Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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6. Wiedergeburt als das bessere Angebot

 

Am nächsten Morgen schaute ich kurz im Büro vorbei, bevor ich mich auf den Weg zu meinen Kunden machte. Ich hatte kaum "Guten Morgen" und "Wie geht's heute?" gesagt, als Eva mir zeitungschwenkend zurief:

"Du, Ferdinand, da steht was Verrücktes. Es gibt Menschen, die glauben, daß sie schon einmal auf der Welt waren. Die einen haben Träume oder ähnliches gehabt, die anderen haben sich in Hypnose versetzen lassen. So wollen sie erfahren haben, daß sie schon mal gelebt haben." Sie schüttelte den Kopf. "Und was noch verrückter ist: Laut Rundfrageergebnissen glaubt etwa ein Viertel der Deutschen an die sogenannte Wiedergeburt oder auch Reinkarnation genannt."

Sie sprach das Wort Reinkarnation aus, als handelte es sich um eine "Karnation", die "rein" war.

"Du betonst das Wort falsch," sagte ich, "es heißt Re-Inkarnation. Die erste Silbe ist "Re" und nicht "Rein."

"Was du alles weißt." Sie schaute mich für einen Moment groß an. "Hast du dich schon damit beschäftigt?"

"Nein, beschäftigt habe ich mich damit noch nicht." Ich grinste. "Allgemeinbildung."

"Angeber. Aber im Ernst: Glaubst du daran? Wenn das stimmt, was hier steht, daß jeder Vierte daran glaubt, dann gehörst du dazu." Jetzt grinste sie.

"Wieso ich?"

"Ich glaube nicht daran", antwortete sie, "unser Lehrling bestimmt auch nicht. Bei Peter kann ich mir das nicht vorstellen, der steht viel zu sehr mit beiden Beinen im Leben. Bleibst du als Vierter übrig, und jeder Vierte glaubt daran."

Ehe ich etwas erwidern konnte, fügte sie noch hinzu: "Irgendwie clever, oder?"

Wie schon erwähnt, hatte Eva das Herz auf dem rechten Fleck. Wir arbeiteten ernsthaft und viel miteinander, aber wir hatten auch unseren Spaß. Wir mochten uns, wir halfen uns, und wir akzeptierten einander so, wie wir waren. Was nicht heißt, daß wir nicht unsere Wünsche und "Verbesserungsvorschläge" im Umgang miteinander ausgesprochen hätten. Aber keiner versuchte, den anderen zu ändern oder ihm seine Meinung aufzudrängen. Wir waren zu einem eingespielten Team geworden: Peter, Eva und ich. "Ein ziemlich erfolgreiches, dreiblättriges Kleeblatt", so hatte uns einmal auf einer Betriebsfeier ein Arbeitskollege spaßhaft und neidlos und einigermaßen treffend bezeichnet.

Ich war ihr noch eine Antwort schuldig; einfach so darüber hinweggehen konnte ich nicht. Deshalb sagte ich:

"Ich weiß nicht, ob ich daran glauben soll, darüber habe ich mir bisher auch noch keine Gedanken gemacht. Auf den ersten Blick, da gebe ich dir recht, scheint es zu phantastisch zu sein, als daß jemand ernsthaft daran glauben könnte. Andererseits", mir kam ein Wort in den Sinn, "habe ich einmal einen Spruch gelesen, der lautete sinngemäß: 'Zweimal geboren zu sein ist nicht bemerkenswerter, als einmal geboren zu sein'. Ich glaube, er stammt von Voltaire."

Mit leicht gerunzelter Stirn schaute sie mich an. "Und was schließt du daraus?"

"Nichts. Noch nichts. Ich habe mich, wie gesagt, damit noch nicht beschäftigt."

"Du sagtest noch nichts. Hast du ernstlich vor, der Frage nachzugehen?"

"Vielleicht", sagte ich, "zumindest ist das Thema nicht uninteressant, das mußt du doch zugeben."

Inzwischen war mir nämlich die Idee gekommen, mein Licht nach der Möglichkeit mehrerer Leben auf dieser Erde zu fragen. Ich saß doch, wie es so schön heißt, an der Quelle. Es wäre völlig unlogisch gewesen, in unseren nächtlichen Zwiegesprächen diese Frage nicht zu stellen, zumal ich aus dieser Quelle eine Antwort erhalten würde, die - da war ich mir absolut sicher - die einzig richtige war.

"Interessant wäre es schon, wenn man wüßte, ob man schon mal da war. Und wer man gewesen ist", antwortete sie mit einem ganz leicht verklärten Blick, so als sähe sie sich auf irgendeinem Fürsten- oder Königsthron sitzen. Dann holte die Realität sie wieder ein. "Immer vorausgesetzt, das stimmt überhaupt. Ich kann es mir auf jeden Fall nicht vorstellen." Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann: "Ich hab's, ich weiß was ich tu. Ich frage heute abend unseren Pfarrer. Der wollte sowieso wegen unserer Oma ins Haus kommen. Wenn es jemand wissen muß, dann er."

"Oder auch nicht", wollte ich schon auf Grund einer gewissen Distanz zu allem Theologischen sagen, als ich mich eines Besseren besann. Ich schwieg. Ich hatte kein Recht, so zu denken. Ich war selbst unwissend. Solange ich mir keine eigene Meinung gebildet hatte, und solange diese Meinung nicht zu meiner tiefsten Überzeugung und zu einem Teil meines Lebens geworden war, wollte ich schweigen. Ich hatte mir ohnehin schon mehrmals vorgenommen, mein Leben auszurichten nach einer Weisheit, die mich einmal sehr angesprochen hatte. Sie lautete: "Rede nur, wenn du gefragt wirst, aber lebe so, daß man dich fragt".

Wie gesagt, ich hatte es mir schon mehrmals vorgenommen. Daran, daß ich dies immer wieder tun mußte, konnte ich erkennen, daß mein Bemühen noch keine allzu großen Früchte getragen hatte.

Ich sagte daher nur: "Vielleicht wissen wir anschließend mehr." Wenn ich Evas Gesichtsausdruck richtig deutete, hatte sie die Portion Skepsis wahrgenommen, die anscheinend in meinen Worten mitschwang.

"Ist aber doch seltsam, daß man noch nie was davon gehört hat, wo doch angeblich so viele Leute daran glauben sollen", sagte sie und legte, wie um das Thema abzuschließen, die Zeitung beiseite. Ich wollte sie gerade korrigieren und darüber aufklären, daß das Thema Wiedergeburt sehr wohl schon des öfteren in allen möglichen Medien behandelt worden war, als das Telefon klingelte und unser Gespräch beendete. Der Arbeitsalltag nahm uns gefangen. Mir blieb aber noch Zeit zu denken: "Viel seltsamer finde ich, daß diese Frage gerade heute auftaucht."

Als ich den Gedanken nachschieben wollte: "So ein Zufall" mußte ich laut - und, wie es Eva schien, völlig grundlos - lachen.

 

*

 

Meine Tagestour endete überraschend schon am Nachmittag. Zwei Kunden hatte ich erst gar nicht angetroffen, bei einem anderen Kunden vereinbarten wir einen späteren Besuchstermin, und bei einem wiederum anderen ging alles viel schneller, als ich es eingeplant hatte. So beschloß ich, die geschenkte Zeit zu nutzen, um für mich etwas in Erfahrung zu bringen. Ein schlechtes Gewissen wegen eines nicht voll erfüllten Arbeitspensums brauchte ich nicht zu haben. Als Außendienstler hatte man ohnehin keinen geregelten 7- oder 8-Stundentag; fast immer wurden 10 und mehr Stunden daraus.

An diesem Nachmittag lenkte ich meine Schritte in Richtung Stadtbücherei. Während der Fahrt zwischen zwei Kundenbesuchen war ich auf eine Idee gekommen. Eva hatte mich mit der Frage nach dem Glauben an die Reinkarnation neugierig gemacht. Die Antwort, die sie von ihrem Pfarrer bekommen würde, konnte mich ohnehin nicht zufriedenstellen. Das wußte ich jetzt schon. Dies mochte ein Vorurteil sein, doch ich hatte im Laufe meines Lebens des öfteren die Erfahrung gemacht, daß die Theologie vielleicht Wissenslücken ihrer Gläubigen füllen konnte, sofern es sich um Kirchengebote, Dogmen, Lehrsätze und um die Theorie kirchlichen Christentums handelte. In der Praxis aber, wenn es um wirklich lebenswichtige Glaubensfragen ging, hatte es immer nur unbefriedigende Antworten gegeben. Das betraf zum Beispiel die Frage nach dem "Warum läßt Gott das Leid zu?" Fast immer wiesen die Antworten theoretisch-theologisch auf das "große Geheimnis Gottes" hin und gipfelten gar einmal in der Aussage, "... daß Gott den straft, den er liebt."

Deshalb glaubte ich nicht daran, daß Eva eine Erklärung bekommen würde, die ihr weiterhelfen könnte. Ich wußte, daß ich einen kompetenteren Gesprächspartner hatte: mein Licht. Aber mir war auch bewußt geworden, daß ich nicht einfach fragen konnte: "Du, gibt es eine körperliche Wiedergeburt?" Das heißt, ich hätte schon fragen können, nur wußte ich inzwischen, daß die Antwort "so mir nichts, dir nichts" nicht gegeben würde. Das Licht würde mich auffordern, erst einmal nachzudenken und mir wenigstens eine eigene Basis zu schaffen. Darauf könnten wir dann gemeinsam aufbauen.

So kam ich auf den Gedanken, ein paar Informationen über das Thema zu sammeln. Ich wollte nicht mit leeren Händen in unser nächtliches Gespräch gehen. Zwar wußte ich nicht, ob ich in unserer Stadtbücherei ein Buch über die Reinkarnation finden würde, aber es war einen Versuch wert.

Um es kurz zu machen: Ich saß noch da, als ich freundlich den Hinweis erhielt, daß man schließen wolle. Es war nach 18 Uhr geworden. Mein Magen knurrte, und mein Kopf war wie aus Watte. Ich hatte die Welt um mich herum vergessen und mich von einem Thema einfangen lassen, von dem ich nie gedacht hätte, daß es mich ernstlich interessieren könnte.

Ein Buch hatte ich gehofft zu finden, unzählige hatte ich gefunden. Beim Fachgebiet "Esoterik" hatte ich angefangen und war dann über "Fremde Religionen" und "Kulturen anderer Völker" zur Abteilung "Geheimlehren" gelangt. Überall gab es Hinweise und Quervermerke auf andere Quellen von "Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte" bis hin zu "Reinkarnation in der Psychotherapie".

Zuerst stand ich hilflos vor diesem Angebot an Information, nicht wissend, wo ich anfangen sollte. Das war zuviel; ich wollte doch nur ein paar Erklärungen, ein bißchen Hintergrundwissen, ob, wie, wann, warum ...

Ein junger Mann neben mir bemerkte mein Zögern. "Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?"

"Nein, ich bin nur überrascht über den Umfang zu dieser Thematik. Eigentlich wollte ich mich nur ein wenig über Reinkarnation informieren. Und jetzt diese Fülle von Büchern."

"Ja", stimmte er mir zu, "und wenn Sie das Thema 'Leben nach dem Tod' auch noch dazunehmen, was man ja von der Reinkarnation nicht trennen kann, dann können Sie die Vielzahl der Bücher nicht mehr überblicken. Hier", er deutete auf die Regale vor uns, "steht gar nicht mal so sehr viel. Gehen Sie mal in die großen Buchläden, und schauen Sie mal in die Buch-Kataloge der verschiedenen Verlage, dann werden Sie feststellen, daß Sie all das, was zu Tod und Wiedergeburt veröffentlicht worden ist, in diesem Leben kaum noch lesen können."

"Danke", sagte ich und dachte: "Du machst mir vielleicht Mut!" Aber ich wollte ja auch gar nicht alles lesen. So nahm ich das erste Buch, zog mich in eine Ecke zurück und fing an, mir anhand des Inhaltsverzeichnisses ein Bild zu machen, um dann hier und da einen Absatz oder ein Kapitel zu lesen. Dann griff ich nach dem zweiten Buch, dem dritten und so weiter, ging schließlich zu anderen, thematisch angrenzenden Gebieten, traf auf Für und Wider, auf wissenschaftliche Arbeiten, Hypnose-Protokolle, kirchengeschichtliche Abhandlungen, Selbsterfahrungsberichte und vieles, vieles mehr.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich mit alle dem nicht beschäftigt, und deshalb überraschte mich am meisten das große Spektrum der Kulturen, Völker und Religionen, die an die Wiedergeburt glaubten. Dort war es keine Frage, ob es das gibt oder nicht; dort wurde nicht darüber gerätselt oder diskutiert; dort war es selbstverständliches Glaubensgut, integriert in das tägliche Leben und Sterben, die "natürlichste" Sache der Welt.

Eigentlich war es egal, wo man zu suchen anfing. Die östlichen Religionen, wie z.B. der Buddhismus und Hinduismus, beinhalten die Lehre von der Reinkarnation, was mir ohnehin bekannt war. Das Tibetanische Totenbuch spricht davon. In der ägyptischen und griechischen Mythologie waren Tod und Wiedergeburt Elemente, die notwendigerweise zu einer allumfassenden Sicht der Schöpfung dazugehörten. Sokrates, Pythagoras, Empedokles, Platon und andere Weise glaubten daran. Für die frühen Kirchenväter wie Rufinus und Origenes, um nur zwei zu nennen, war der Glaube an wiederholte Lebensläufe Allgemeingut. Und für viele große Dichter und Denker des Abendlandes in der Antike und der Neuzeit war das Wissen um die Wiedergeburt eine Selbstverständlichkeit. Überzeugt davon waren unter anderem Vergil, Novalis, Voltaire, Kierkegaard, Goethe, Hölderlin, Schiller, Schleiermacher, Fichte, Kant, Schopenhauer, Nietzsche; auch Christian Morgenstern, Friedrich der Große, Wilhelm Busch, C. G. Jung und Giordano Bruno, der im Jahre 1600 wegen dieser Auffassung in Rom verbrannt wurde. Und, und, und ... Schließlich waren da noch die Anthroposophen, die Rosenkreuzer, verschiedene christliche und urchristliche Gruppierungen und viele andere mehr, die sich zu dem Glauben an die Reinkarnation bekannten.

Als ich dann darauf aufmerksam gemacht wurde, daß die Mitarbeiterinnen gerne nach Hause gehen würden, war es auch genug. Mehr als genug. All das zu erfahren, hatte ich gar nicht vorgehabt. Ich hatte nicht um die große Anzahl von Berichten und Abhandlungen und allgemeiner und spezieller Literatur gewußt. Ein paar Hinweise, die einem die richtige Richtung weisen konnten, hätten mir gereicht. Jetzt war mir klar, daß es überall und zu allen Zeiten den Glauben an und das Wissen um die Wiederverkörperung gegeben hatte und auch heute noch gibt. Die Menge des Materials war so beeindruckend, die Schilderungen so realistisch und lebhaft, die Folgerungen daraus so logisch und überzeugend, daß ich mich fragte, wieso die Reinkarnation in unserer heutigen Gesellschaft nicht auch schon längst (oder: schon wieder?) zum allgemeinen Gedankengut gehörte.

Natürlich war mir aufgefallen, daß die meisten Widerstände gegen die Auffassung von wiederholten Erdenleben von kirchlicher Seite kamen. Ich hatte in Bücher geschaut, die vehement zu beweisen versuchten, daß weder im Alten noch im Neuen Testament Aussagen über die körperliche Wiedergeburt des Menschen zu finden seien. Ebenso fanden sich andere Veröffentlichungen, die genauso vehement klarmachen wollten, daß es viele Stellen in der Bibel gab, die auf die Reinkarnation hinwiesen, und daß sogar Jesus selbst diese gelehrt habe.

Ich war jedoch noch weit davon entfernt, dies alles zu begreifen. Ich hatte keine Meinung zu den ablehnenden Ansätzen der Theologie, konnte diese nicht nachvollziehen und wollte es auch nicht. Das, was ich wollte und konnte war, meinen Verstand zu gebrauchen. Dieser und ein nicht erklärbares Gefühl sagten mir, daß die Wahrscheinlichkeit weit eher für als gegen die Wiedergeburt spräche. Den Rest, so hoffte ich, würde ich in der Nacht aushandeln.

*

 

Ich beschloß auf dem Heimweg, noch bei Peter und Katharina vorbeizuschauen. Wir wohnten nur ein paar Autominuten voneinander entfernt und waren ziemlich oft zusammen. Seit dem Tod meiner Frau Judith vor vier Jahren hatte Katharina versucht, in meinem Leben als Witwer eine "gewisse Ordnung aufrecht zu erhalten", wie sie es einmal mehr schelmisch als ernsthaft ausgedrückt hatte. Ihre mütterlichen Gefühle, die sie bis dahin nur ihrer Tochter Irene und auch ihrem Schwiegersohn Max entgegengebracht hatte (soweit dieser sich darauf einließ), weitete sie damals aus und bezog mich in den Kreis ihrer Fürsorge mit ein. Ich ließ es zu, solange es sich im Rahmen hielt. Ansonsten entzog ich mich, sie oftmals liebevoll neckend, diesem fürsorgenden Einfluß, wobei ich zugeben mußte, daß ich so manche Mahlzeit sicher nicht zu mir genommen hätte, wäre sie mir nicht von ihr ohne großes Drum und Dran vorgesetzt worden.

Ich brauchte also nie einen Anlaß, die beiden zu besuchen. Ich war bei ihnen wie zu Hause. Heute hatte ich zwei Gründe: Zum einen mußte ich mit Peter eine geschäftliche Angelegenheit besprechen, die gleichzeitig einen seiner und meiner Kunden berührte. Ich wußte nicht, ob ich ihn am nächsten Morgen in der Firma antreffen würde. Zum anderen ging mir die Sache mit der Möglichkeit mehrmaliger Leben nicht aus dem Kopf. Vielleicht tat es gut, sich darüber auszutauschen, denn eines war mir schon klar geworden:

Das Schwirren meiner Gedanken und diese leichte "Benommenheit" hatten ihren Ursprung nicht darin, daß ich viel Neues gelesen und mich beinahe drei Stunden in der Bücherei aufgehalten hatte.

Es war etwas anderes, das mich beschäftigte. Es waren die Konsequenzen, die sich für mich und jeden Menschen aus der Möglichkeit der Wiedergeburt ergaben, die inzwischen für mich schon fast zur Gewißheit geworden war. Wenn es denn tatsächlich so war, würde mein Verhältnis zu meinem Leben und seinem Sinn ein völlig anderes werden. Es hätte unter Umständen ungeahnte Folgen für das Verstehen des Schicksals, für das, was bisher geschah, was geschieht und noch geschehen wird. Es wäre dann, als würde ich durch eine Brille schauen, die vieles nicht nur deutlicher zeigt, sondern völlig neue Dinge. Dinge, die ich bisher nicht sehen konnte, weil ich blind war.

Das alles an einem Nachmittag war ein bißchen viel für mich. Ich sah zwar weitreichende Konsequenzen, konnte aber im einzelnen noch nicht erkennen welche. Das machte mich unruhig - nicht besorgt (ein wenig vielleicht doch), eher ungeduldig-neugierig. Ich wollte mehr wissen. Was aber würde schließlich am Ende dieses Weges zu finden sein? Dieses Suchpfades, verbesserte ich mich, denn mehr war es für mich ja noch nicht.

"Du kommst gerade richtig", sagte Katharina, als sie mir die Türe öffnete, "der Nudelauflauf steht schon auf dem Tisch. Irene ist mit ihrem Kleinen auch da."

Irene war etwas älter als meine Tochter Anne. Ich kannte sie schon als Kind, und es war selbstverständlich, daß die Freundschaft zu Peter und Katharina auch sie und ihre Familie einschloß.

"Tag Ferdinand", begrüßte sie mich und gab mir einen Kuß auf die Wange. Den "Onkel" vor dem Ferdinand hatte ich ihr schon seit langem abgewöhnt. "Schau mal, wer gekommen ist", rief sie ins Nebenzimmer, und ehe ich mich richtig versah, kam ein blonder Wirbelwind durch die Türe und sprang hoch, soweit dies die Beinchen zuließen.

Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, daß ich ihn auffangen mußte, weil er sich absolut darauf verließ. Wir hatten vor einigen Monaten mal ein kleines Spiel erfunden, das damit endete, daß er mir sagte:

"Du kannst mich so toll auffangen. Ich mach' sogar die Augen zu. Gell, Onkel Ferdi, du wirst mich nie fallen lassen, wenn ich spring'. Oder? Versprichst du mir das?"

"Großes Ehrenwort", hatte ich geantwortet, und von diesem Zeitpunkt an mußte ich immer damit rechnen, ein springendes oder fliegendes blondes Energiebündel auffangen zu müssen, sobald es mich hörte oder sah.

"Hallo Tommi", sagte ich. "Dir scheint's gut zu gehen."

"Zu gut manchmal", erwiderte Irene und nahm mir den Kleinen ab. "Komm an den Tisch, sonst wird das Essen kalt. Tommi setzt sich bestimmt neben dich."

Es tat gut, im Kreise von Freunden zu sein, dazu etwas Köstliches vorgesetzt zu bekommen und ab und zu eine kleine Hand an meiner zu spüren. Es war etwas Eigenartiges zwischen diesem Kind und mir. Als wir uns zum ersten Mal sahen, und ich mich über den Kinderwagen beugte und irgend etwas zu ihm sagte, ging ein so strahlendes Lächeln über sein Gesicht, daß es sogar Irene und Max erstaunte. Diese Freude blieb ungebrochen, sobald wir uns sahen. Sie drückte sich, als Tommi älter wurde, auf vielerlei Art und Weise aus. Und sie beruhte auf Gegenseitigkeit.

Mir fiel ein, daß Irene, als Tommi und ich einmal auf dem Rasen balgten, und er zum Schluß seine Ärmchen um meinen Hals legte, zu mir gesagt hatte: "Du hast Glück, daß der Max nicht eifersüchtig ist. So, wie ihr zwei miteinander umgeht", ihr Blick ging von Tommi zu mir, "könnte man meinen, daß er dich mindestens so lieb hat wie seinen Vater." Ich erinnere mich noch, daß ich nicht wußte, was ich darauf antworten sollte. Es war auch nichts Vorwurfsvolles in dem, was sie sagte. Es war eine Feststellung. Vielleicht hatte sie recht. Beide wußten wir, Max eingeschlossen, daß wir nicht um Tommis Liebe buhlen mußten. Es war einfach so, und ich wünschte mir, daß es so bleiben würde.

Wir sprachen beim Abendessen über nichts, das besonders wichtig war: über ein bißchen Tagespolitik, das geschäftliche Problem, das Peters und meinen Kunden gemeinsam berührte, über Annes neuen Arbeitsplatz (wobei mir einfiel, daß ich sie mal wieder anrufen mußte), über ein bißchen Kindererziehung und Gartenarbeit.

Katharina mit ihrem feinen Gespür war wohl aufgefallen, daß mich noch etwas anderes beschäftigte, obwohl ich geistig nicht abwesend war. "Bewegt dich etwas?", fragte sie.

"Ja, das tut es", sagte ich, irgendwie froh, daß das Thema nun auf den Tisch kam. Ich hatte zwar keine Bedenken, mit meinen Freunden über so etwas "Verrücktes" (wie Eva es ausgedrückt hatte) wie die Reinkarnation zu sprechen; ich wußte nur nicht genau, ob der Zeitpunkt nicht zu früh gewählt war. Schließlich hatte ich ja erst ein paar Informationen, und Hintergrundwissen und Schlußfolgerungen fehlten mir noch ganz. Andererseits war ich mit der Absicht hierher gekommen, meine Gedanken darüber mit jemanden auszutauschen. "Also, sei's drum", dachte ich mir.

Und dann erzählte ich von dem Zeitungsbericht, von meinem Besuch in der Stadtbücherei und all dem, was ich gefunden hatte. Wie sich herausstellte, hatte sich Irene mit dem Thema schon beschäftigt und auch einen klaren Standpunkt gefunden: Sie war dafür, Max im übrigen auch. Peter erinnerte sich, daß Irene vor längerer Zeit mit ihm einmal darüber gesprochen hatte. Aber anscheinend war dies mehr allgemein gewesen, so daß ihn das Thema nicht allzu sehr berührt und er für sich keine Notwendigkeit gesehen hatte, es zu vertiefen. Für Katharina war das mehr oder weniger neu.

Irene verhalf ihr, den Grundbegriff der "Inkarnation" besser zu verstehen, als sie den Duden aufschlug und las: "'Inkarnieren' kommt aus dem Lateinischen und heißt soviel wie 'fleischgeworden' oder 'verkörpert'. Demnach ist eine 'Inkarnation' die 'Fleischwerdung' eines geistigen Wesens. Oder anders ausgedrückt: Ein Geist wird in einen menschlichen Körper in diese Welt hineingeboren. Ein typisches Beispiel dafür ist z.B. die Inkarnation Christi."

"Und was ist eine 'Reinkarnation'?", fragte Katharina.

"Ganz einfach", sagte Irene, nahm ein Fremdwörterbuch und schlug bei "re" auf. "Schau, 're' kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und steht für 'zurück' oder 'wieder'. Du kennst die Verwendung der Vorsilbe 're' von den Wörtern re-agieren, Re-generation usw."

"An ihr ist eine Lehrerin verlorengegangen", dachte ich bei mir. "Geduldiger und verständnisvoller kann man es kaum machen."

Irene fuhr fort: "Wenn eine Inkarnation bedeutet, daß ein geistiges Wesen in einen menschlichen Körper eintritt, dann heißt Reinkarnation, daß dies nicht nur einmal, sondern zweimal oder sogar wiederholt geschieht. Natürlich nicht in denselben Körper", fügte sie hinzu, "denn der ist bei einer erneuten Inkarnation, einer Reinkarnation also, in der Regel schon längst wieder zu Staub geworden."

Katharina nickte. So, wie Irene es erklärte, konnte es jeder verstehen. "Verstehen schon," dachte ich, "aber wie sieht es mit dem Glauben aus?"

Als hätte Katharina meine Gedanken gelesen, fragte sie: "Muß ich das glauben?"

Jetzt übernahm ich die Antwort. Peter hatte sich bisher ruhig verhalten. "Gott sei Dank sind die Zeiten, da jemand etwas glauben mußte, anderenfalls er bestraft wurde, vorbei. Keiner muß. Ich weiß bis jetzt selbst noch nicht, was ich glauben soll."

Beinahe hätte ich mich verraten und gesagt: "Aber morgen früh weiß ich es." Gerade noch rechtzeitig konnte ich meinen Mund wieder schließen. Nur Peter schien etwas aufgefallen zu sein. Ein kaum unterdrücktes Schmunzeln war in seinem Gesicht. Er würde mein Geheimnis für sich behalten, dessen war ich mir sicher.

"Was mich wundert", sprach ich weiter, mehr zu mir selbst als zu den anderen, "ist die Tatsache, daß einerseits die Kirchen eine Inkarnation für etwas Selbstverständliches halten ..."

"... im Beispiel des Glaubensbekenntnisses, wo von dem 'eingeborenen Sohn Gottes' die Rede ist, also von der Menschwerdung eines Geistes", ergänzte Irene meinen Satz.

"... daß andererseits", fuhr ich fort, "eine zweite Inkarnation des gleichen geistigen Wesens - was man als Reinkarnation bezeichnet - als Irrlehre abgelehnt wird. Einmal in einen Körper hinein ja, ein weiteres mal oder sogar mehrmals nein. Da bleibt die Logik für mich auf der Strecke." Denn so viel hatte ich bei meinem Bücherstudium am Nachmittag schon erfahren, daß die Lehre von der Reinkarnation von beiden christlichen Kirchen als falscher Glaube abgelehnt wurde. In diesem Punkt brauchte ich nicht mehr auf die Auskunft zu warten, die sich Eva von ihrem Pfarrer erhoffte.

"Max hat einige Bücher zu diesem Thema. Er hat sich intensiv damit beschäftigt, schon bevor wir uns kennenlernten. Wenn du willst, bringe ich dir mal ein paar mit." Irene überlegte einen Moment. "Oder du kommst morgen bei uns vorbei und suchst dir einige aus. Ich weiß ja nicht, wie wichtig dir die Sache ist. Morgen ist Samstag. Wenn du magst, schau mal 'rein."

Für den kleinen Tommi war es spät geworden. Er saß inzwischen auf meinem Schoß; eigentlich lag er mehr in meinem Arm, und seine Augen waren ihm schon mehrmals zugefallen. Irene nahm ihn mir ab. "Vielleicht bis morgen", sagte sie zu mir gewandt und verabschiedete sich dann von uns.

Wir drei saßen noch eine Weile zusammen. Katharina blätterte in ihrem neuen, vegetarischen Kochbuch, das ihr Irene mitgebracht hatte, und schwärmte uns von neuen Gerichten vor, die sie in den nächsten Tagen ausprobieren wollte. Schließlich stand sie auf und ging in die Küche. Peter griff das Thema der Wiedergeburt noch einmal auf. Anscheinend ließ es ihm, ebenso wie mir, keine Ruhe.

"Was mich in dem Zusammenhang beschäftigt, ist nicht so sehr die Frage nach dem Ja oder Nein. Ich frage mich, was für ein Sinn dahintersteckt, sollte es das Wiedergeborenwerden tatsächlich geben. Solange mir dafür niemand eine zufriedenstellende Antwort liefert ..."

Wohl in Erinnerung daran, daß es über die bloße Information von dritter Seite hinaus auch die Möglichkeit gibt, sich selbst seine Gedanken zu machen, unterbrach er seinen Satz und formulierte anders:
"... solange ich diesen Sinn nicht gefunden habe, und mir selbst nicht eine wirklich einleuchtende Erklärung dafür gekommen ist, lasse ich das mal offen."

Obwohl ich noch nichts Konkretes formulieren konnte (von Erdenschule, Lernen, Wiedergutmachung, Abtragung und anderem mehr hatte ich in den verschiedenen Büchern allerdings gelesen), ahnte ich den Sinn schon. Und nicht nur den Sinn, sondern auch den Grund für den Streit zwischen Gegnern und Befürwortern der Reinkarnation. Das Leugnen oder Bejahen mußte mit einer unterschiedlichen, ja direkt entgegengesetzten Auffassung von Himmel und Erde, von Gott und seinem Verhältnis zu den Menschen, vielleicht zur ganzen Schöpfung zusammenhängen. Es mußte fundamentale Glaubensgrundsätze berühren, nicht nur das Ja oder Nein zur Wiedergeburt, sondern auch ein Ja oder Nein zu bestimmten Glaubensrichtungen bis hin zur Existenzfrage diverser Glaubensgemeinschaften oder sogar Weltreligionen. Damit war es möglicherweise mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden.

Hier war sie wieder: die Konsequenz. Die Kirchen und Religionen, welche die Wiedergeburt verneinten, hätten es ja auch einfach dabei belassen können festzustellen, daß der Glaube an frühere und weitere Erdenleben falsch sei (so wie 2 + 2 = 5 auch falsch ist). Und jeder Gläubige würde das dann glauben oder nicht, je nachdem, wie es ihm gefiel. Was ja ohnehin bei den meisten Dogmen und Glaubenssätzen gängige Praxis ist.

Noch weit davon entfernt, schon umfassend informiert zu sein, hatte ich am Nachmittag beim Lesen der entsprechenden Literatur immerhin soviel erfahren: Es war über viele Jahrhunderte ein erbarmungsloser Krieg auch gegen diese Lehre und deren Vertreter geführt worden. Einige lebten im Schoß der Kirche, andere hatten sich von der Mutterkirche getrennt. Oftmals waren dies Gruppierungen mit zumeist urchristlichen Glaubensansichten, die in entscheidenden Punkten im Gegensatz zur kirchlichen Lehrmeinung standen. Die Liste der Repressalien diesen Widerspenstig-Andersgläubigen gegenüber umfaßte alles, was angebracht schien und möglich war - von der Androhung des Verlustes des Seelenheils über die Exkommunikation und Verdammung bis hin zum Töten.

Wäre die Frage der Reinkarnation von nur untergeordneter Bedeutung für die Kirche gewesen, hätte man sie nicht über anderthalb Jahrtausende rigoros unterdrückt. Dies war jedoch geschehen und geschieht heute noch. Deshalb schien mir die Vermutung nahezuliegen, daß die Anerkennung der Wiedergeburt oder auch nur ihre tolerierte Gegenwart weitreichende, vielleicht sogar lebens- oder überlebensentscheidende Konsequenzen für die Kirchen haben mußte. Vorausgesetzt, daß diese Konsequenzen von den Gläubigen gezogen würden.

Dieser Gefahr war man sich anscheinend sehr bewußt. Hatte man doch von theologischer Seite aus schon vor Jahrhunderten konsequent alle notwendigen Schritte überdacht und auch getan, indem man entsprechende Dogmen und Glaubenssätze formulierte. Durch die Verpflichtung der Gläubigen, damit an ein einziges Leben zu glauben, konnte man das befürchtete Übel einer freien Geistesentfaltung für eine Zeitlang abwenden.

Diese Konsequenz war es, an der ich gedanklich hängengeblieben war.

Wenn meine Überlegungen nicht ganz falsch waren, lag hier ein zielstrebiges Durchdenken, Daran-Festhalten und Durchführen vor, das dann durchaus nachahmenswert sein konnte, wenn ihm die richtigen Motive zugrunde lagen. Etwas so unbeirrbar zu tun und so konsequent durchzuhalten - daran konnte man sich durchaus ein Beispiel nehmen. Im positiven Sinn.

Jetzt war mir klar, was mich beschäftigt hatte: Es waren die Schlußfolgerungen, die sich aus einem Glauben an die Wiedergeburt ergaben. Nicht nur die theoretischen Ansätze nach dem Motto "wenn das so ist, dann muß das so sein", sondern die daraus zu ziehenden und zu lebenden Konsequenzen.

Was das für mich bedeutete, und ob ich damit den Grundwahrheiten des Daseins näherkommen würde, wußte ich noch nicht. Doch ich wollte es wissen. Erst dann konnte ich entscheiden, wie ich weiter damit umgehen würde.

Peter und ich hatten für eine Weile geschwiegen, weil er mir angesehen hatte, daß ich meinen Gedanken nachhing. Aber ich hatte noch im Ohr, daß er von dem "Sinn" gesprochen hatte, den es zu finden galt. Da war ich mit ihm einer Meinung. Hatte sich erst einmal ein Sinn dahinter herauskristallisiert, so klar und unumstößlich, daß alles andere plötzlich irrelevant und mit unzähligen neuen Fragen belastet erschien, dann stände einer neuen Sicht nicht mehr viel entgegen.

"Du hast recht", sagte ich. "Wenn es die Reinkarnation gibt, dann hat sie auch einen Sinn. Und dann werden wir ihn auch finden." Ich dachte an mein Licht. "Nichts bei Gott ist unlogisch. Wenn für mich oder für uns auch noch nicht alles durchschaubar ist, so glaube ich doch fest daran, daß es erklärbar sein muß - wenn auch in einfacher Form und vielleicht mit völlig unzureichenden Worten, weil wir es eben noch nicht besser verstehen können. Und wenn nicht mit Worten, dann mit dem Gefühl oder dem Herzen. Willkür oder Unregelmäßigkeiten oder Abläufe außerhalb einer bestimmten Ordnung kann es bei Gott nicht geben.

Ich glaube, daß die Menschen, wenn ihnen eine Erkenntnis oder eine Lehre nicht in das Konzept gepaßt hat, lieber bei unlogischen Erklärungen Zuflucht gesucht haben, als daß sie auf Grund einer neu entdeckten Wahrheit auch ein neues, verändertes Verhalten an den Tag gelegt haben."

"Dem ist nichts hinzuzufügen", antwortete Peter. "Alter Philosoph."

Ich wollte schon widersprechen, als er weitersprach: "Ich weiß, ich mein's ja nicht so. Aber du mußt zugeben, daß du angefangen hast, deinen Verstand zu gebrauchen."

"Alter Freund", sagte ich. "Mach' weiter so, und du wirst sehen, wo und wie das endet."

Ich stand auf und legte ihm eine Hand auf den Arm. "Aber du hast mich an etwas erinnert. Es wird höchste Zeit, den Verstand zu gebrauchen. Zu lange hat er ein geruhsames Leben gehabt. Dieser Meinung ist wohl auch das Licht, sonst hätte es mich nicht in diesem Punkt gefordert. Und es wird mich noch an einem anderen Punkt fordern, an meinem Herzen. Das spüre ich ganz genau. Ich habe einmal gelesen: 'Laß nie zu, daß sich dein Verstand verselbständigt. Seine Aufgabe erfüllt er optimal als ausführendes Organ deines Herzens.'"

Ich spürte für einen Moment in mich hinein. "Ich glaube, da kommt noch was auf mich zu." Kleine Pause. "Aber ich freu' mich drauf."

"Du wirst mich auf dem laufenden halten", sagte Peter. "Das weiß ich. So, wie du es kannst und für richtig hältst." Eine kleine Pause seinerseits. "Ich bin schließlich auch noch nicht zu alt, um Neues zu lernen."

 

*

 

Ich wohnte damals in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand. Die Wohnung mit drei Zimmern, Küche, Bad und einem schönen Südbalkon hatte ich auch nach dem Tod meiner Frau beibehalten. Das dritte, kleine Zimmer hatte sich schon oft bewährt, unter anderem dann, wenn Besuch kam, der über Nacht blieb, wie zum Beispiel meine Tochter Anne. Leider kam sie für meine Begriffe zu selten. Ich hätte sie gerne öfters hier gehabt; wenn ich ganz ehrlich war, mußte ich sogar zugeben, daß ich sie hier und da vermißte.

Ich dachte an sie, als ich meine Wohnung betrat. Das veranlaßte mich, sie sofort anzurufen und dies nicht, wie es manchmal meine Art war, auf später zu verschieben. Wir freuten uns immer, wenn wir uns hörten oder sahen. Eigentlich war es mehr als Freude. Uns verband ein tiefes, inniges Gefühl. Oftmals reichte ein Gedanke aus, um die Empfindung ihrer Nähe aufsteigen zu lassen. Anne ging es ähnlich wie mir; sie hatte es mir einmal erzählt. Für uns beide war es das Natürlichste der Welt, wenn die Tochter den Vater liebt. Und umgekehrt.

Ich wollte wissen, wie es ihr geht, was sie macht, und ob sie wieder einmal Zeit für einen Besuch finden würde. Wir einigten uns auf das Wochenende in acht Tagen.

Nachdem ich aufgelegt hatte, saß ich noch einen Moment da, und mir ging durch den Kopf, daß ich doch im Grunde ein ganz glücklicher Mensch war. Sicher fehlte mir seit Judiths Tod etwas Entscheidendes. Vieles aber war da, das ich im Überfluß hatte, und das anderen fehlte. In erster Linie waren dies Freunde.

Ich hatte, soweit ich mich erinnern konnte, nie Feinde gehabt. Sicher hatte es ab und zu einmal Streitereien gegeben. Um diese immer zu vermeiden, hätte es einer größeren inneren Festigkeit und Freiheit bedurft. Aber es war nichts lauernd Übelwollendes oder Aggressives in meiner Umgebung oder meinem Leben. Dafür hatte ich mir eine, wenn auch noch kleine Basis inneren Friedens erarbeitet, indem ich mich bemühte, meinen Nächsten zu mögen. Wer immer dies sein mochte, und wo immer ich auf ihn traf. Zu "lieben", das schien mir noch ein zu hoher Anspruch zu sein, sozusagen noch "eine Nummer zu groß". Mir war klar, daß meine Basis ausbaufähig war; denn "mögen" bedeutet zwar schon mehr als tolerieren und akzeptieren, aber es war natürlich noch lange nicht der Gipfel der Selbstlosigkeit. Diesen aber, das sagte mir eine tiefe, noch nicht zu fassende, innere Empfindung, würde ich irgendwann einmal erreichen müssen. Und nicht nur ich, sondern jedermann.

Es ging mir also gut, nicht zuletzt deshalb, weil mir vor vielen Monaten eine Weisheit geschenkt wurde, als ich nach dem Geheimnis des Glücks gefragt hatte. Seitdem versuchte ich, mein Leben mehr und mehr danach auszurichten. Wenn mir dies schon ab und zu gelang, mußte ich immer wieder feststellen, was für eine große Hilfe solche Regeln sein konnten, und wie sicher sie funktionieren. (Mit "Verwunderung feststellen", wie ich einmal scherzhaft gesagt hatte.) Zu lieben, zu danken, sich zu bescheiden und sich zu erfreuen - das waren für mich seitdem die vier Säulen des Glücks. Vielleicht gab es noch andere. Mir verhalfen sie zumindest zu einer weitgehend gelassenen Zufriedenheit. Und dann hatte ich seit ein paar Tagen natürlich noch mein Licht. Es gab wirklich keinen Grund zu Unzufriedenheit oder Trübsalblasen.

Ich entschloß mich, an diesem Abend etwas zu tun, was ich sonst nur selten tat: Ich wollte den Tag in Gedanken noch einmal an mir vorüberziehen lassen. Es gab vieles, was des Nachdenkens wert war. Was war an wesentlichen Dingen geschehen? Was war gut, was weniger gut gelaufen? Hatte ich was übersehen? Gab es noch etwas zu erledigen? Oder war noch etwas für morgen vorzubereiten? War ich mit mir und meinen Mitmenschen im reinen? Das Wichtigste schließlich: War ich vorbereitet, falls ich mein Licht treffen würde?

Als ich die Augen schloß, um über den Tag nachzudenken, kam mir als erstes die Anregung der letzten Nacht in den Sinn, darüber nachzudenken, was Gott für mich darstellt. Wenn ich sein Kind bin, was ist er dann für mich? Ich mußte mir eingestehen, daß ich nicht dazu gekommen war, mir diese Fragen zu beantworten. "Es war zu viel zu tun", entschuldigte ich mich vor mir selbst.

"Dann hast du doch jetzt Zeit, darüber nachzudenken. Hat dir der Tag möglicherweise Hilfen gegeben, Impulse zur leichteren Erkenntnis?", sagte etwas in mir.

"Was soll das gewesen sein?" Ich überlegte noch einmal, und da erkannte ich die Hilfe. Der Tag hatte, was diesen Punkt und diese Frage betraf, durch Tommi zu mir gesprochen. In diesem Kind war mir vieles entgegengekommen: Freude, Liebe, Sich-geborgen-fühlen und grenzenloses Vertrauen, alles Attribute einer glücklichen Beziehung.

Ich mochte Tommi sehr. Nie hätte ich zugelassen, sofern dies in meiner Macht gewesen wäre, daß ihm Böses geschähe. Gerade wollte ich mir vor Augen führen, was ich für ihn tun würde und könnte, sollte dies jemals erforderlich sein. Da wurde mir klar, daß es gar nicht um Tommi ging. Er stand nur stellvertretend für alle Kinder dieser Welt in diesem Bild und darüber hinaus stellvertretend für jeden Menschen und jede Seele. Es ging auch nicht um mich, nicht um meine Empfindungen und Gefühle, sondern darum, eine Relation zu verdeutlichen:

Unzählige Väter und Mütter, Freunde und Freundinnen sind willens, bereit und in der Lage, als Ältere und Reifere den Jungen und Unerfahrenen ihre ganze Liebe zu schenken, bis hin zur Selbstaufgabe. Und das, ohne zu fragen und ohne Gegenliebe zu erwarten. Wenn schon ein unvollkommener Mensch eine solche Liebe verschenken kann, um wieviel mehr wird es dann die göttliche Allmacht, die die Liebe selbst ist, können und auch tun.

"Interessant", dachte ich noch, "zu welchen Erkenntnissen ein Tagesimpuls anregen kann, wenn man nur auf ihn achtet." Mir war jedoch auch klar, daß diese eine Erkenntnis noch längst nicht alle Aspekte enthielt. So tief konnte ich gar nicht schürfen (außerdem wurde ich langsam müde), als daß ich auch nur annähernd hätte erkennen oder gar ausschöpfen können, was - wie ein Netzwerk - allein in einer einzigen Begegnung oder Situation enthalten war.

Eine Ahnung, fast ein Wissen, stieg in mir auf, daß Gottes Liebe unendlich viel größer sein mußte als die größte menschliche Liebe. Ein Bruchteil dieser Liebe hatte ich vor kurzem einmal einen Augenblick lang empfinden dürfen; mehr hätte mein unvollkommen entwickeltes Bewußtsein nicht ertragen. Seine Liebe mußte, knüpfte ich meinen Gedanken weiter, so groß sein, daß sie überhaupt fern irgendwelcher menschlicher Maßstäbe war. Diese Vorstellung machte mich auf der einen Seite leicht mißvergnügt wie alles, was ich gerne verstehen wollte, aber nicht konnte. Auf der anderen Seite erfüllte sie mich mit einer nie gekannten Freude und Erleichterung: Wenn ich das Kind war, dann war Er mein Vater. Und wenn diese nicht zu beschreibende Liebe Seine Liebe war, dann gehörte sie auch mir. Und mit mir allen, die Seine Kinder, Seine Geschöpfe waren. Gab es etwas Größeres im ganzen Universum als diese Liebe?

Ich stand auf und ging ins Bad, um mich für die Nacht vorzubereiten. Als ich im Bett lag und die Augen schloß, dachte ich noch: "Was sind das für Zeiten!" Dann war ich eingeschlafen.