Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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2. "Gebrauche deinen Verstand" - die ersten Versuche

 

Es war mir an diesem Tag kaum möglich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder gingen meine Gedanken zurück zu dem nächtlichen Geschehen. Fragen über Fragen zogen durch meinen Kopf, bis ich mich selbst ernsthaft ins Gebet nahm und mir vorschlug, entweder ein paar Stunden frei zu nehmen oder mich zusammenzureißen, um wenigstens noch ein bißchen was auf die Beine zu stellen. Ich entschied mich fürs Zusammenreißen. Zum einen gab es genügend zu tun, zum anderen wollte ich mich ablenken, damit ich nicht ständig - um ehrlich zu sein, beinahe ausschließlich - an den "geistigen Einbruch" in meinem Leben denken mußte. Nicht, daß ich mich dagegen zur Wehr hätte setzen wollen; es war nur zu überraschend und überwältigend gekommen. Im Moment konnte es von mir noch nicht entsprechend verarbeitet werden.

Nachdem ich zwei oder drei Stunden an meinem Schreibtisch verbracht, einige Anrufe erledigt und Termine für die nächsten Tage vereinbart hatte, wurde es Zeit, daß ich das Büro verließ, um ein paar Kundenbesuche zu machen. Es war auch deshalb angeraten, weil sich mein innerer Zustand wohl nicht verbergen ließ. Eva, die für meinen Freund und Kollegen Peter und mich die Innendienstarbeit erledigte und von uns hoch geschätzt wurde wegen ihrer Zuverlässigkeit und eines Herzens, das genau auf dem richtigen Fleck saß, hatte mich schon ein paar mal mit einem fragenden Blick angeschaut.

"War's spät gestern abend?"

Ich schaute so unschuldig, wie es nur ging. Ein schlechtes Gewissen wegen gestern abend mußte ich wirklich nicht haben. Peter und ich hatten uns auf ein Glas Wein verabredet, hatten ein wenig philosophiert, die politische Lage im allgemeinen und Peters persönliche als Ehemann und meine als Witwer im besonderen betrachtet und waren dann - mit Gott, der Welt und uns selbst weitgehend im reinen - auseinandergegangen.

"Nein", sagte ich, "es war weder spät, noch hatte einer von uns sein Maß und Ziel verloren."

"Aber irgend etwas ist doch. Du wirkst ein bißchen, als wärst du nicht so recht bei der Sache."

Eva war ein cleveres Mädchen. Aufgeweckt, einfühlsam, mit der richtigen Mischung aus Verstand, Humor und Eigenwillen. Peter und ich mochten sie; sie uns übrigens auch. Jetzt aber war es an der Zeit, zu gehen. Mir war absolut nicht danach, über die in meinem Inneren vorherrschenden Gefühle zu reden. Ja, für mich stand fest, daß ich über die Erscheinung des Lichtes ohnehin mit keinem (oder kaum einem) Menschen würde reden können und wollen. Also schenkte ich Eva ein Lächeln, murmelte etwas von Kopfschmerzen, teilte ihr noch mit, welche Kunden ich heute besuchen wollte und verabschiedete mich für diesen Tag.

Für heute hatte ich noch fünf Besuche eingeplant. Ich nahm mir vor, sie zügig hinter mich zu bringen; ich wollte Zeit für mich und meine Gedanken haben. Das gelang mir auch einigermaßen. Wenn man so viele Jahre im Geschäft ist und seine Kunden kennt, dann ist es kein Problem, auch einmal nur kurz hereinzuschauen, auf eine Tasse Kaffee zu verzichten und trotzdem - ohne etwas zu vernachlässigen - das Wichtigste zu besprechen.

Am späten Nachmittag war meine Arbeit für diesen Tag getan, und ich suchte mir eine ruhige Bank in einer kleinen Parkanlage. Es war ein warmer Tag. Die Atmosphäre um mich herum war friedlich und mir fiel auf, daß ich das Zwitschern der Vögel wahrnahm und den Duft der Natur um mich herum. Das passierte mir nicht oft, und ich freute mich darüber. Aber heute war ja auch ein besonderer Tag.

Und wer bist du?, hatte mich das Licht gefragt. Immer wieder war mir im Laufe des Tages diese Frage in den Sinn gekommen, und jetzt schoß sie wieder durch meinen Kopf. In der Nacht war ich zu überrascht gewesen, um die Frage richtig verstehen zu können. Doch inzwischen war mir klar geworden, daß damit nicht nur mein Ich, mein Menschsein hinterfragt werden sollte. Also gut: Wer war ich?

Ich hatte mich in meinem Leben wenig mit religiösen oder philosophischen Fragen beschäftigt. Dazu war ich viel zu "normal": aus bürgerlichem Haus, Volksschulabschluß und kaufmännische Ausbildung, in der Jugend und im frühen Mannesalter die üblichen Interessen der Unterhaltung und des Geldverdienens, mit 28 Jahren geheiratet, nach anfänglichen Schwierigkeiten eine gute Ehe geführt, vielseitig interessiert, ein paar harmlose Hobbys, schnell in der Auffassung, aber nicht immer so tiefgründig im Denken, wie ich es mir selbst wünschte. Doch ab und zu hatte ich den Wunsch verspürt, mehr über "die Dinge dahinter" zu erfahren, auch wenn ich nicht genau wußte, um was es sich dabei eigentlich handelte. Da aber in der Zeit des Arbeitens und Vergnügens dafür keine Zeit war, blieben die Bücher über Esoterik, Mystik in den verschiedenen Religionen, Yoga, Leben und Tod und viele andere - die mich unbewußt ansprachen - ungekauft und ungelesen.

Und doch: Ich erinnerte mich plötzlich an das Bibelwort "Wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan". War ich solch ein Suchender, ohne daß es mir bewußt war? Wo und bei wem hatte ich - wenn es denn so wäre - angeklopft? Und wer hatte mir die Antwort, eine, die erste Antwort gegeben? "Die Liebe hat dir geantwortet", sagte ein Impuls in mir.

Wenn es die Liebe war - und ich zweifelte nicht einen Augenblick daran -, dann gab es mehr als das, was ich im Alltag wahrnehmen konnte. Dann gab es mehr als die "Wirklichkeit" um mich herum, mehr als die Materie, mehr als Geborenwerden und Sterbenmüssen. Es mußte dann eine andere Realität (vielleicht die richtige?) hinter derjenigen geben, die ich bisher als die einzig wahre angesehen hatte. Wenn dem so war, dann mußte diese andere Welt unserer materiellen weit "überlegen" sein; schließlich konnte und kam sie zu mir, hatte mit mir Verbindung aufgenommen - und nicht umgekehrt.

Es gab also ein Sein, ein Leben oder was auch immer (ich fand nicht sofort den richtigen Ausdruck) außerhalb der mir bisher bekannten Welt. So viel stand für mich fest. Wie paßte ich, wie paßte jeder Mensch aber da hinein? Gab es mehr als die mit den fünf Sinnen erfaßbare Materie, dann war auch ich mehr als Materie, mehr als die Summe meiner Zellen, Organe, Knochen usw. Gab es eine geistige Welt, dann war ich ein Teil davon. So, wie jeder andere auch. Dann aber war ich mehr als nur Ferdinand Frei. Dann gab es etwas viel Wichtigeres und Wertvolleres als das "bißchen Mensch", das hier saß und sich seine Gedanken machte.

Ich hatte die Zeit vergessen. Es war etwas kühler geworden. Während ich noch überlegte, ob ich gehen oder noch bleiben sollte, kam mir die andere Aufforderung des Lichtes in den Sinn: Gebrauche deinen Verstand. Mir war von Anfang an klar gewesen, daß ein solcher Hinweis alles andere als eine Anweisung war, den Intellekt unter Hintansetzung und auf Kosten des Gefühls die Hauptrolle spielen zu lassen. Er war viel eher als Ermahnung gedacht, den mir von Gott gegebenen Verstand nicht gänzlich einschlafen zu lassen, sondern ihn im rechten Sinne zu gebrauchen.

Dies hatte ich wohl in den letzten Minuten getan. Ich war ein wenig erstaunt bei dem Gedanken, daß dies gar nicht so schwer gewesen war. Zwar hatte ich noch nicht die Antwort auf die Frage, wer ich denn nun wirklich war; aber ich war dieser Antwort doch ein ganzes Stück näher gekommen. Da hatte ich ein Gehirn in meinem Kopf und brauchte es nur zu benutzen. Warum hatte ich dies nicht schon immer getan?

Ich war kurz davor, mir für diese gedankliche Großtat selbst auf die Schulter zu klopfen, als ich an meinem rechten Ärmel etwas verspürte. Ein Blick dorthin verriet mir, daß ein Vogel seine verdaute Nahrung verloren und meine Anzugjacke getroffen hatte. Das machte mich zwar im Moment stutzig, reichte aber als Anstoß wohl noch nicht aus. Denn kaum hatte ich damit begonnen, die Jacke so gut es ging zu säubern, stand ein kleiner Junge vor mir. Er schaute mir eine Weile zu und fragte dann:

"Was machst du denn da weg?"

"Das ist von einem Vogel", sagte ich, "gerade erst passiert."

Seine braunen Augen blickten mich an: "Da hast du aber Glück gehabt. Stell dir vor, der Vogelschitt hätte deinen Kopf getroffen." Und schon war er fort, rannte seinen Freunden hinterher, die auf einem angrenzenden Rasen Fußball spielen wollten.

Ich saß da und starrte ihm einen Augenblick lang nach. Langsam dämmerte mir, daß ich, anstatt mich über den Fleck zu ärgern, auch darüber nachdenken konnte, ob nicht sowohl der Vogel als auch das Kind mir etwas sagen wollten. Natürlich: Kaum war ich im Begriff, einmal meinen Verstand zu gebrauchen, trat der Stolz auf diese Leistung auf den Plan. So, als sei ich für Anstoß und Durchführung dieses einfachen Gedankenganges verantwortlich gewesen.

"Mach weiter so", dachte ich selbstironisch, "das wird was werden!" Und dann machte ich mich auf den Weg nach Hause.

 

*

 

Der nächtliche Eindruck war so mächtig gewesen, daß ich doch beschloß, mit jemandem darüber zu sprechen. Es kamen dafür nur zwei Menschen in Frage: meine Tochter Anne und mein Freund Peter. Anne wohnte seit 3 Jahren in einer etwa 200 Km entfernten Kleinstadt und fiel deshalb für den Moment aus. Also rief ich Peter an und bat ihn, mich noch zu besuchen. Da seine Frau Katharina ein tolerantes Wesen hatte - schließlich waren wir Männer erst am Abend zuvor zusammengewesen - und Peter eine gewisse Dringlichkeit in meiner Stimme verspürte, gab es kein Problem. Eine halbe Stunde später saßen wir uns in meiner Couchecke gegenüber.

Ich hatte mir überlegt, wie ich anfangen sollte, und dann entschieden, mit der Türe ins Haus zu fallen. So tat ich es dann auch. Ich ließ nichts aus, berichtete auch von den Ereignissen des Tages, schwieg schließlich und blickte meinen Freund an. Es entstand eine lange Pause. Peter war der erste, der das Schweigen brach.

"Und nun?"

Das war typisch für ihn: sachlich, praktisch, knapp. Und was mich freute, weil es die Sache für mich leichter machte, war jegliches Fehlen von hochgezogenen Augenbrauen oder leichter Ironie. Er glaubte mir.

"Ich weiß es nicht genau", antwortete ich. "Ich bin mir nicht sicher, wie es weitergehen soll. Natürlich wünsche ich mir, daß es nicht einmalig war. Es war einfach zu ..." Ich suchte nach Worten, "... zu wichtig", ergänzte Peter.

"Ja, zu wichtig und - zu schön."

"Willst du, daß das Licht wiederkommt?"

"Ich wüßte nicht, was ich mir im Moment mehr wünschte."

"Dann wird es auch geschehen." Diese Worte kamen so selbstverständlich, daß ich Peter leicht erstaunt anschaute.

"Was macht dich so sicher?", fragte ich.

"Hat das Licht dir nicht gesagt: Gebrauche deinen Verstand?" Ich nickte. "Also versuchen wir es gemeinsam", fuhr Peter fort. "Mir kann es auch nicht schaden." Er schloß kurz die Augen.

"Wenn das Licht die Liebe ist, verkörpert es die Allmacht Gottes. Und es gibt keine stärkere Kraft, das drückt schon das Wort 'Allmacht' aus." (Im Geiste zog ich meinen Hut vor meinem Freund.) "Keiner könnte das Licht also daran hindern, wieder zu dir zu kommen."

"Es sei denn, ich selbst", führte ich seinen Gedankengang fort, "indem ich entweder kundtue, daß ich so etwas nicht möchte, oder indem ich mich so verhalte, daß die Voraussetzungen für ein weiteres Erscheinen nicht gegeben sind."

"Das wäre dann der Fall", nahm Peter den Faden auf, "wenn du das, was dir das Licht zweifellos sagen und zeigen will, nicht wirklich annimmst."

"Ich würde dann damit zum Ausdruck bringen, daß mich das Ganze höchstens vom Verstand her interessiert, vielleicht meinen Intellekt zufriedenstellt, aber nicht in mein Herz gefallen ist. Ich würde mich damit zwar nicht durch das ausgesprochene Wort, aber durch die ausgeführte Tat distanzieren."

"Und da die wirkliche Liebe den freien Willen akzeptiert, würde das Licht sein Erscheinen einstellen", beendete Peter unsere Gedanken.

Das wäre das Letzte, was ich mir wünschte. Jetzt, da ich einen winzig kleinen Zipfel dessen erhascht hatte (nein, der Zipfel war mir in die Hand gelegt worden!), wohin unbewußt mein Sehnen ein Leben lang gegangen war, wollte ich ihn nicht mehr loslassen.

Wir schwiegen eine Zeitlang. Dann sagte ich:

"Was mich noch beschäftigt, ist die Frage, warum gerade mir so etwas passiert."

"Warum nicht dir?"

Ich hatte schon von Mystikern gehört, die Erscheinungen verschiedenster Art hatten. Aber es handelte sich dabei immer um Männer und Frauen, von denen man annehmen konnte, daß sie durch ein besonderes Leben eine intensive Nähe zu Gott gefunden hatten. Dies war bei mir nicht der Fall.

"Du weißt, daß ich nicht gläubig im Sinne der Kirche bin. Ich war mir allerdings sicher", ich mußte lächeln, als ich weitersprach, "jetzt natürlich erst recht, daß es eine Macht oder Instanz oder was auch immer gibt, die größer ist als alles Vorstellbare. Ich habe mich oft gefragt, was dieses Unfaßbare, das ich wie die meisten einfach als ‘Gott’ bezeichnet habe, wohl ist. Wie es oder er zu erreichen ist. Ob dieses unbewußte Fragen und Rufen ausgereicht hat?"

Ich überlegte einen Moment. "Aber etwas Besonderes bin ich nicht."

"Schön, daß du auf dem Teppich bleibst. Versuche es auch weiterhin." Freunde können sich so etwas und noch viel mehr sagen. Das war das Schöne bei uns. "Wenn es dein Ego nicht kitzelt, sage ich dir was: Ich glaube, es ist doch was Besonderes an dir. An dir, an mir, an jedem Menschen. Weißt du, was es ist? Wir sind einmalig. Keinen gibt es zweimal. Und dein Licht zeigt mir, daß da noch mehr ist: Du, ich, wir alle sind nicht nur einmalig als Mensch, sondern auch als ...", er suchte nach Worten, "... als etwas, das du noch herausfinden wirst. Dafür, vermute ich mal, ist dein Licht gekommen."

Ich schaute ihn nur an.

"Vielleicht", sprach er weiter, "hast du doch etwas - sagen wir mal - Besonderes. Ich glaube, du kannst denken. Du kannst deinen Verstand auch dann noch gebrauchen, wenn andere meinen, es wäre schon alles zu Ende gedacht. Du hörst nicht gleich auf."

In dem Punkt hatte er recht. Das hatte mich schon manchmal in Schwierigkeiten gebracht. Ich gab mich schon als Kind und später auch als Erwachsener mit der ersten Antwort auf ein "Warum?" selten zufrieden. Wenn es ging, schob ich ein zweites, drittes und mehr "Warum?" nach. Ich hatte nie ganz verstanden, warum sich die Menschen allzu früh mit der ersten Antwort abfanden. Natürlich hatte ich nicht auf alles die richtigen Antworten erhalten; wenn ich ehrlich war, nur auf das wenigste. Daß es aber auf alles Antworten gab, das stand für mich fest. Ich war aber wohl noch nicht reif dafür.

Während ich noch in Gedanken war, sagte mein Freund: "Außerdem könnte es ja sein, daß du gebraucht wirst. Und nicht nur du, sondern im Prinzip jeder. Laß dich überraschen. Wenn es so ist, dann ist das Licht deshalb zu dir gekommen, weil du jetzt gerade etwas Besonderes zu lernen hast. Und natürlich, um bei der Gelegenheit deine grauen Zellen zu fordern. Das wäre doch ein Grund. Oder meinst du", dabei schaute er mich direkt an, "wir hätten das, was wir zu lernen haben, oder unsere Aufgabe hier schon gefunden?"

Das war das Schöne und manchmal Schwierige an ihm: Wenn er recht hatte, hatte er recht. Und wenn er diesmal recht hatte, lag etwas vor mir, das - bei aller Liebe - auch Arbeit bedeutete.