Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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3. Die Himmel: Ausgangspunkt und Ziel zugleich

 

Ich schlief mit dem Wunsch ein, das Licht wiederzusehen, und ich wurde nicht enttäuscht. Es entstand plötzlich vor mir, und wenn diesmal auch das Überraschungsmoment fehlte, so war ich nicht minder berührt als beim ersten Mal. Meine Liebe war da.

Ich war immer da, begann das Licht, nie bin ich von deiner Seite gewichen. In unzähligen Augenblicken deines Lebens gab ich dir Impulse. Ich "sprach" in dich hinein. Wenn du nicht mit dir selbst und deinen Interessen beschäftigt warst, konnte ich zu dir durchdringen. Dann hast du auf meine Einsprachen in dein Gewissen gehört und entsprechend gehandelt. Oftmals jedoch mußte ich mit ansehen, wie du Dinge tatest, die nicht in Ordnung waren. Damit hast du dir dann letztlich selbst geschadet, zumindest hast du einen stetigen Entwicklungsprozeß behindert.

Hätte mir noch vor ein paar Tagen jemand so etwas gesagt, ich glaube, ich hätte das Gespräch abgebrochen. War ich doch der festen Überzeugung, daß ich zum einen so vieles nun auch nicht falsch gemacht habe, und zum anderen keiner das Recht hat (außer vielleicht Anne und Peter), so mit mir zu sprechen. Jetzt aber war ich nur tief beeindruckt von dieser Autorität, die unendliches Verstehen war, fernab jeder Verurteilung oder Schuldzuweisung.

"Was erwartest du von mir?", sagte ich schließlich.

Nichts.

In meinen Gedanken entstanden viele Fragezeichen. In diese Fragezeichen hinein sprach das Licht:

Gott ist die Liebe. Ich bin aus dieser Liebe, genau wie du, wie alles was ist. Und weil Liebe gleichzeitig auch Freiheit bedeutet, erwarte ich nichts. Es spielt für meine Liebe zu dir keine Rolle, was du tust, wie du dich entscheidest, welche Wege du gehen willst. Ich werde dich begleiten, bis du wieder dahin zurückgekehrt bist, woher du gekommen bist.

Von einer solchen Liebe hatte ich noch nichts gehört. Das heißt, in der Bibel gelesen hatte ich schon davon. Aber es waren für mich stets Botschaften aus einer anderen, unwirklichen Welt gewesen, abstrakte Gedanken, die zu leben oder zu erleben in unserer Realität mir nicht möglich schien. Aber zu hören und zu spüren, daß es diese Liebe wohl doch gab, das war Balsam für meine Seele. Im Moment aber interessierte mich mindestens ebenso stark noch etwas anderes.

"Woher bin ich denn gekommen, und wohin willst du mich begleiten?"

Wer bist du?

Als ob ich es geahnt hätte: Schon ging die "Arbeit" los. In diesem Moment wurde mir klar, daß das Licht mir nur wenige fertige Antworten geben würde. Lösungen, die praktisch auf einem "Silbertablett" präsentiert wurden, würde es nicht geben.

Du hast es richtig erkannt. Ich werde dir da helfen, wo du nicht weiterkommst, wo du Informationen oder Denkanstöße brauchst. Aber ich darf und kann dir den Gebrauch deines Verstandes nicht abnehmen. Den Grund wirst du verstehen. Ihr Menschen sprecht oft von der Schule des Lebens. Es soll also etwas gelernt werden. Sich selbst ein Ergebnis zu erarbeiten, ist etwas völlig anderes, als das fertige Ergebnis zu bekommen. In dem einen Fall hast du dir etwas geschaffen, du kannst darauf aufbauen; in dem anderen Fall hast du keine Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt, sondern das Resultat wurde dir präsentiert. Das allein aber hat keinen Bestand in deinem Leben. Es bildet keine oder nur eine schwache Grundlage, nichts, auf dem sich eine stetige Reifung deines inneren Lebens aufbauen läßt.

Was du selbst durchdacht, erlebt, angewendet, oftmals genug auch korrigiert hast, das wird dir helfen, in eine geistige Freiheit hineinzuwachsen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn du bereit bist, deinen Verstand zu gebrauchen und in gleichem Maße dein Herz sprechen zu lassen, kann ich dir helfen, deinen Weg mit weniger Schmerz und Kummer zu gehen als bisher. Du hast den freien Willen, und damit liegt die Entscheidung bei dir.

Natürlich wollte ich, und ich brachte dies auch zum Ausdruck. Schließlich würde ich mein Licht nicht mehr lassen, nachdem ich es (es mich?) gefunden hatte. Aber die Frage Wer bist du? stand noch im Raum.

"Nachdem ich dich kennengelernt habe", sagte ich, "brauche ich nicht mehr nur zu glauben. Jetzt weiß ich, daß es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als ich mit meinen Sinnen erfassen kann. Ich bin also nicht nur Mensch, sondern ..." Ich zögerte, weil ich mein Empfinden noch nicht in die rechten Worte kleiden konnte.

... Geist. Du bist Geist.

Nun denn: Ich bin Geist. "Dann muß in meinem festen, menschlichen Körper ein nicht-fester, geistiger Körper sein, etwas, das man nicht sieht." Ich dachte jetzt laut. "Ich erinnere mich an Geschichten, aber auch an ernstzunehmende Berichte von Menschen, die Erfahrungen mit nicht-materiellen Erscheinungen hatten. Nicht-materiell würde aber bedeuten, daß es neben dieser groben Lebensform auch noch andere, feinere gibt."

Deinen menschlichen Körper haben deine Eltern gezeugt und in die Welt gesetzt. Wer hat deinen geistigen Körper geschaffen?

Es hatte für mich noch nie eine Notwendigkeit gegeben, darüber ernsthaft nachzudenken. Zwar wußte ich aus der Zeit, da ich noch der katholischen Kirche angehörte, daß Gott nach deren Glaubensdogma bei jeder Zeugung eine Seele unmittelbar "aus dem Nichts schaffen" soll. Aber diese Vorstellung war für mich absurd, würde sie doch bedeuten, daß der Mensch Gott zwingen könnte, eine Seele zu schaffen, nur weil der Mensch den Körper zeugt. So herum konnte ich's nicht glauben. Da aber andererseits der Mensch nichts Geistiges formen kann (Wissenschaftliches oder Künstlerisches einmal ausgenommen, das aber nicht gemeint ist), mußte es eine weitaus höhere, größere Instanz für die Gestaltung der geistigen Welt mit allen ihren möglichen Ausdrucksformen geben. Aber wie sollte das vor sich gehen bzw. gegangen sein?

Etwas unsicher entschloß ich mich zu der Antwort: "Ich glaube schon, daß Gott es war."

Wer oder was ist Gott für dich?

"Sag du es mir", wollte ich schon erwidern, als mir noch rechtzeitig einfiel, daß ich ja meinen Verstand gebrauchen sollte. Aber es war nicht einfach.

"Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht. Bis gestern eigentlich fast gar nicht. Was ich weiß, sind die üblichen Ausdrücke oder Formulierungen. Ich selbst hatte bisher keine Vorstellung von ihm. Was mir einfällt ist Schöpfer, Ewigkeit, Unendlichkeit, Macht, Kraft - was noch?"

Du hast aus dem Kopf heraus geantwortet. Was sagt dir dein Herz? Spüre tief in dich hinein.

Ich war diese Art des Denkens nicht gewohnt, obwohl mir klar war, daß man dies mit dem Herzen oft viel besser tun konnte als mit dem Verstand. Die richtige Mischung machte es wohl.

Als ich dann in mich hineinspürte, kindlich-vertrauensvoll, bereit und offen, da wußte ich die Antwort. Sie war so klar und unmißverständlich da, seit Ewigkeiten ununterbrochen gegeben, daß ich mich fragte, warum ich sie nicht schon eher vernommen hatte.

"Gott ist die Liebe", sagte ich.

Und noch während dies aus meinem Herzen emporstieg und von meinen Lippen formuliert wurde, begann das Licht zu pulsieren. Es nahm an Helligkeit zu, nahm mich in sich auf und durchströmte mich. Mir schien, als wären wir eins geworden. Ich dachte nichts mehr, empfand nur noch und war für eine Weile in einer Welt ohne Raum und Zeit, fernab jeglicher menschlicher Vorstellung. Wer war ich wirklich? Ferdinand Frei? Nie und nimmer! Das bißchen Ferdinand Frei war nichts im Gegensatz zu der Dimension, in der ich für einen zeitlosen Moment leben durfte.

Langsam normalisierte sich das Geschehen um mich herum wieder, sofern man überhaupt von "normalisieren" sprechen konnte; denn immerhin war schon allein die Erscheinung des Lichtes alles andere als normal. Ich schwieg lange, ich wollte nichts zerreden. Was hätte ich auch fragen oder sagen sollen? Ich wußte, daß sich mir der Himmel geöffnet hatte; einen Spalt breit nur - mehr hätte ich nicht ertragen können -, doch es reichte aus, um die Antwort auf die immer noch offene Frage Wer bist du? ein für allemal zu geben. Mein Licht nahm mir diesmal die Antwort ab.

Du bist ein Kind der Himmel, du und ein jeder Mensch. Dies zu wissen, kann sehr hilfreich sein. Doch es hat auch Konsequenzen; nicht in dem Sinne, wie ihr Menschen diesen Ausdruck oft gebraucht, sondern in einer anderen Form: Wenn du weißt, daß dein wahres Wesen Geist ist, dann weißt du auch, daß diese Erde weder dein ursprüngliches noch dein endgültiges Zuhause ist.

Ich sinnierte: "Der Geist kommt aus dem Himmel; ich bin Geist, also ist der Himmel mein Ursprung. Oder meine Heimat."

Ganz plötzlich fiel mir das Gleichnis aus der Bibel ein, das vom "verlorenen Sohn" handelt. Dieser hatte seine Heimat, sein Vaterhaus verlassen und war in die Welt gegangen. Für eine Zeitlang war er ein Kind dieser Welt geworden, schließlich aber doch in das Haus seines Vaters, zu seinem Ursprung zurückgekehrt. Dort, wo der Ausgangspunkt war, lag auch das Ziel. Anders ausgedrückt: Quelle und Mündung waren eins.

"Ich bin von Gott gekommen", sagte ich zu meinem Licht, "und du begleitest mich dorthin zurück."

Als ich dies aussprach, begriff ich erst die ganze Tragweite dieser wunderbaren, nächtlichen Eröffnung. Ich war mehr als nur eine vorübergehende menschliche Erscheinung, war nicht allein, hatte einen geistigen Führer, hatte ein Ziel - und was für ein Ziel! Was sich aus diesen Erkenntnissen alles ergeben konnte, ja ergeben mußte! Jetzt verstand ich den Vergleich mit dem Zipfel einer Decke, den man in die Finger bekam, viel besser. Ein neues Weltbild würde sich mir eröffnen mit Dimensionen, die meine bisherige Sicht der Dinge winzig, unausgereift und äußerst beschränkt aussehen lassen würden. Ich würde anfangen zu leben.

Jeder, der sich auf das gleiche Abenteuer einließe, könnte, wenn er gleichermaßen Herz und Verstand gebrauchen würde, ebenso anfangen zu leben. Ich jedenfalls hatte vor, mich ernstlich darum zu bemühen.

Morgen gehst du mit einem anderen Bewußtsein in den Tag. Freue dich darauf. Du wirst lernen, auf Dinge zu achten, die du früher nicht wahrgenommen oder nicht richtig eingeordnet hast. Sei geduldig mit dir. Ich spüre deinen Wunsch, mehr zu wissen, schneller Neues zu erfahren. Denke daran, es geht nicht darum, in deinen Kopf Wissen hineinzustopfen. Wissen ist genug in dieser Welt. Entscheidend ist, dieses Wissen umzusetzen in die Tat. Das erfordert oftmals Überwindung und Mut, Ausdauer und Zeit. Es sind die kleinen Schritte, die dein Herz weiter machen.

Es gibt noch vieles zu lernen. Doch sorge dich nicht. Denke daran: Bei aller Notwendigkeit eines neuen Verhaltens sind Übereifer und Fanatismus fehl am Platz. Gehe mit offenen Augen durch den Tag, und wenn du möchtest, denke über das nach, was du so oft als "Zufall" bezeichnest.

Und - war da ein angedeutetes Lächeln, konnte das überhaupt sein? - gebrauche deinen Verstand.

Es war eine gute Nacht, vielleicht die beste in meinem Leben. Ich erwachte ausgeruht, die nächtlichen Ereignisse klar vor Augen. Jede einzelne Empfindung, jeder Gedanke, jedes Wort waren da. Und doch schien mir, als ich aus dem Bad kam, in die Küche ging und begann, mir ein einfaches Frühstück zu bereiten, als würde dieses Hochgefühl etwas an Wirksamkeit verlieren. Nicht, daß auf einmal etwas fehlen würde, aber der Tag begann, seinen Anspruch zu erheben. Freude, das begriff ich, war gut; sie war der Motor. Das war die eine Seite. Den Blick nicht zu verlieren für die Dinge des Alltags, das war die andere. Beides in Einklang zu bringen, das war wohl das Geheimnis.