Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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8. In die Wissens-Falle gegangen

 

Der Samstagmorgen gab mir Gelegenheit, das Nötigste in der Wohnung aufzuräumen, einige Einkäufe zu erledigen und mein Auto zu waschen. Natürlich ging mir unser nächtliches Gespräch nicht aus dem Kopf. Um es konkreter auszudrücken: Es hatte sich tief in meine Seele eingeprägt, von deren Wesen und Bedeutung ich damals allerdings noch nicht viel wußte. Mir schien, als hätte sich eine innere Türe geöffnet, wenige Millimeter nur, aber doch ausreichend weit genug, um Neuland erkennen zu lassen, viel noch zu Erforschendes und unendliche Weiten. Ich hatte mir vorgenommen, zu erkunden, was zu erkunden war. Und was zu verstehen war, wollte ich mit jeder Faser meines Herzens begreifen und altes durch neues Denken ersetzen, wenn es erforderlich sein sollte.

Ich fuhr bei Irene und Max vorbei. Max war mit dem Kleinen schwimmen, Irene im Vorgarten beschäftigt, so daß sie mich bat, in aller Ruhe die große Bücherwand selbst durchzustöbern. "Wahrscheinlich findest du links oben, was du suchst", hatte sie mir geraten. Es überraschte mich, was ich alles fand. Max hatte sich offenbar sehr intensiv mit diesem Thema befaßt. Zum Teil waren es die gleichen Bücher, wie ich sie tags zuvor in der Stadtbücherei gefunden hatte. Natürlich nicht in gleich großem Umfang. Einiges war aber auch neu; eigentlich war alles neu für mich.

Nachdem ich einige Zeit mehr oder weniger wahllos in den Büchern geblättert hatte, legte ich einige, die ich mir ausleihen wollte, zur Seite. Es handelte sich dabei nicht nur um Berichte und Eigenerfahrungen, sondern auch um Literatur zu geschichtlichen Hintergründen und theologischen Auseinandersetzungen. Was mich selbst ein bißchen überraschte, weil dies bisher nie mein Thema war. Früher hatte ich mich zwar ein wenig mit der Herausbildung der kirchlichen Institution im Frühchristentum und der späteren Entstehung der Dogmen beschäftigt, niemals jedoch so ernsthaft, daß es zu tiefgreifenden Veränderungen in meinem Denken und Leben geführt hatte. Mich hatte an dieser Thematik mehr der psychologische Aspekt interessiert, das unkritische Glaubenmüssen an so manche Ungereimtheit und das Unterwerfen unter religiöse Zwänge. Darauf führte ich damals die in meinen Augen weitverbreitete Gleichgültigkeit und innere Inaktivität unter den mir bekannten Kirchenchristen zurück. Von einer wirklichen Freude und Freiheit schienen diese mir noch weit entfernt zu sein, mich selbst eingeschlossen.

Jetzt aber war mir offensichtlich auf einmal auch die theologische Seite der Medaille wichtig. Ich glaubte wohl, ohne diese Zusammenhänge das Thema nicht erfassen und verstehen zu können. Was ja, wie ich aufgeklärt worden war, bei mir auch ohne weiteres der Fall sein konnte.

Nachdem ich die Bücher eingesteckt hatte, in die ich mich an diesem Wochenende vertiefen wollte, richtete ich einen Gruß an Max und Tommi aus und verabschiedete mich. Ich überlegte: Sollte ich essen gehen, mir zu Hause selbst etwas machen oder heute mittag das Essen ausfallen lassen, um stattdessen die sonnigen Mittagsstunden zu nutzen? Ich entschied mich für eine Kombination aus Mittagssonne und Lesen und suchte mir in dem gleichen Park, in dem mir bereits einmal ein Erkenntnishinweis durch einen Vogel gegeben worden war, eine ruhige Bank. Dann nahm ich ein erstes Buch, eher eine kleine Broschüre, und begann zu lesen.

Es ging darin um die Aussage, daß die Lehre von der Wiedergeburt durchaus zu den Glaubenssätzen des frühen Christentums gehört hatte. Origenes, so lernte ich, der etwa von 185 - 254 lebte und als einer der größten griechischen Kirchenväter galt und noch gilt, lehrte die Reinkarnation mit großer Überzeugung. Ihm standen noch die ursprünglichen Handschriften der Bibel in griechischer und hebräischer Sprache zur Verfügung.

Meine neugierigen Gedanken eilten voraus: "Dann ist es um so erstaunlicher, daß dieses Wissen von den abendländischen Kirchen nicht gelehrt wurde und wird. Warum nicht? Oder richtiger: Warum nicht mehr? Wer hat dieses Wissen beseitigt? Und wie? Und warum überhaupt? Ist es denn so entscheidend für die Kirchen, ob es eine Wiedergeburt gibt oder nicht?"

Ich zügelte mich selbst; ich würde alles erfahren, läse ich nur in Ruhe weiter.

Origenes mußte eine überragende Gestalt und überall anerkannt gewesen sein, denn sowohl seine Befürworter als auch seine Gegner beriefen sich auf ihn. Er galt als die Autorität. Man verknüpfte das Wissen um die Reinkarnation immer mehr mit seinem Namen. Als in den darauffolgenden Jahrhunderten der Streit um Origenes immer heftiger wurde und eine Entscheidung erforderte, kam es auf der Synode der Ostkirche im Jahre 543 in Konstantinopel zu einem Ereignis, das die Verdrängung und Beseitigung der Reinkarnationslehre zur Folge hatte: Die Lehre des Origenes - die ja gar nicht seine Lehre, sondern unveränderliche, ewige Wahrheit war - wurde auf Anweisung von Kaiser Justinian I. mit neun Bannflüchen belegt und verworfen. Darunter befinden sich auch zwei Verfluchungen, die die Wiedergeburtslehre indirekt verurteilen.

Als ich das Wort "Verfluchung" las, schloß ich für einen Moment die Augen, dachte intensiv an mein Licht und vergegenwärtigte mir seine Liebe.

Das war die Wahrheit, und diese Wahrheit wollte ich mir nie wieder nehmen lassen. Ich würde sie, soweit ich es konnte, erkennen, auch wenn noch viele, viele Fragen offen waren. Auch wenn es bequemer war, sich vorgesetzten Glaubensaussagen anzuschließen, wollte ich den Weg des Fragens, Zweifelns und Ringens gehen. Es mochte sein, daß er schwerer war als der kirchlichen Glaubensgehorsams, mit Sicherheit sogar. Doch ich ahnte jetzt schon, daß nicht erst am Ende des Weges, sondern bereits nach einigen erfolgreich getanen Schritten eine Freiheit und Gewißheit entstehen würden, die mit nichts vergleichbar waren.

"Komisch", dachte ich plötzlich, "daß mir das jetzt in den Sinn kommt." Ich erinnerte mich nämlich in diesem Moment daran, daß ich mir vor vielen Jahren in einer philosophischen Anwandlung schon einmal den Kopf zerbrochen hatte. Ich hatte mich damals gefragt, was für mich das wichtigste Gut sei, das ich mir nie nehmen lassen oder aber erarbeiten wollte, falls ich es noch nicht besäße. Es mußte etwas sein, ohne das mir ein wirkliches Leben nicht möglich und lebenswert erschien. Zwei Voraussetzungen hatten sich für mich als unumgänglich herauskristallisiert: Freiheit und Würde. Freiheit verband ich damals mehr mit äußeren Umständen, weil mir die innere Gebundenheit noch kaum bewußt geworden war. Würde war in meinen Augen erforderlich, um sich nicht selbst zu verleugnen durch die ungeprüfte, aufoktroyierte Annahme von Ideologien gleich welcher Art. Denn der Verlust der Würde hätte auch den Verlust der Achtung vor sich selbst und anderen zur Folge.

Ich schüttelte im Stillen den Kopf wegen meiner Abschweifung; nicht deshalb, weil sich meine Ansichten im Laufe der Jahre geändert hatten, sondern weil meine Gedanken sich immer wieder verselbständigten.

Zurück zu Origenes, befahl ich mir.

Mit dem Bannfluch belegt wurde unter anderem die Auffassung, daß die Seelen der Menschen zu früheren Zeiten reine Engelwesen gewesen seien und nach wiederholten Erdenleben früher oder später alle in die Herrlichkeit Gottes zurückkehren würden. Ein weiterer Glaubenssatz wurde ebenfalls als Irrlehre verdammt, daß nämlich die Bestrafung der Dämonen und der gottlosen Menschen zeitlich sei, und daß sie zu irgendeiner Zeit ein Ende habe, und es eine Wiedereinbringung (sprich: Rückkehr in den Himmel) von Dämonen oder gottlosen Menschen gäbe.

Ich mußte diese Stelle mehrmals lesen, bis ich sie richtig verstanden hatte. Es bedeutet nichts anderes, als daß die Bestrafung der Dämonen und Sünder durch Gott zeitlich unbegrenzt - also ewig - ist, und daß keiner von ihnen jemals wieder in seine himmlische Heimat zurück kann, sondern auf immer verloren ist. Jede andere Auffassung ist irrig. Wer dennoch sagt oder meint, die unendliche Liebe Gottes sei höher zu bewerten als jedes Kirchengebot, indem er im Gegensatz zur dogmatischen Lehre an die mögliche Rückkehr aller gefallenen Kinder Gottes glaubt, "... der sei verflucht."

Zehn Jahre später unterzeichnete dann Papst Vigilius auf dem
V. Allgemeinen Konzil von Konstantinopel die Konzilsakte und setzte damit gültiges Recht. Auch der darin enthaltene Bannfluch gegen Origenes und andere Kirchenlehrer "... samt denen, welche die gleiche Gesinnung hatten und haben ...", ist bis heute nicht aufgehoben.

Also, dachte ich, dann bin ich verflucht; denn so weit hatte sich das neue Denken schon in mir verfestigt, daß ich begann, mich als Vertreter der Wiedergeburtslehre zu fühlen. Ich mußte nur noch den Sinn dahinter herausbekommen. Nur gut, daß das Licht keinen Unterschied machte zwischen den Verfluchten und den Gerechten. Ich wünschte jedenfalls jedem die gleiche, schöne Erfahrung, wie ich sie in den letzten Tagen gemacht hatte.

"Is bei Ihnen noch frei", sagte plötzlich eine Stimme. Ich entgegnete ohne aufzublicken "natürlich", warf aber dann doch einen Blick auf meinen Nachbarn. Das ließ sich schon deshalb nicht vermeiden, weil er einen Rucksack auf den freien Platz zwischen uns stellte und mir dabei mein Arm in meine Seite gedrückt wurde. Ich rückte, soweit es der freie Raum zuließ, nach links und versuchte, mich wieder auf den für meine Begriffe ungemein wichtigen Abschnitt der Kirchengeschichte zu konzentrieren.

Ich las von der durch die Verdammung der Reinkarnationslehre entstandenen Lücke im Glaubensgebäude der Kirche und dem Versuch, dieses Loch durch neue Glaubenssätze, größtenteils dogmatisch-verbindlicher Art, zu schließen. Diese betrafen vor allem die Erbsünde, die Schaffung der Seele im Augenblick der Zeugung, die Todsünde, das Jüngste Gericht, das Fegefeuer und die ewige Verdammnis. Zugleich wurde damit die Heilsnotwendigkeit der priesterlichen Vermittler begründet, denn ohne sie hätte dieses Lehrgebäude nicht funktionieren können. "Und es funktioniert seit rund anderthalb Jahrtausenden", dachte ich.

Ich spürte einen leichten Griff an meinem rechten Arm. "Woll'n Se auch 'nen Schluck?", fragte der Mann neben mir und hielt mir eine Flasche Rotwein entgegen.

"Natürlich nicht", antwortete ich leicht konsterniert und wandte mich wieder meiner Literatur zu.

"Stört es Sie, Chef, wenn ich was trinke und esse?" Papier knisterte, während er ein Brot auspackte.

"Natürlich nicht", entgegnete ich, ohne ihn anzuschauen, wobei mir aber doch auffiel, daß sich mein Wortschatz in den letzten Minuten erheblich reduziert hatte. Das aber war mir egal. Ich brauchte und wollte meine Ruhe; reden stand jetzt nicht auf dem Programm. Schließlich war ich kurz davor, eines der größten Rätsel der Weltgeschichte zu lösen! Was war dagegen die Unterhaltung mit einem - gelinde ausgedrückt - Tippelbruder, der dringend eines Bades bedurfte.

Er ließ sich entweder nicht einschüchtern, oder er hatte kein Gespür für andere Menschen. Nach einer Pause machte er munter weiter.

"Ich heiße Willi, und meine Frau ist tot."

Ich hatte nicht hingehört. Gerade hatte ich ein Kapitel begonnen, das den Kampf der Kirche gegen Andersdenkende, gegen Abweichler von der offiziellen Lehrmeinung schilderte. Bekannte Namen tauchten da auf. Immer hatte es einzelne Menschen oder Gruppen gegeben, die aus ihrer, der kirchlichen Lehre widersprechenden Auffassung kein Hehl gemacht hatten. Für ihr Verständnis von einem Gott der Barmherzigkeit und Vergebung waren sie nicht selten in den Tod gegangen. Theologische Gelehrsamkeit, die ihre Überlegenheit aus geschliffenem Intellekt und der Macht des Klerus' auf der einen Seite und Angst und Unwissenheit des einfachen Volkes auf der anderen Seite bezog, konnte die Ketzer nicht überzeugen. Der Glaube an die Liebe Gottes siegte, auch über Verfolgung und Tod hinaus.

"So muß es sein", dachte ich mir. "Das Herz siegt über den Kopf."

Der Mann neben mir sagte etwas, das ich vielleicht verstanden hätte, wenn ich ihm hätte zuhören wollen. Aber ich wollte nicht; ich hatte Bedeutenderes zu tun. Erneut wurde ich unterbrochen.

"Alma hieß meine Frau, und ich heiß' Willi."

"Schön, Willi", antwortete ich. Der Gedanke, meinen Nachbarn anzuschauen und mich vorzustellen, kam mir nicht. Ich wollte in Ruhe den Sieg der Liebe über den Intellekt feiern, doch Willi war erbarmungslos.

"32 Jahre waren wir zusammen, 32 Jahre lang! Und dann läßt se mich im Stich - und stirbt." Er setzte die Flasche an. "Und nun isse tot."

Eine längere Pause entstand; ich hoffte auf ein Einsehen seinerseits, mich lesen zu lassen. Ich hatte mich getäuscht.

"Glaubst du ...", er entschuldigte sich gestenreich, "is mir so 'rausgerutscht, weil ich nich mehr oft mit so feinen Menschen zu tun habe. Glauben Sie", begann er erneut und rülpste, "daß sie irgendwo is?"

Ich hatte mich immer für einen relativ geduldigen Menschen gehalten. Jetzt spürte ich, daß meine Geduld arg strapaziert wurde. Einerseits wollte ich nicht unhöflich sein, sondern nur in Ruhe gelassen werden; andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte, ohne daß ich mich gegen dieses, unter meinem Niveau liegende Gerede entsprechend zur Wehr setzte. Eine andere Bank zu suchen, fiel mir gar nicht ein.

"Einen Versuch noch", sagte ich mir, wobei mir gar nicht bewußt war, daß ich noch gar keinen unternommen hatte. Vielleicht konnte ich ihn mit einem gewissen Grad an Aufmerksamkeit meinerseits und ein bißchen Logik dazu bringen, für wenigstens eine Weile schweigend nachzudenken und nicht so ein unwichtiges Zeug zu schwätzen.

"Wer soll denn wo sein?", fragte ich.

Er schaute mich groß an, so als würde er sich fragen, ob ich ihn und seine Ausführungen überhaupt verstanden hatte.

"Alma natürlich."

"Natürlich", sagte ich zum vierten Mal. "Aber ich denke, sie ist tot. Ist sie nun tot, oder soll sie irgendwo sein?"

Ich bemühte mich nach besten Kräften, ruhig und nachsichtig zu sprechen. Für einige Minuten herrschte Schweigen. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Ich konnte in Ruhe weiterlesen. Daß die Flasche verkorkt und der Rucksack zugeschnürt wurde, nahm ich kaum wahr. Erst seine Stimme riß mich in die Realität unserer Gemeinsamkeit zurück, in der ich nichts anderes als eine mich störende, ablenkende Zufälligkeit sehen konnte.

"Ich bin nur ein einfacher Mensch, Chef. Wenn Sie mir das nicht sagen können, woher soll ich das dann wissen?"

"Was denn?" Noch einmal nahm ich mich zusammen.

"Wo se is, die Alma."

Jetzt hatte er den Bogen überspannt. Gut, seine Frau war gestorben, so wie ich ihn verstanden hatte. Wer weiß, vor wieviel Jahren. War das ein Grund, öffentlich zu trinken und Unsinn zu reden? Ich wußte, wie einem Witwer zumute sein kann. Ich war ja auch einer. Doch sein Alleinsein gab ihm kein Recht, mich in Beschlag zu nehmen mit Problemen, die er nicht formulieren und die ich nicht erkennen konnte.

Ich packte meine Bücher zusammen und stand auf.

"Herr Willi", sagte ich, "ich weiß nicht, was Sie heute noch vorhaben. Was auch immer es sein mag: Was ich vorhabe, ist wahrscheinlich wichtiger. Verstehen Sie?" Ich beugte mich zu ihm herunter, weil er mir auf einmal aus unerfindlichen Gründen leid tat, und versuchte zu erklären: "Ich brauche Ruhe dafür, und die habe ich hier nicht."

Während ich mich abwandte, bemerkte ich einen tieftraurigen, hilflosen Ausdruck in seinem Gesicht. Für einen Moment überlegte ich, ob ich mich noch einmal umdrehen und ihm irgend etwas sagen sollte. Doch dann ging dieser Augenblick ungenutzt vorüber. Leicht irritiert verließ ich den Park, ohne mich noch einmal umzuschauen. So konnte ich nicht sehen, wie er die Hand hob, als wollte er mir noch etwas sagen, sie dann aber mit einer Geste der Resignation wieder fallen ließ.

 

*

 

Nachdem ich es mir zu Hause gemütlich gemacht hatte, wollte ich weiterlesen, fand aber nicht mehr den richtigen Zugang zu dem Thema. Ich war nicht bei der Sache, tausend Dinge gingen mir durch den Kopf, und immer wieder mußte ich auch an die Begegnung im Park denken. Mein Unmut hatte sich inzwischen gelegt. Und doch war da etwas, das mich nicht in meine sonstige Gelassenheit finden ließ, das ich aber nicht fassen konnte. Ich schrieb meine Unkonzentriertheit meinem Überkonsum an esoterischer und kirchengeschichtlicher Literatur zu und beschloß, eine Pause zu machen. Ein bißchen Joggen, ein Bier und ein Bad würden mir guttun.

So war es denn auch. Ich lag schließlich in der Badewanne, las die Tageszeitung und war wieder mit Gott und der Welt und mir zufrieden. Den Abend verbrachte ich zwischen verschiedenen Fernsehprogrammen hin- und herschaltend. Schon hatte ich beschlossen, ins Bett zu gehen, als ich auf eine Fernseh-Diskussionsrunde mit dem Titel "Ich war schon einmal tot" aufmerksam wurde, in der es lebhaft zuging. Da stritten sich auf der einen Seite Leute, die ein Leben nach dem Tod ablehnten ("mangels Beweisen und weil noch keiner zurückgekommen ist") und auf der anderen Seite solche, die von sich behaupteten, klinisch tot gewesen zu sein. Für wenige Minuten oder auch länger hätten sie ein Leben in einer anderen Form geführt, bevor sie dann wieder in ihren alten, kranken oder verletzten Körper zurückkehrten.

Ich schaute und hörte mir die Runde eine Weile an. Hauptsächlich war ich an Einzelheiten eines Lebens in einer anderen Welt interessiert, an dem "Wo?" und "Wie?", und nicht so sehr an der Grundsatzfrage "Ob überhaupt?". Die hatte ich, wie ich feststellte, für mich schon beantwortet: Ich glaubte daran. Denn da ich mich inzwischen für die Wiedergeburt entschieden hatte, schien mir der Glaube an ein Leben nach dem Tod ein Muß zu sein. Wie sollte sonst das Wiedergeborenwerden funktionieren, wenn da nichts mehr war, was wiedergeboren werden konnte?

Manchmal prallten die gegenteiligen Meinungen hart aufeinander; da fehlte dann leider die notwendige Toleranz. Ich maßte mir nicht an, schon eine ausgereifte Meinung dazu zu haben; dafür war meine Exkursion auf diesem Gebiet noch zu jung. Aber ich hätte mir ein wenig mehr Verstand und Herz der Teilnehmer gewünscht. Verstand, um so manchen guten Ansatz zu Ende bringen, und Herz, um auch mal ohne das Pochen auf Beweise schlüssige Folgerungen ziehen zu können.

Ich hatte mir Details über jenseitige Welten erhofft, was zugegebenermaßen meiner Neugier entsprang. Die Einzelheiten dazu waren jedoch sehr spärlich. Ich nahm mir vor, mehr darüber zu lesen. Einiges würde sich vermutlich ohnehin ergeben, wenn ich mich weiter mit der Reinkarnation beschäftigen würde, denn das eine war vom anderen nicht zu trennen.

Was mich überraschte und mein Herz höher schlagen ließ, war die Schilderung einer Frau, die von einem Licht, einem tiefen Verständnis und einer großen Geborgenheit sprach, die sie erlebt hatte. Davon ließ sie sich auch nicht abbringen, als ihr entgegengehalten wurde, sie sei gar nicht richtig tot gewesen, sonst hätte sie ja nicht weiterleben können. Was sie und andere erlebt hatten, mußte sehr beeindruckend gewesen sein, denn es hatte bei drei der vier ins Leben Zurückgeholten zu einer anderen Sinngebung ihres Daseins und damit zu einem Wandel in ihrem Leben geführt.

Diesen Ausführungen konnte ich sofort zustimmen; sie fielen bei mir auf fruchtbaren Boden. Ich hatte ja ebenfalls mein Licht. Die Ansichten eines Arztes und eines Psychiaters waren mir zu wissenschaftlich verkopft, und die beiden ebenfalls eingeladenen Theologen hatten unterschiedliche Ansichten. Vielleicht, weil sie aus verschiedenen Lagern kamen.

Einen Hinweis aus der Diskussionsrunde notierte ich mir. Irgend jemand verwies auf zwei Doktoren namens Karlis Osis und Erlendur Haraldsson und deren gemeinsames Buch Der Tod - ein neuer Anfang. Zumindest einer von ihnen muß ein "starrköpfiger, illusionsloser Wissenschaftler" gewesen sein, der die ihm unverständlichen Visionen Sterbender und Wiederbelebter als bloße Hirngespinste hinstellte. Beide versuchten alles, um zu beweisen, daß es sich dabei lediglich um Halluzinationen handeln konnte. Es war ihnen gelungen, Sterben und Tod bei über 1000 Patienten zu untersuchen - immer in der Absicht, die Unmöglichkeit eines Überlebens, gleich in welcher Form, zu dokumentieren. Beide wurden von ihrer Ungläubigkeit "geheilt"; sie änderten schließlich ihre Meinung und traten für ein Weiterleben nach dem Tode ein, das ihnen im Laufe ihrer Arbeit zu einer persönlichen Gewißheit geworden war. Ich nahm mir vor, mich nach dem Buch zu erkundigen.

Als ich müde wurde, schaltete ich ab und ging zu Bett. "Irgendwie interessant, wie sich ein Mosaiksteinchen zum anderen findet", dachte ich. "Wievieler Steinchen bedarf es wohl, bis das Bild komplett ist?" Ob man es überhaupt komplett machen konnte? Wahrscheinlich nicht, solange man hier als Mensch lebt. Drüben - ich war verwundert, wie leicht mir inzwischen der Gedanke an "drüben" kam - drüben würde es vermutlich einfacher sein.

"Wie gut, daß ich das Licht habe", war mein letzter Gedanke. Ich würde Weiteres erfahren, wenn es diese Nacht käme.