Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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4. Der Tag spricht und spricht ...

 

Ich hatte beschlossen, besonders wachsam durch den Tag zu gehen. Schon bald jedoch bemerkte ich, daß dies gar nicht so einfach war. Die Zielsetzung, auf all die großen und kleinen Begebenheiten zu achten, ließ sich nicht - oder nur in ganz begrenztem Umfang - in die Tat umsetzen. Persönliche Gespräche, das Einmaleins der Routinearbeit, Anrufe und vieles mehr nahmen meine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Zwischendurch erinnerte ich mich zwar an mein Vorhaben und versuchte dann auch, in Gedanken schnell die letzten Minuten zu rekapitulieren. Aber im Grunde genommen war es ein wenig erfolgreiches Unterfangen. Ich war diese Art von Wachsamkeit noch nicht gewohnt. Lediglich einmal an diesem Vormittag "klickte" es bei mir, als ich im Büro von hinten angestoßen wurde. Dabei verschüttete ich einen Teil meines Kaffees, den ich rasch noch im Stehen hatte trinken wollen, bevor ich zu meinen Kundenbesuchen aufbrach. Ein paar Briefe und Rechnungen auf meinem Schreibtisch wurden naß. Hinter mir hörte ich ein Poltern.

Als ich mich ein wenig verärgert umdrehte und ein paar passende Worte sagen wollte, sah ich, daß einer Kollegin ein großer Stapel Aktenordner aus den Händen gerutscht war. Bei dem Versuch, die Akten und sich selbst im Gleichgewicht zu halten, hatte sie die Balance verloren und mich "angerempelt". Gott sei Dank vergaß ich sofort meinen Unmut, brauchte mich daher auch für eine vorschnelle, emotionsgeladene Äußerung nicht zu entschuldigen und half ihr beim Zusammenräumen ihrer Unterlagen.

Während wir auf dem Boden knieten, schaute ich sie kurz an. "Typisch für sie, diese Dusseligkeit", wollte ich schon denken, als ich ihr rechtes, bandagiertes Handgelenk sah. Das war der Moment, in dem es "klick" machte, und ich mich daran erinnerte, auf die zufälligen Ereignisse des Tages zu achten und auch darauf, ob sie mir vielleicht etwas sagen wollten. Die Zeit hatte ich allerdings nicht, gedanklich tiefer in unseren Zusammenstoß einzusteigen, und so beschloß ich, dies mittags während einer kleinen Pause nachzuholen.

Das tat ich denn auch. Doch ich war nicht sehr geübt in diesen Dingen, und so blieb es bei der nicht sehr tiefschürfenden Erkenntnis, daß man diesen Zwischenfall auch hätte vermeiden können, wenn entweder ich meinen Kaffee nicht hastig noch im Stehen getrunken und - bzw. oder - die Kollegin ein paar Aktenordner weniger auf die Arme genommen hätte. Daß ich gerade noch einen Ausruf der Unwilligkeit hatte unterdrücken können, erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung über ein fortgeschrittenes, ziviles oder soziales Verhalten.

Soweit kam ich mit meiner Bilanz der ersten Stunden. Es war ganz sicher noch mehr an diesem Vormittag, was der Beachtung und des Nachsinnens über den Zufall wert gewesen wäre, doch ich "sah" noch nicht mehr. Beim Nachdenken darüber schienen sich jedoch zwei Arten von Geschehnissen herauszukristallisieren: Auf der einen Seite ergab sich das eine aus dem anderen, so als griffen die Dinge ineinander und ergänzten sich, waren so selbstverständlich wie das Grüßen und Gegrüßtwerden; auf der anderen Seite passierte etwas "einfach nur so", anscheinend herausgerissen aus irgendwelchen Zusammenhängen. Wie zum Beispiel unser kleiner, morgendlicher Zusammenprall.

Für den Nachmittag war unter mehreren anderen auch ein Besuch vorgesehen, der außerplanmäßig wegen einer Falschlieferung stattfinden mußte. In diesem Fall hatte unser Lehrling den Anruf entgegengenommen und die Nachricht irrtümlich auf einen falschen Schreibtisch gelegt. Die Information war inzwischen vier Tage alt, die Angelegenheit also dringend geworden.

Den Kunden kannte ich schon viele Jahre, zwischen uns bestand ein fast freundschaftliches Verhältnis. Das war bei vielen meiner Kunden so, und diese Tatsache trug mit dazu bei, daß ich viel Spaß an meiner Arbeit hatte. In einem Fall war ich sogar gebeten worden, Trauzeuge zu sein; in einem anderen hatten wir uns gegenseitig bei verschiedenen handwerklichen Arbeiten geholfen. Dort, wo nun die Falschlieferung zu klären war, kannte ich die ganze Familie. Oft genug war ich auf eine Tasse Kaffee eingeladen worden.

Die Beanstandung war mit beiderseitigem guten Willen in wenigen Minuten aus der Welt geschafft. Wir besprachen noch ein paar Sachen, ich erfuhr darüber hinaus die neuesten Entwicklungen ihres einzigen Sprößlings, als die Schwiegermutter meines Kunden das Büro betrat. Sie half ab und zu mit, und wir kannten uns seit langem. Es ging ihr augenscheinlich nicht sehr gut. Sie war erst vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Gestern hatte sie dann noch von einem Selbstmordversuch einer guten Bekannten (deren Leben aber gerettet worden war) gehört. Nun saßen wir uns gegenüber. Sie sprach von ihren sorgenvollen Gedanken, ich hörte ihr zu. Ab und zu stellte ich ein paar Fragen und überlegte gleichzeitig, auf welche Weise ich ihr helfen könnte. Konnte ich es überhaupt?

Mit einer Stimme, in der eine leichte Resignation schwang, sagte sie nach einer Weile: "Ich glaube, das ist ein bißchen viel auf einmal. Das ist sehr schwer für mich, vielleicht zu schwer."

Ich hörte mich sagen: "Und ich glaube, daß uns nie mehr aufgebürdet wird, als wir auch verkraften können."

Sie schaute mich nur an. Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, als würde ihre Seele genauestens auf das lauschen, was ich gerade sagte.

"Wer schon etwas stark geworden ist, der darf bestimmt seine innere Stärke an größeren Aufgaben messen. Aber zu schwer, nein", ich schüttelte den Kopf, "das kann ich niemals glauben. Das wäre ja ungerecht."

Als ich am Abend noch einmal über dieses Gespräch nachdachte, wußte ich nicht mehr genau, was ich gesagt hatte. Und das bißchen, das mir noch einfiel, schien mir nicht sehr bedeutend gewesen zu sein. Es war eine eigenartige Empfindung in mir; so als wollte etwas aufgehen, es aber noch nicht können. Irgend etwas konnte ich nicht fassen. Da war etwas anders als früher. Klar, das Licht war da. Aber das war es nicht. Fing ich an, die Dinge anders zu sehen?

Ich wußte es nicht. Deshalb beschloß ich, abzuwarten und geschehen zu lassen, was geschehen sollte. Mein Gefühl sagte mir, daß mein Besuch zufriedenstellend verlaufen war: Die Reklamation war aus der Welt, und das anschließende persönliche Gespräch hatte vielleicht doch ein bißchen Mut gemacht.

Ansonsten war an diesem Nachmittag nicht mehr viel geschehen, abgesehen vielleicht von einer kleinen Episode auf dem Heimweg. Vor mir bummelte ein Kleinwagen mit einer Frau am Steuer, den ich auf der kurvenreichen Landstraße mehrmals erfolglos versucht hatte zu überholen. Schließlich gab ich auf und besann mich darauf, daß ich ja nicht unter Zeitdruck stand. Warum sollte ich nicht auch langsamer fahren und, anstatt zu drängeln und meiner Vorderfrau negative Gedanken zu schicken, mich an der Landschaft erfreuen?

Plötzlich kam der Wagen vor mir leicht ins Schlingern, wurde abgebremst und stand schließlich. Ich wollte gerade vorbeifahren, froh, nun zügig nach Hause zu kommen, als sich der "Kavalier" in mir meldete. Er könne es nicht gutheißen, daß ich eine Frau auf einer relativ wenig befahrenen Strecke mit einem möglicherweise defekten Auto sich selbst überließe. Also hielt ich an, stieg aus und schaute mir den Schaden an. Ein Reifen war platt.

Das Übel war durch die Montage des Ersatzreifens rasch behoben, wir sprachen noch ein wenig miteinander, beide erfreut, einen netten Menschen kennengelernt zu haben, dann verabschiedeten wir uns voneinander, und eine halbe Stunde später war ich daheim. In dieser Situation über den Zufall nachzudenken, das vergaß ich allerdings. Vielleicht deshalb, weil ich ein paar mal und mit Freude in junge und lachende Augen geschaut hatte.

"Das war kein schlechter Tag", sagte ich mir später unter der Dusche. Und noch später, nach einem kleinen Essen, bei einem Glas Wein und einem Klavierkonzert von Mozart, versuchte ich, den Tag Revue passieren zu lassen. Ich sollte ja, so ich wollte, über den Zufall nachdenken. Hatte dieser Tag Möglichkeiten dazu gegeben?

"Ja", sagte ich mir, "da war allerhand drin." Und während ich mein Gedächtnis ein wenig anstrengte, kamen mir mehr und mehr Situationen der letzten 12 Stunden in den Sinn. Jetzt, im Nachhinein, war es eigenartigerweise leichter, in ein Tagesgeschehen - und sei es nur ein Augenblick gewesen - hineinzuschauen. Während des Tages war mir dies kaum möglich gewesen, vor allem dann, wenn es arbeitsintensiv zuging. Die Eindrücke, die von allen Seiten ständig auf mich zukamen, und eine vielfältige Gedankenproduktion verhinderten selbst ein ganz kurzes Innehalten.

Ich spürte plötzlich, daß ich müde wurde. Ich wollte nicht - was zwischendurch immer wieder einmal geschah - in meinem Sessel einschlafen. Deshalb erhob ich mich kurz entschlossen, ging in mein Bett, dachte an mein Licht und schlief wohl augenblicklich ein.