder auf dein Herz zurückgreifen. Im Kopf arbeitet dein Intellekt, im Herz dein Gefühl; was aber nicht heißt, daß du bei Herzensentscheidungen den Verstand ausschalten mußt. Und schlußendlich bleibt dein Gewissen die letzte Instanz.

Doch selbst dann, wenn du einen oder mehrere fragen kannst und Antworten erhältst - im schlimmsten Fall unterschiedliche -, mußt immer noch du entscheiden, weil du für deine Handlungen und Weichenstellungen verantwortlich bist."

Sebastian war vollste Aufmerksamkeit. "Das ist mir klar."

"Du könntest dich aber nun auch weigern und keine Entscheidung fällen ..."

" ... dann würde irgend jemand oder irgend etwas für mich entscheiden, vielleicht das Schicksal, mein Chef, mein Gegner, die Umstände und so weiter. Und im Grunde genommen hätte auch dann ich entschieden, nämlich durch meine ängstliche Verweigerung in der Absicht, mir die Verantwortung vom Leib zu halten." Ihm ging ein Licht auf; zwar war es noch klein, aber es brannte bereits. Es war schön für mich mitanzusehen, wie er - bildlich gesprochen - selbst den Weg durch das Dickicht fand. Ganz durch war er noch nicht, aber es fehlte nicht mehr viel.

"Wenn sich aber nun effektiv herausstellt, daß die Entscheidung falsch war?"

"Warum hast du denn nicht die richtige getroffen?"

"Ich wußte ja noch nicht, welches die ..." Jetzt leuchtete das Licht hell. "Und wenn die richtige Antwort für mich noch im Dunkeln liegt, so muß ich die geben, die ich laut Kopf oder Herz für die richtige halte. Da ich bereit bin, daraus zu lernen, hat die scheinbar falsche Entscheidung dazu geführt, eine neue Erfahrung zu machen und neues Wissen zu sammeln, um beim nächsten Mal richtig zu handeln. Phantastisch."

Er klopfte mir vor lauter Freude und jugendlichem Übermut auf den linken Oberschenkel.

"Wenn du dazu nicht bereit bist, wirst du den alten Fehler immer wieder machen", sagte ich.

"Bis es mir zu dumm wird, mit dem Kopf immer wieder vor denselben Ast zu laufen. Dann schaue ich mir die Ursache meiner Kopfschmerzen an und säge entweder den Ast ab oder ziehe den Kopf ein. So erzieht das Leben."

"Du könntest auch sagen: So erzieht Gott. Er leiht dir, um in deinem Bild zu bleiben, sogar noch die Säge."

Auf Grund unserer angeregten Unterhaltung hatten wir nicht bemerkt, daß es fast aufgehört hatte zu regnen.

"Sollen wir wieder?" Sebastian schaute mich fragend an.

"Ich meine, wir sollten es riskieren", antwortete ich. "Wir haben noch etwa die Hälfte der Strecke vor uns."

Schon nach knapp zweihundert Metern ging der Waldweg in eine kleine, asphaltierte Straße über. Die führte jetzt am Waldrand entlang. Von Regen war inzwischen nichts mehr zu spüren, und da es über uns auch keine Zweige und Blätter mehr gab, von denen es hätte heruntertröpfeln können, schloß ich meinen Schirm.

Sebastian kam nun doch kurz auf die Beerdigungsansprache zurück. "Mir war klar, daß das weder eine evangelische noch eine katholische Rede war. Vielleicht hat sie mir deshalb so gut gefallen. Da war nichts von dem ... beinahe hätte ich Mief gesagt, aber das wäre zu stark gewesen. Du weißt schon, was ich meine ... von der Aussichtslosigkeit und Schwermut und Düsterkeit drin, die manchmal eine Beerdigung noch trauriger machen, als sie ohnehin schon ist." Ich gab ihm recht. "Dann bist du also weder das eine noch das andere? Ich meine, daß du keiner Kirche angehörst." Wiederum stimmte ich ihm zu. "Was bist du dann?"

"Das ist einfach zu beantworten. Ich bin Christ." Das mußte ich ihm natürlich erläutern, und es brachte uns zwangsläufig zu der Frage, welche der vielen Kirchen, Gemeinschaften, Gruppierungen und Sekten innerhalb und außerhalb des Christentums wohl die richtige ist. Durch seine Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche waren sein Denken und Glauben natürlich mit den Inhalten der katholischen Lehre angefüllt. Wie hätte es auch anders sein können, und es war ja auch nicht falsch. Sie bildeten das Fundament seines Vorhabens, den Priesterberuf zu ergreifen. Es entsprach seinem Bewußtsein, seiner Sprosse auf seiner ganz persönlichen Himmelsleiter, die ein jeder - bildlich ausgedrückt - mit sich herumträgt. Da jeder sie unterschiedlich nutzt, steht auch jeder auf der Sprosse, die momentan genau die richtige für ihn ist. Ein paar Sprossen höher oder tiefer würde sich keiner zurechtfinden oder wohl fühlen, weil die dortigen Erfahrungen entweder schon hinter ihm lagen bzw. erst noch gemacht werden mußten.

Bis in mir, der zuvor alles andere als tolerant gewesen war, diese Einstellung gewachsen war, hatte mein Licht ein ganz schönes Stück Arbeit mit mir gehabt. Doch göttliche Geduld war dabei, sich bezahlt zu machen ...

Was mich freute war seine Offenheit gegenüber den Protestanten, die ganz im Gegensatz stand zu der vor ein paar Wochen erst wieder aufgekommenen Diskussion zum Thema Ökumene. "Das ist nicht ganz richtig ausgedrückt", dachte ich. "Eine Diskussion zwischen zwei Partnern ist es nämlich nicht, höchstens eine innerhalb der evangelischen Kirche. Rom diskutiert nicht, Rom hat Klarheit geschaffen. Die Protestanten sind jetzt nur ent-täuscht. Vielleicht hätten sie das ‘Kleingedruckte’ besser lesen sollen? Der Vatikan hat aus seinem Selbstverständnis heraus eigentlich nur einen Sachverhalt bekräftigt, der bekannt gewesen sein muß."

Dazu hatte ich durch eine Leserzuschrift, veröffentlicht in der örtlichen Presse, etwas Interessantes erfahren. Es ging darin um das Dogma "Dem römischen Papst sich zu unterwerfen, ist für alle Menschen unbedingt zum Heile notwendig: Das erklären, behaupten, bestimmen und verkünden Wir".1)

"Der Geist der Ära des Johannes XXIII. wollte dies ein wenig ‘entschärfen’", hieß es da. "Mehr als entschärfen war aber nicht möglich, da es eine Annullierung oder Änderung eines Dogmas nicht geben kann. So wurde 1964 auf der Allgemeinen II. Kirchenversammlung im Vatikan ergänzend, aber das vorige Dogma nicht aufhebend (!), beschlossen: ‘Darum könnten jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollten’."2)

Ich erzählte Sebastian nichts von dem, was mir da gerade durch den Kopf gegangen war. Es würde ihn vielleicht nur belasten oder verunsichern. Wenn sein Entschluß ernstgemeint war, würde er seinen Weg finden. Und warum sollte er nicht innerhalb einer kirchlichen Gemeinschaft seine Aufgabe erfüllen? Ja, vielleicht war es gerade seine Aufgabe, in der Kirche zu wirken, um dort die positiven Kräfte zu stärken. Wußte ich es?

Was wir noch vor einer viertel Stunde kaum für möglich gehalten hatten, war passiert: Die Sonne war durchgekommen. Zwar hatte uns der Regen nichts ausgemacht, aber jetzt wurde das Bild erst komplett, zumal sich, als wir um eine Waldecke kamen, ein wunderbarer Blick in ein kleines, verträumtes Tal vor uns auftat.

"Ist es noch weit?" fragte Sebastian.

"Gute zehn Minuten noch. Hast du Hunger?"

"Ein bißchen, aber deshalb frage ich nicht. Einfach so."

Ich schaute ihn von der Seite her kurz an. Ich wollte ihm eine Frage stellen, ihn aber damit nicht provozieren. So gut müßte ich ihn aber schon kennen, dachte ich, daß er das richtig versteht. Es gehörte noch zu unserem Anwalt-des-Teufels-Spiel, auch wenn wir es auf unsere Art spielten. "Glaubst du, daß der Himmel katholisch ist?"

Er schaute überrascht. "Du kommst auf Ideen! - Aber die Frage ist gar nicht so schlecht." Dann wiederholte er sinnierend: "Ist der Himmel katholisch? Also, irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Das würde ja bedeuten, daß außer einem Katholiken keiner in den Himmel käme. Tante Lissi, die du beerdigt hast, dann zum Beispiel auch nicht." Er entschied sich. "Kann nicht sein."

"Da bin ich voll deiner Meinung." Meine Auffassung, daß es neben dem Himmel, den wir beide meinten, sehr wohl Bereiche gab, die die buchstaben- und gesetzestreuen Katholiken, Protestanten, Juden, Moslems, Hindus und andere für den Himmel hielten, verschwieg ich ihm. Ich hatte das Gefühl, das würde uns in eine fruchtlose Debatte führen. "Aber du weißt, daß du mit deiner Auffassung nicht konform gehst mit dem, was du glauben und später vielleicht auch mal lehren mußt."

Irgendwie schien ihn das aber nicht zu stören. "Weißt du, ich werde versuchen, mich nicht einengen zu lassen. Ich glaube, daß ich hier drinnen", wieder zeigte er auf seine Brust, "viel Spielraum habe."

"Das wünsche ich dir", sagte ich und hoffte inständig, daß es ihm gelingen würde, sich die Freiheit zu erhalten, die notwendig wäre, um mehr Seelsorger als Theologe zu sein. Ich sah ihm an, daß ihn noch etwas beschäftigte. "Laß es ‘raus."

"Ich komm’ noch mal auf deinen katholischen Himmel zurück."

"Meinen?" protestierte ich. "Du bist doch ..."

"Du weißt, wie ich’s meine."

"War ja auch nur Spaß."

"Habe ich schon verstanden." Er grinste. "Also gut. Können wir uns auf unseren einigen?"

"Wenn es sein muß."

Sebastian blieb stehen, so daß auch ich, wollte ich nicht unhöflich sein, nicht weitergehen konnte. Ich drehte mich zu ihm um. "Wie kommst du darauf, Ferdinand, so ... wie soll ich sagen? ... so anders oder quer oder meinetwegen auch geradlinig zu denken?"

Ich erzählte ihm den Teil der Wahrheit, in dem es um Gebrauche deinen Verstand ging, ohne zu erwähnen, wer mich erst in die richtigen Geleise hatte setzen müssen. Ohne ihn zu überfordern ("Mein liebes Licht, paß’ du bitte mit auf.") berichtete ich von einigen meiner Schritte und von meinem Bedürfnis, schon als Kind den Dingen möglichst auf den Grund gehen zu wollen.

"Wenn du nicht zu früh mit deiner Fragerei aufhörst, wirst du interessante Antworten finden."

"Das habe ich auch schon bemerkt", entgegnete er, "nur fall’ ich den Leuten dann oft auf die Nerven."

"Dann fang’ bei dir selbst an, ehe du zu anderen gehst. Du glaubst nicht, was in deinem Gehirn - ich gebrauche gerne das Wort ‘Bewußtsein’, was aber nicht das gleiche ist - was da alles schlummert. Es will nur geweckt werden. Und vergiß nicht, daß du dich auf deiner Suche mit deinen Fragen auch an Gott wenden kannst. An den Gott, von dem ich glaube, von dem ich weiß, daß Er in mir und in dir wohnt."

"In mir und in dir wohnt", wiederholte er langsam.

"Ja, denn du bist mehr als dein Körper und mehr als deine Seele, du bist auch Geist. Geist heißt für mich: Der Geist Gottes wohnt in mir, in jedem."

Wieder schaute mich Sebastian fragend an. "Wie definierst du denn Körper, Seele und Geist? Was ist was?"

Gott sei Dank - in des Wortes wahrstem Sinn - war mir erst vor ein paar Tagen dazu ein Beispiel eingefallen.

"Nimm eine Kirsche und stell dir vor, das bist du. Die Haut ist der Körper, das Fruchtfleisch die Seele und der Kern der Geist, in dem Gott lebt, weil du aus Ihm bist. Haut und Fruchtfleisch vergehen, was übrig bleibt ist der Kern, das was später wieder einmal in den Himmel zurückkehrt."

"So einfach stellst du dir das vor?" Er schmunzelte. "Dann brauchte ich ja nicht zu studieren."

"Ich bin ziemlich sicher, daß es so einfach ist. - Im Prinzip", schränkte ich ein. "Was sich daraus für das Leben ergibt, ist in der Umsetzung und Anwendung allerdings alles andere als einfach. Aber vom Prinzip her muß es einfach sein - was die Vielfalt und Variationsbreite nicht einschränkt -, weil für mich Gott der größte und vollkommenste Konstrukteur ist, den ich mir vorstellen kann; und weil trotz aller Komplexität die Genialität in der Einfachheit liegt." Noch ein Grund fiel mir. "Es muß auch schon deshalb einfach sein, weil Gott Seine Kinder liebt. Deshalb muß die Möglichkeit vorgesehen sein, daß man die Dinge - natürlich begrenzt - schon zu Lebzeiten erkennen und verstehen kann, wenn man Ihm nur ein bißchen nahegekommen ist. Man muß dann nicht darauf warten, was wohl nach dem sogenannten Tod passieren wird. Einiges kann auch schon hier zur Gewißheit werden."

Irgend etwas mußte ihn wohl an meine Rede auf der Beerdigung erinnert haben. "Bist du nicht vielleicht neben Trapper und Jesuit auch noch Theologe?" fragte er schelmisch.

Ich lachte lauthals. "Auch das noch! Das außerdem noch kombiniert mit einem Hobby-Mediziner, an den mich vor Wochen jemand erinnert hat - das ist eine Mischung!"

Dann sahen wir das "Forsthaus am Weiher" vor uns liegen.

*

Knapp zwei Stunden später machten wir uns gestärkt wieder auf den Weg. Für den Rückmarsch würden wir ein wenig länger brauchen, weil wir uns eine andere als die Hinstrecke ausgesucht hatten. Die Sonne hatte sich inzwischen behauptet. So, wie es schien, würde sie sich für heute auch nicht mehr verdrängen lassen. Wir schritten zügig los.

Während unserer Pause hatten wir natürlich unser Gespräch fortgeführt. Es war viel, was Sebastian zu fragen und zu sagen hatte. Wie sich herausstellte, fehlte es ihm an Möglichkeiten, diese Art von Unterhaltung zu führen. Ich hatte das Gefühl, unser Reden - vor allem die Art, wie wir es machten - tat ihm gut. Wenn es für ihn zu viel würde, hatte ich ihm gesagt, sollte er es sagen. Keine Spur, hatte er gemeint, im Gegenteil.

Irgendwie war er noch einmal auf die Sache mit der Entscheidung zurückgekommen. Da wir kurz zuvor über die Bibel gesprochen hatten, war mir dazu ein Beispiel eingefallen.

"In den drei Jahren seines Lehrens und Wirkens hat Jesus von Nazareth doch bestimmt mehr als nur das gesprochen und getan, was in der Bibel steht. Wenn alles aufgeschrieben worden wäre, nur mal angenommen, dann müßte das Neue Testament viel umfangreicher sein, als es ist. Wenn ich nur daran denke, daß er Tag und Nacht mit seinen Apostel zusammen war. Die haben sich doch bestimmt nicht die meiste Zeit angeschwiegen." Er hatte mir zugestimmt.

"Ist es nicht so", hatte ich gefragt, "daß sowohl aus Sicht der katholischen als auch der evangelischen Kirche die Verkündigung als abgeschlossen gilt? Und daß neu auftauchende, zusätzliche oder angeblich zusätzliche Lehren und Aussagen von Jesus Christus - ich denke da z.B. an die sogenannten Neuoffenbarungen - dann abgelehnt werden, wenn und weil sie nicht mit den bisher bekannten Texten der Bibel übereinstimmen?" Da hatte er zustimmen müssen.

"Wir verlieren deine Frage nach einer richtigen oder falschen Entscheidung, die ja nichts mit meinem Beispiel zu tun hat, sondern grundsätzlicher Art ist, nicht aus den Augen. Es hat sich nur gerade so schön angeboten. Jetzt nur einmal angenommen, über die bisher nicht bekannten Gespräche, Lehren, Wunder und vieles mehr tauchen die fehlenden Berichte auf, nur mal angenommen. Wenn du dich nun entscheiden mußt, ob du die neuen Texte anerkennen sollst oder nicht, bist du in einer Klemme."

"Nicht, wenn ich meiner Obrigkeit folgen werde, egal wie deren Entscheidung aussieht."

"Richtig", hatte ich entgegnet, ihn dann aber an den Spielraum erinnert, den er sich bewahren wollte. "Wenn du deine Eigenverantwortung nicht aufgeben willst, mußt du selbst entscheiden. Wenn du an die neuen Texte den Maßstab der Bibel anlegst, wirst du feststellen, daß du so nicht weiterkommst. Denn der Maßstab heißt: Was in der Bibel nicht drin ist bzw. nicht dazu paßt, gehört auch nicht da hinein! Beispielsweise bisher unbekannte Wunder oder Aussagen. Damit könnte man die Sache ad acta legen. Nur wirst du dann nie herausbekommen, ob es falsche waren oder doch richtige, die nur jetzt erst entdeckt wurden."

"Das Beispiel ist nicht schlecht", hatte Sebastian nach einer Zeit des Überlegens geantwortet. "Aber es zeigt mir auch, daß die Sache mit der Eigenverantwortung gar nicht so ganz ... wie soll ich sagen ... ungefährlich ist. Was meinst du?"

"Da ich - wie hast du gesagt? - ein ‘alter Querdenker’ bin, kann ich vielleicht nicht unbedingt als Vorbild dienen. Aber wenn du mich schon fragst: Wenn ich nicht wirklich sicher bin, daß die Auffassung eines anderen richtiger ist als meine, treffe ich lieber meine eigene Entscheidung. Und zwar aus einem einfachen Grund: Wenn schon die Gefahr besteht, daß ich einen Fehler mache, dann bitte meinen eigenen und nicht den, den mir ein anderer aufoktroyiert."

"Und wenn ich eine andere Meinung annehme, weil ich nach Prüfung von Wenn und Aber davon überzeugt bin, daß sie richtiger und besser ist als meine eigene ...?"

"Dann hast du ja sowieso kein Problem - es sei denn, du wolltest damit doch ein klein bißchen die Verantwortungs-Kompetenzen verschieben." Da hatte er eine Zeit lang geschwiegen, weil das, wie er erkannte, nicht so einfach war. Zumal nicht für einen jüngeren Menschen. Mehr als genug ältere haben damit ihre Schwierigkeiten.

Als ich später in den diversen Taschen meiner Wanderjacke nach ein paar Pfefferminzbonbons suchte, fühlte ich plötzlich ein Stückchen Papier. Zu meiner Überraschung stellte es sich als ein Kalenderzettel heraus. Frau Jakobs hatte nach der Abreise meines Tischnachbarn mich damit beglückt. Ich hatte ihn damals eingesteckt und vergessen. Jetzt reichte ich ihn Sebastian.

"Heute werden wir aber mit Lebensweisheiten gesegnet", meinte ich. Er las den Text halblaut vor sich hin: Uns hilft nicht, wer uns Krücken leiht, sondern wer uns gehen lehrt.

"Das ist ein hoher Anspruch", sagte er nach einer Weile. Er war jetzt etwas stiller geworden. Verschiedene Gesichtspunkte unserer Gespräche hatten schon angefangen, in ihm ihre Arbeit aufzunehmen. Wie gut ich das kannte!

"Ja, das ist wahr", entgegnete ich. "Das war und ist auch mein Thema. Mich hat mal jemand aufgefordert, doch bitte zuerst schwimmen zu lernen, bevor ich anfange, andere retten zu wollen. Wie recht er hatte."

Sebastian drehte den Zettel herum und las das Gedicht von Rilke, das auf der Rückseite stand. Dann knüpfte ich noch einmal an den Spruch mit den Krücken an.

"Weißt du, in der Aussage ist noch ein hochinteressanter Aspekt verborgen. Einer, der leicht viel zu oft nicht erkannt oder übersehen wird. Findest du ihn?"

"Komm, sag mir’s, sonst brauche ich zu lange."

"Weißt du, welcher Meister der größte ist?" Ich half ihm, indem ich die Antwort gab. "Derjenige, der keine Gesellen mehr hat ...", ich machte es spannend, " ... weil er sie selbst zu Meistern und damit von sich unabhängig gemacht hat. Und der geistige oder weltliche Lehrer ist der größte, der seine Schüler motiviert und anleitet, ihn zu übertreffen."

Er war mit seinen Gedanken beschäftigt und schien ein wenig irritiert, denn er sagte nicht gleich etwas dazu. Schließlich fragte er: "Und der Theologe ist der größte, der seine Schäfchen auch zu Theologen gemacht hat?"

"Nein", antwortete ich, "der sie zu Gott geführt hat."

"Aber dann hätte er ja keine Schäfchen mehr."

"Das ist vielleicht das Problem; aber er hätte unzählige Brüder und Schwestern."

*

Wir hatten nach unserer großen Unterredung keinen persönlichen Kontakt mehr miteinander. Sebastian rief mich in den nächsten Wochen noch zwei- oder dreimal an, ließ mir auch durch Maria einmal einen Gruß ausrichten, ansonsten aber trennten sich unsere Wege. Ich mußte oft an diesen Nachmittag denken; wenn mir dazu ungewollt das Wort "Zufall" in den Sinn kam, konnte ich ein Schmunzeln nie verhindern. "Gottes Wege scheinen verschlungenen Pfaden zu gleichen. Seine Vorhaben sind für uns nicht überschaubar", dachte ich dann, "doch sie sind mit einer Präzision vorbereitet und werden ebenso präzise durchgeführt, daß wir eigentlich diese schon -zigfach gemachten Erfahrungen als Vertrauensgrundlage ansehen könnten, wenn wieder mal etwas Ungewisses ins Haus steht."

Ganz besonders wurde ich an diese, meine Überzeugung erinnert, als Maria und ich Sebastian ein paar Jahre später während eines Sommerurlaubs an der Ostsee trafen. Völlig überraschend standen wir voreinander. Viel Zeit hatte er nicht, doch als wir die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht hatten - er war tatsächlich Priester geworden -, fragte er mich mit seinem jungenhaften Grinsen, das er immer noch trug:

"Und, Ferdinand, war meine Entscheidung richtig?"

Im gleichen Spaß gab ich zurück: "Aber sicher, du hättest gar keine falsche treffen können."

"Und wenn ich nun doch eine andere getroffen hätte, mein hochverehrter Herr Lehrer ...?"

" So wäre die auch richtig gewesen - du Lausbub", konnte ich mir nicht verkneifen.