Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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5. Die Entschleierung des Zufalls

 

Du warst nie allein. Gott läßt keines Seiner Kinder allein. Es gab nie einen Augenblick - und es wird nie einen geben -, in dem du dir selbst überlassen bist. Weder du noch irgendein Mensch. Darin drückt sich unter anderem die Liebe Gottes aus.

Das Licht war da, und was es sagte, war dazu angetan, daß ich mich sicher und geborgen fühlte. Gleichzeitig warf seine Aussage viele Fragen auf. Wenn kein Mensch schutz- und hilflos sich selbst überlassen ist, warum passiert dann so viel Schlimmes in der Welt? Warum wird dann nicht der gute Mensch vor dem bösen bewahrt? Wo ist die Hand Gottes, wo sind die unzähligen Hände seiner Schutzengel in Momenten des Unglücks und der Ungerechtigkeit?

Ich vergaß in meiner gedanklichen Aufwallung, daß mein Empfinden und Denken für das Licht wie ein offenes Buch waren. Schon bekam ich die Antwort.

Ich war auch in den vergangenen Stunden an deiner Seite. Der Tag hat auf vielfältige Art und Weise zu dir gesprochen. Könntest du alles erfassen, verstehen und verarbeiten, was er dir gesagt hat, du wärest allein an diesem einen Tag einen mächtigen Schritt in deiner Erkenntnis und Entwicklung vorangekommen.

Gott weiß jedoch, wie eingeengt das Bewußtsein der meisten Menschen ist. Er weiß, daß sie deshalb immer und immer wieder, ja ununterbrochen Hinweise und Anstöße benötigen, um wenigstens ab und zu einmal ein klein wenig nachzudenken. Daher sind die Tage voller Botschaften. Wer sich bemüht, diese zu erkennen, wer sie und sich selbst hinterfragt, der kann so vieles lernen. Und er bekommt auf so vieles Antworten.

Auch dir hat der Tag eine Fülle von Impulsen gegeben. Der eine oder andere könnte dir zu Antworten verhelfen, sofern du bereit bist, deinen Verstand zu gebrauchen. Willst du?

Natürlich wollte ich.

"Daß mir verschiedene Situationen des Tages etwas sagen wollten, ist mir schon aufgefallen. Ich habe auch ... kurz ('kurz' fiel mir gerade noch rechtzeitig ein, weil schwindeln ja ohnehin nicht möglich war) über Verschiedenes nachgedacht. Sehr weit bin ich nicht gekommen. Ich bräuchte deine Hilfe."

Du wolltest über das nachdenken, was ihr Menschen den "Zufall" nennt. Wenn du dabei die Logik nicht verläßt, wirst du zu überraschenden Ergebnissen kommen. Der Tag hat dir einiges gezeigt. Es diente dazu, daß du dir Gedanken machst über mögliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Geschehnissen. Es diente weiterhin zum Erkennen deiner eigenen Fehler und Schwächen, aber auch der Seiten an dir, die du schon positiv entwickelt hast.

Lassen wir im Moment den Aspekt der Selbsterkenntnis beiseite. Konnten dir die Tagesereignisse Antworten auf das Für und Wider in bezug auf den Zufall sein?

Mir fiel ein, daß ich glaubte, zwei Arten von Geschehnissen entdeckt zu haben: solche, die zusammenhängen, und solche, die für sich allein da stehen und grundlos geschehen. Ich ahnte schon, daß diese Antwort noch nicht der Weisheit letzter Schluß sein würde, aber immerhin - es war ein Anfang.

Ein schöner Anfang. (Verfügte mein Licht über eine Art Humor?) Glaubst du an ein Ordnungssystem, an göttliche Gesetze, die in der gesamten Schöpfung wirken?

Die Fragen kamen alle ein wenig überraschend für mich. Vor ein paar Tagen war ich noch ein "ganz normaler" Mensch gewesen, zwar immer schon mit dem Drang in mir, hinter den Horizont zu schauen, aber ansonsten nicht übermäßig stark engagiert, in philosophische oder religiöse Geheimnisse einzudringen. Und jetzt war ich "gezwungen", auch darüber möglichst folgerichtig nachzudenken. Aber im Grund wollte ich es ja nicht anders.

Auch wenn ein Blick in die Medien die Welt immer chaotischer erscheinen ließ, konnte die Antwort doch nur lauten:

"Ich kann mir eine Schöpfung ohne Regeln und Richtlinien nicht vorstellen. Schon, wenn man einen Garten bestellen, ein Kleid schneidern oder ein Möbelstück bauen will, braucht man einen Plan. Da bedarf es ganz sicher eines gewissen Ordnungsprinzips, wenn man den sichtbaren und unsichtbaren Kosmos schaffen und aufrechterhalten will."

Das würde bedeuten, führte das Licht meinen Gedanken weiter, das augenscheinliche Chaos auf dieser Erde ist nicht von Gott verursacht, sondern allenfalls von Ihm zugelassen. Von Ihm sind dann aber die Gesetze, die in und hinter allem wirken, gleichsam unsichtbar, in die alles und jeder eingebunden ist, ob er es nun bemerkt oder nicht. Und ob er es wahrhaben will oder nicht.

"Das wäre eine göttliche Ordnung, in der alles seinen Sinn und jedes und jeder seinen Platz hat.", antwortete ich. "Aber so ist es ja eben nicht. Viele Dinge geschehen, die mit dem Verstand nicht einzuordnen sind." Ich hatte mich ein bißchen in Fahrt geredet. "Noch kann ich die Widersprüche, die sich aus der Liebe Gottes und der Ungerechtigkeit in der Welt ergeben, nicht einordnen. Und mit mir die meisten Menschen nicht."

Fast ein wenig trotzig fügte ich noch hinzu: "Hätte Gott sich die Mühe gemacht, die vielen Fragen seiner Menschenkinder nach dem 'Warum?' zu beantworten, dann gäbe es mehr Verständnis füreinander. So fangen die einen an, die Existenz einer höheren Macht in Frage zu stellen oder gar zu leugnen. Die anderen glauben zwar blind, bewirken dadurch aber auch nicht mehr; dem größten Teil der Menschen ist es aber anscheinend völlig gleichgültig, ob es da noch etwas gibt."

In meinem Eifer hatte ich völlig vergessen, daß ich mir bzw. wir uns eine Antwort erarbeiten wollten. "Wieso", wiederholte ich, "hat Gott die Frage nach dem 'Warum?' nie beantwortet?"

Was glaubst du?

Da war es schon wieder, dieses Herausfordern des Verstandes. Konnte mir das Licht nicht wenigstens einmal eine einfache Frage beantworten?

Wollte ich jedoch in die Geheimnisse des Lebens eindringen, mußte ich mich - das sah ich ein - wohl oder übel den "Spielregeln" des Lichtes anpassen. Schließlich hatte es das Ganze ins Leben gerufen - und nicht ich. Ich war lediglich in der Position eines Schülers, der entscheiden konnte, ob er etwas lernen wollte oder nicht. Auf die Führung des Unterrichts hatte ich keinen Einfluß. Oder vielleicht doch? Mit einer Art, die geduldiger und demütiger war?

Was also glaubte ich? Bisher hatte ich, ohne zu überlegen, angenommen, daß das Verhältnis Gottes zu seinen Menschenkindern von einer gewissen Einseitigkeit geprägt war: Die da unten rufen, und der da oben hört nichts. Vielleicht hört er auch was, sagt aber nichts. Vielleicht sagt er sogar mal was, dann aber fast immer auf eine sehr indirekte, meist nicht zu entschlüsselnde Weise.

Diese Form des Denkens (das mit "denken" zu bezeichnen, scheint mir heute stark übertrieben) war gängige Praxis, wohin ich auch schaute.

Die Frage des Lichtes hatte zwangsläufig etwas in mir angestoßen. "Laß mir einen Augenblick Zeit", sagte ich.

Du hast alle Zeit der Welt.

Wenn Gott die Liebe war - ist, verbesserte ich mich sogleich, und wenn er die Macht hat, dann hat er auch die Möglichkeit, mit und zu seinen Kindern zu sprechen. Dann war es möglicherweise umgekehrt, als immer angenommen: Dann spricht der da oben, und die da unten hören ihn nicht oder wollen nichts hören. Denn entweder ist er die Liebe, und hat er die Macht, dann spricht er - vor allem, wenn er sieht, wie seine Kinder leiden. Oder er schweigt, weil er das eine nicht ist und das andere nicht hat. In diesem Fall wäre es sowieso sinnlos, sich überhaupt Gedanken über ihn, über mich und die Welt zu machen.

Das war in meinen Augen eine gewaltige Schlußfolgerung. Komisch, daß ich sie nicht eher gezogen hatte. Ich nahm mir in diesem Moment vor, künftig überall dort, wo ich mit einem direkten Denkansatz nicht weiterkam, mit dem Umkehrschluß zu arbeiten. Zwar war mir klar, daß diese Methode nicht frei von Irrwegen ist (Die Wiese ist grün; alles was grün ist, ist Wiese!), aber oftmals erschließen sich so neue Erkenntnisse, an denen man sonst vorübergeht.

"Er muß zu den Menschen gesprochen haben", sagte ich schließlich. "Sie haben ihn entweder nicht gehört, nicht verstanden oder ihm nicht geglaubt. Oder", ein schlimmer Verdacht stieg in mir auf, "diejenigen, die nicht wollten, daß man ihn hört und damit die Wahrheit erfährt, haben sein Wort verändert."

Er m u ß nicht nur zu den Menschen gesprochen haben, Er
h a t es getan und tut es immer noch und immer wieder. Er spricht durch viele Münder überall auf der Welt. Seine Liebe schweigt nicht, weil Er, die Quelle, alles in den Ursprung zurückführen wird.

Gott hat also die Frage nach dem "Warum?" beantwortet, tausendfältig zu allen Zeiten innerhalb und außerhalb eurer Religionen. Christus hat vor annähernd 2000 Jahren die Frage beantwortet. Wer sucht, der findet sie sogar noch in seiner Bibel, auch wenn eure Theologen anderes behaupten.

Du willst die Antwort wissen. Dann gib sie dir selbst. Gibt es einen Zufall?

Ich war viel zu gebannt von unserer nächtlichen Debatte, als daß ich schon wieder hätte Anstoß nehmen wollen an diesem Stil der Gesprächsführung. Wahrscheinlich war es ohnehin das Beste, ich würde die Dinge geschehen lassen.

"Ich rede jetzt mal ins Unreine", sagte ich zu meinem Licht. "Laß mich mal laut denken, das hilft mir manchmal. Zufall hieß bei mir bis jetzt immer, daß etwas 'einfach so' passiert. Du hast keinen Einfluß darauf. Du triffst zum Beispiel überraschend einen alten Bekannten. Oder du findest zufällig auf der Straße eine Mark. Oder ..."

... ein Vogel im Flug trifft rein zufällig deine Jacke.

"Genau. Oder du gewinnst im Lotto oder bleibst zufällig mit dem Schuhabsatz im einzigen Loch auf dem Bürgersteig weit und breit stecken."

Oder jemand hat zufällig einen Reifenschaden, während du hinter ihm fährst.

Ich wollte gerade dem Licht beipflichten, als ich das Glatteis bemerkte, auf das ich möglicherweise geführt werden sollte.

"So habe ich jedenfalls bisher immer gedacht", wandte ich ein - wie um mich zu rechtfertigen. Ich machte eine kleine Pause, so, als ob ich eine Gegenrede erwartete. Es kam aber keine. "Wenn ich diesen Gedanken weiterführen würde, dann hieße 'es passiert einfach so', daß etwas ohne Grund oder Ursache geschieht. Einfach so. Das kann aber wohl doch nicht sein. Wenn ich, wie du es nennst, in der Logik bleiben will, muß einer Folge, irgendeinem Geschehen oder Ergebnis auch eine Ursache vorausgegangen sein." Spontan fiel mir ein Beispiel ein: "Das Blatt fällt nicht zufällig vom Baum, sondern es muß eine Ursache dafür gegeben haben, zum Beispiel einen Windstoß."

Und Briefe und Rechnungen werden auch nicht zufällig mit Kaffee beschmutzt. Also hat es einen Grund für die kleine Rempelei gegeben.

Ich kam jetzt richtig in Schwung. "Die Voraussetzung für das Gespräch mit der Schwiegermutter meines Geschäftspartners wurde erst dadurch gegeben, daß der Besuch eigentlich vier Tage verspätet stattfand. Denn unser Lehrling hatte die Information auf den falschen Schreibtisch gelegt. Hätte ich sie sofort erhalten, wäre mein Besuch zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die Frau noch im Krankenhaus war. Und unser Gespräch hätte nicht stattgefunden."

Langsam gingen ein paar Lichter in meinem Kopf auf. Doch es würde nicht einfach sein, sich auf dieses neue Denken einzustellen. Es schien mir, als würden dadurch mehr neue Fragen aufgeworfen als alte beantwortet. Ich wußte damals noch nicht, wie sehr ich mit dieser Annahme recht hatte. Stellte doch die Einbeziehung des Prinzips, daß jede Wirkung auch eine Ursache haben muß, mein bisheriges Weltbild ziemlich auf den Kopf. Eine neue Sicht der Dinge begann sich abzuzeichnen, zwar langsam aber sicher. Und das nicht zuletzt deshalb, weil mir das Licht immer wieder half, einen Gedanken bis zu seinem Ende konsequent weiterzuführen. Zumindest so weit ich das wollte, und so gut ich das konnte. Ich von mir aus hätte sicher nicht die gedankliche Geschicklichkeit und die Ausdauer dafür gehabt, auch wenn ein inneres Drängen mich nie ganz zur Ruhe oder gar Gemächlichkeit kommen ließ. Gott sei Dank - im wahrsten Sinne des Wortes. Mein lebenslanges Fragen nach dem "Warum?" bekam so die ersten Antworten - nicht theoretisch dargereicht, sondern praktisch herausgearbeitet.

Für deine weitere, innere Entwicklung ist es entscheidend, daß du den Regelmechanismus einer gesetzten Ursache und der sich daraus ergebenden Wirkung erkennst und in dein Leben mit einbeziehst. Dieses Prinzip wird das "Gesetz von Ursache und Wirkung" oder auch "Karmagesetz" genannt. Die meisten Menschen haben davon gehört, doch sie leben nicht danach. Die Christen kennen dieses Gesetz. In ihren Bibeln steht: "Denn was einer sät, das wird er auch ernten". Warum ist es so schwer, dieses Wort auf das eigene Tun und Lassen anzuwenden?

"Ich glaube, dies ist aus dem Grunde so, weil aus dieser Bibel- aussage keiner eine umfassende Sicht von Saat und Ernte ableitet. Sicher aber auch deshalb nicht, weil ...", da war sie wieder, die Konsequenz eines bis zu Ende gedachten Gedankens, " ... weil ein jeder davon betroffen wäre. Und zwar nicht nur mal ab und zu, sondern in jeder Lebenssituation, also im Prinzip immer. Der Gedanke daran kann einen mit Angst erfüllen. Also verdrängt man ihn lieber." Und in Gedanken fügte ich kleinlaut hinzu: "So wie ich es ja auch oft genug getan habe."

Gott ist die Liebe. Daraus ergibt sich unter anderem auch die Gerechtigkeit, deren Schwester wiederum die Ordnung ist. Göttliche Ordnung aber ist ebenso allumfassend wie jedes andere göttliche Prinzip. Es kann also kein Prinzip oder kein Gesetz bei Gott geben, das mal wirkt und mal nicht wirkt. Hier ja und dort nicht, heute vielleicht und morgen wahrscheinlich - das wäre Willkür und damit nicht göttlich.

Das konnte ich erkennen und akzeptieren.

"Es heißt dann aber auch", nahm ich den Gedanken auf, "daß das Gesetz von Ursache und Wirkung auf der ganzen Erde und bei jedermann gelten muß. Wer dies nicht glauben will oder kann, dem bleibt als Alternative nur: Es gibt gar kein solches Gesetz."

Mach weiter.

"Wer so denkt, dem bleibt nur eine Erklärung: Das war ein Zufall! Der Zufall - oder jetzt besser: der sogenannte Zufall - und das Gesetz von Ursache und Wirkung sind zwei miteinander nicht zu vereinbarende Ansichten. Es sind Gegensätze, die sich ausschließen."

Wofür entscheidest du dich?

Ich zögerte nicht: "Du lehrst mich, meinen Verstand zu gebrauchen. Also glaube ich an das Gesetz von Ursache und Wirkung. Allerdings ergeben sich daraus viele Fragen. Wenn ich bei meiner Suche auf mich allein angewiesen wäre und dich nicht hätte, wüßte ich nicht, wie ich die Antworten finden sollte. Und", fügte ich hinzu, "so viele Menschen auf der Welt haben nicht das Glück wie ich. Sie sind allein."

Es ist gut, wenn du auch an andere denkst. Doch vergiß nicht: Keiner ist allein. Jeder, der sich führen lassen will, wird geführt. Ja, selbst wenn er dies ablehnt, überläßt ihn Gott nie sich selbst. Der göttliche Funke in einem jeden kann nicht erlöschen, ganz gleich, was derjenige tut. Im gleichen Augenblick, in dem der Mensch einen "geistigen Ruf" losschickt, sei es eine Bitte, eine Frage oder ein Hilfeschrei, ist die Liebe Gottes zur Stelle. Diese Liebe, die sich durch Christus in dieser Welt offenbart hat, führt den Fragenden und Rufenden genau so, wie es seiner momentanen Entwicklung und seinen Möglichkeiten entspricht. Das heißt Schritt für Schritt. Keiner wird überfordert, doch auch kein Ruf bleibt unerhört.

Mein Inneres wurde ganz weit und weich. Es war so tröstlich, sich diesem Licht hinzugeben und aus der Weisheit Gottes - und seien es nur die kleinsten Splitter - zu erfahren. Ich war dankbar für diese Liebe und schwieg eine Weile.

"Und doch paßt so vieles noch nicht zusammen", sagte ich schließlich. "Wie ..."

Tu den zweiten Schritt nicht vor dem ersten.

Es war das erste Mal, daß mich mein Licht unterbrach. Hatte ich etwas übersehen, nicht richtig durchdacht? War ich dabei, voreilige Schlüsse zu ziehen? Wollte ich Fragen stellen zu Antworten, die schon offen da lagen? Was mir durch den Kopf ging war, daß zwar rein theoretisch jedes Geschehen einen Auslöser haben mußte, in der Wirklichkeit des Alltags dieser Auslöser aber oft - selbst bei schärfstem Nachsinnen - nicht zu finden war. Es mußte aber eine Ursache für jede Wirkung vorhanden sein, nicht nur, weil ich mich für diese Sicht der Dinge entschieden hatte, sondern auch, weil es Gesetz war. Das stand für mich inzwischen fest. Wo aber lagen die Ursachen, die ich nicht finden konnte? Außer mir mußte es Millionen Menschen geben, die wie ich bei der Ursachenforschung im Dunkeln tappten.

Manche Ursachen konnte man auf Anhieb erkennen. Ich nahm das Beispiel des verschütteten Kaffees.

"Ich versuche jetzt, ein Geschehen nachzuvollziehen und dabei Schritt für Schritt zurückzugehen. Also: Die Ursache für die nassen Rechnungen und Briefe war der Kaffee. Ursache leicht gefunden. Der Grund für die Verschüttung des Kaffees war ein Stoß in meinen Rücken."

Ursache gefunden, wollte ich gerade sagen, als mir auffiel, daß der verschüttete Kaffee - der als Ursache für die nassen Geschäftspapiere herhalten mußte -, daß dieser Kaffee im nächsten gedanklichen Rück-Schritt die Wirkung darstellte, die Wirkung nämlich auf den Stoß in den Rücken. Durch die Stückelung des Gesamtgeschehens in Einzel-Situationen ergab sich so eine ganze Kette von kleinen Ereignissen, die ineinandergriffen und die zugleich Ursache und auch Wirkung waren. Was sich für einen Moment als Auswirkung herausstellte, wurde im nächsten Moment zu einer neuen Ursache.

"Der Rückenstoß hatte seine Ursache in den verrutschten Aktenordner. Dieses Verrutschen wiederum wurde verursacht durch a) einen zu großen oder unsauber gestapelten Aktenberg und b) durch ein anscheinend verletztes, zumindest aber bandagiertes Handgelenk. Die Ursache dafür?"

Jetzt wurde es schwieriger. Es schien mehrere Gründe zu geben: Eine Unachtsamkeit meiner Kollegin, eine Falscheinschätzung ihrer Balancier-Fähigkeiten, vielleicht ein zusätzliches Ausrutschen auf glattem Boden? Die Möglichkeiten vermehrten sich, je intensiver ich darüber nachdachte. Warum mußte sie überhaupt in diesem Moment hinter mir vorbeigehen? Warum konnte sie nicht rechtzeitig etwas sagen, so daß ich ihr hätte helfen können?

Ich war so auf das Finden weiterer Ursachen, die meine Kollegin betrafen, fixiert, daß ich die nächste Frage des Lichtes überhörte.

Warum suchst du so sehr bei ihr? kam die Wiederholung. Es gibt genügend Ansatzpunkte bei dir selbst.

"Bei mir? Aber ich habe doch nur da gestanden, die Tasse in der Hand."

Unendliche Geduld strömte mir in der Antwort des Lichtes entgegen, so daß ich mir wie ein begriffsstutziger Schüler vorkam - der ich ja in Wirklichkeit auch war:

Warum warst du zu diesem Zeitpunkt noch nicht unterwegs? Warst du nicht unter Zeitdruck und trankst deshalb die Tasse Kaffee im Stehen? Was war die Ursache für deine leichte Unruhe? Gut, es mußte noch einiges vorbereitet werden; warum aber konntest du nicht gelassener reagieren?

Ich war nachdenklich geworden, als das Licht mir diese Aspekte des eigentlich kaum der Rede wert gewesenen Zusammenstoßes aufzeigte. Ganz langsam begriff ich, daß selbst auf den ersten Blick unbedeutende Ereignisse bei näherem Betrachten eine Menge an Erkenntnissen hergeben konnten. Und dabei ging es bei unserer Analyse noch nicht einmal um tiefere Einblicke, sondern nur darum, festzuhalten, daß jede Wirkung eine Ursache hat. Das, was auf den ersten Blick als zufällig geschehen angesehen werden konnte, entpuppte sich als eine Verkettung vieler Ursachen und Wirkungen - kaum, daß man richtig hingeschaut hatte. Noch nicht einmal einen Bruchteil davon konnte ich richtig einordnen.

Die Auffassung von den Zufälligkeiten, die das Leben angeblich bestimmten, hatte sich als Märchen erwiesen. Und dennoch war da eine Frage offengeblieben. Eine? Fast hätte ich gelacht. Tausend und mehr waren noch offen! Ich dachte wieder laut:

"Wenn man ein Ereignis Schritt für Schritt zurückverfolgt, dann stellt man fest, daß nichts", ich verbesserte mich, "fast nichts einfach nur so geschieht, sondern daß das meiste einen Anlaß hat. Damit hat es eine Ursache und ist kein Zufall mehr. Da Gott keine halben Sachen macht, muß aber alles eine Ursache haben. An diesem Punkt komme ich noch nicht so recht weiter. Wo liegt denn die Ursache, wenn sie augenscheinlich nicht zu finden ist?"

Die meisten Menschen machen sich erst gar nicht die Mühe, nach Ursachen zu suchen. Das erspart ihnen, sich ernstlich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Wenn sie dennoch fündig werden, geben sie sich mit der ersten Antwort zufrieden und - ein Augenzwinkern? - trinken ihren Kaffee beim nächsten Mal im Sitzen.

Wenn ein Fährtenleser eine Spur verfolgt und sie verliert, weil sie sich anscheinend in nichts auflöst, stellt er dann die ganze Spur in Frage? Sagt er sich: "Hier kann gar keine Spur gewesen sein", nur weil er den Anfang nicht findet? Oder würde er nicht viel eher sagen: "Weiter komme ich nicht, mehr erkenne ich nicht. Die Spur verliert sich, für mich nicht mehr sichtbar"?

Die Frage war rein rhetorisch. Deshalb nahm ich auch an, daß keine Antwort darauf erwartet wurde. Aber eine Antwort grundsätzlicher Art ergab sich aus dieser Überlegung:

"Du sprichst aus einer anderen Dimension zu mir, aus einer geistigen Welt. Unsere und eure Welt sind also gar nicht so streng voneinander getrennt, daß es nicht doch einen Austausch gibt." Freude war in meinem Herzen, als ich weitersprach:

"Du sagtest, du bist bei mir seit langer, langer Zeit. Du hast versucht, mich zum Guten hinzuführen, hast mir positive Anstöße gegeben. Mancher Impuls, den ich umgesetzt habe, ohne ihn bewußt wahrzunehmen, war von dir. Mich geistig anzustoßen war dir immer dann möglich, wenn ich nicht zu sehr mit mir selbst beschäftigt war.

Ich habe diese Anstöße nicht bemerkt und daher alles für Zufälligkeiten gehalten. Ich kam zufällig zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort. Ich rief zufällig jemanden an. Ich sagte zufällig etwas Tröstendes. Ich konnte zufällig nicht überholen, und ich blieb daher zufällig hinter einer Autofahrerin, der ich zufällig helfen konnte. Ich, ich, ich ..."

Es trat eine sehr lange Pause ein. Das Licht vor mir pulsierte leicht und hüllte mich immer wieder mit den Spitzen seiner Strahlen ein. Es war wichtig für mich, die wirkliche Bedeutung dessen zu erfassen, was mir da soeben klar geworden war: Die Spur der ursächlichen Zusammenhänge ist logisch zu erklären, solange sie mit dem Verstand zurückverfolgt werden kann. Doch sie hört nicht einfach auf, nur weil der Mensch sie mit seinen beschränkten Sinnen plötzlich nicht mehr erkennt. Sie hat (oder kann haben? Ich war mir noch nicht sicher) ihren Ursprung im Geistigen.

Und ich hielt mich für den autonomen Erbauer meines Schicksals, zumindest soweit es die Erfolge meines Lebens betraf! Das war sicher bei den meisten Menschen so. Dabei war diese Meinung gar nicht mal so falsch, wie sich später herausstellte. Nur: Die Sache aus einem etwas anderen Winkel betrachtet, und die Sicht veränderte sich gewaltig.

Alles auf dieser Erde beruht auf dem Prinzip von Saat und Ernte. Ich weiß, daß das für dich viele Fragen aufwirft. Aber wir haben ja auch noch viel Zeit. Es beraubt dich unter anderem der Illusion, nicht für all dein Handeln verantwortlich zu sein. Dort, wo die laienhaften, menschlichen Erklärungsversuche für die Ursachen des ganzen Weltgeschehens enden, weil sie das Geistige nicht erkennen und daher nicht mit einbeziehen, da beginnt die Wahrheit. Da kann für den, der guten Willens ist, auch das große Abenteuer beginnen: die erfolgreiche Suche nach dem Sinn seines Daseins.

"Aus dem Geistigen heraus wird mein, wird unser Dasein bestimmt?"

Du bist Geist, und du bestimmst dein Leben. Das Materielle läßt sich vom Geistigen nicht trennen. Deine guten und schlechten Handlungen wirken nicht nur auf der Materie, sie bewirken auch etwas im Geistigen, in deiner Seele. Und so wirkt auch das, was in deiner Seele liegt, in deinen Menschen und damit in die Materie hinein.

Nicht nur ich habe aus der unsichtbaren Welt auf dich eingewirkt, wenn mir dies unter Beachtung deines freien Willens möglich war. Nicht nur meine Impulse waren Anstoß für dein Verhalten, waren ein Glied in der Kette vieler Ursachen und Wirkungen. Die Finsternis ist ebenso um dich bemüht, wie im übrigen um alle Menschen und Seelen. Sie darf sich an dir und an jedem messen. Sie achtet allerdings deinen freien Willen nicht.

Ich sah ein, daß sich meine Vorstellungen von Zufall, freier Entscheidung, Himmel und Hölle, Menschen und Seelen und vielem mehr auflösen und neu gestalten würden. Mir wurde langsam klar, daß ich sehr viel würde lernen müssen, viel mehr auf jeden Fall, als mir in der ersten Freude und Euphorie bewußt war. Aber ich wollte es ja nicht anders.

Heute jedenfalls war mir zu der entscheidenden Erkenntnis verholfen worden, daß es keinen Zufall, dafür aber eine Ordnung nach dem Prinzip von Saat und Ernte gibt. Und daß die Ursachen für mein und aller Menschen Verhalten nicht nur im Äußeren gesucht werden können bzw. dürfen, da sie ihren Grund im Geistigen, in der Seele haben. Für mich in meiner Seele. Schließlich hatte ich eingesehen, daß mir alles, was mir der Tag an Situationen zeigte, zur Erkenntnis dienen konnte. Aber so weit war ich noch nicht - wenn ich auch schon die vielen, vielen Möglichkeiten und Hilfen erahnte, die mir dieses Geschenk der "Tagessprache" bieten konnte.

Verschieben wir deine Fragen auf morgen.

Ich schaute überrascht. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, daß meinem Licht nichts verborgen blieb.

"Eine Frage noch", bat ich. Denn es hatte sich in meinem Kopf eine Frage formuliert, die mir unendlich wichtig zu sein schien: Ich mußte wissen, wie die Liebe Gottes hineinpaßte in das Bild von Leid und Not, das ein großer Teil der Menschheit bot.

War das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht gnadenlos? Wo blieb die Barmherzigkeit? Was war mit den vielen unschuldigen Kindern? Den Tieren und Pflanzen? Mußten die Menschen nicht zwangsläufig an Gott und seiner Gerechtigkeit zweifeln? Mußten sie sich nicht notwendigerweise von ihm abwenden?

Daran, daß es mehr als nur eine Frage war, die drängend in mir hochstieg, erkannte ich meine Ungeduld. Ich hatte Jahrzehnte "verschlafen", jetzt waren jeder Tag, ja jede Stunde und Minute wichtig. Meine Antwort erhielt ich prompt.

Die Liebe ist unendlich geduldig. Mit dir und mit jedem Geschöpf. Sie weiß, daß man eine Reifung nicht erzwingen kann. Sei auch du geduldig mit dir. Achte darauf, dich nicht an den Antworten zu ergötzen, sondern ziehe daraus für dein Leben die richtigen Schlüsse. So kann etwas in dir entstehen, das dir Kraft und Mut gibt - wenn du willst.

Ich fügte mich sehr rasch. Viel zu sehr freute ich mich auf unser Wiedersehen, als daß ich hätte widersprechen wollen. Zumal ich die Wahrheit in den Worten des Lichtes erkannte.

Gehe in die restlichen Stunden der Nacht. Meine Liebe begleitet dich, auch durch den morgigen Tag. Darf ich dir etwas mitgeben?

Ich nickte.

Wenn du aus Gott bist, dann bist du Sein Kind. Was ist dann Er für dich? Und ...

"Ich weiß", murmelte ich gerade noch, "gebrauche deinen Verstand." Dann war ich richtig eingeschlafen.