Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

nächstes Kapitel                                 zurückblättern                               zum Anfang des Buches

 

9. Ein erleuchtender Umkehrschluß

 

Doch das Licht kam nicht. Es kam auch in der nächsten und übernächsten Nacht nicht. Es erschien erst wieder, als ich nach Grübeln und Enttäuschtsein, nach Hilflosigkeit und Resignation in mir auf eine Spur für meine "Verlassenheit" stieß - wie ich meinen Zustand selbstmitleidsvoll bezeichnete. Das geschah aber erst nach ein paar Tagen. Ich ging auch sehr vorsichtig bei meiner Fährtensuche vor, so als ob ich ahnte, daß ich nicht ganz ohne Blessuren davonkommen würde. Bis es aber soweit war, mußte ich ohne den unmittelbaren Kontakt zu meinem Licht auskommen.

Natürlich fiel mir beim Erwachen am nächsten Morgen als allererstes auf, daß es keine nächtliche Begegnung gegeben hatte. Was war geschehen? War das Licht vielleicht doch dagewesen, und mich ließ nur mein Erinnerungsvermögen im Stich? Ich entschied mich gegen diese Annahme auf Grund meiner intensiv erlebten Eindrücke, die ich jeweils in das Erwachen mit hineingenommen hatte. Also gut - also schlecht, korrigierte ich mich -, in dieser Nacht war nichts geschehen. Das mußte nicht unbedingt ein Grund zur Beunruhigung sein. Ich hatte ja schon selbst erkannt, daß ich einerseits keinen Anspruch auf ein pünktliches und regelmäßiges Erscheinen erheben konnte, und außerdem mochte es andererseits durchaus eine vernünftige und akzeptable Erklärung für sein Fernbleiben geben.

"Schade", dachte ich, "es wäre etwas einfacher gewesen." Nun mußte ich sehen, wie ich das Beste daraus machte und selbst mit meinen Informationen, Eindrücken und Schlußfolgerungen zurechtkam. Für wie lange? "Bestimmt nicht für lange", sagte ich mir. Das Licht wußte ja um meine Liebe.

"Vielleicht soll ich auch nur lernen", kam mir ein weiterer Gedanke, "mehr auf eigenen Füßen zu stehen und nicht wie ein kleines Kind bei jeder Gelegenheit zur Mutter zu laufen. Jawohl, so wird es sein. Also, Ferdinand, keine Trübsal blasen. Tu was, damit du bei unserem nächsten Treffen nicht mit leeren Händen dastehst."

Nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem mir der Gedanke an Saat und Ernte immer wieder in den Sinn kam, rief ich Anne an. Mit meinen Überlegungen war ich an einem bestimmten Punkt ins Stocken geraten. Vielleicht konnte sie mir helfen. Es ging um das Bibelwort "Was der Mensch sät, das wird er ernten". Die Aussage war zum einen sehr klar, zum anderen lagen die möglichen Ableitungen daraus für mich im Nebel: Wann wird der Mensch ernten? Wo wird er ernten? Was wird er ernten? Hat er keine Möglichkeit, seine Saat - falls es eine schlechte war - vor der Ernte noch erfolgreich und dauerhaft zu "korrigieren"? Konnte man erfahren, was man gesät hatte, um daraus schon vor der Ernte das mögliche Ergebnis abzuleiten? Hatten wirklich alle diejenigen, denen augenscheinlich eine gute Ernte beschert war, auch nur gute Saat ausgebracht? Wird jeder ernten - also auch Kinder, geistig Behinderte, völlig Unwissende usw? Erfolgte eine buchhalterische Aufrechnung von Gut gegen Böse? Galt diese Regel auch für Gruppen, ganze Völker, Systeme? Galt sie gleichermaßen für die Oberen wie für die Unteren, für die Belehrenden wie für die Belehrten?

Einige Antworten konnte ich selbst finden: Das Gesetz mußte für alle gelten, weil Gott die Liebe ist. Aber gerade diese Feststellung warf neue Fragen auf. Wo war der Knoten, den es zu lösen galt?

Ich fragte also meine Tochter: "Was verstehst du darunter, wenn es heißt: Was du säst, wirst du ernten?"

Sie antwortete prompt: "Was du erntest, hast du gesät ..."

"Nein, du hast mich falsch verstanden. Du hast es 'rumgedreht. Es heißt: Was du säst im Sinne von 'säen wirst', das wirst du später mal ernten!"

"Ja, sag' ich doch, Papa. Was jemand jetzt erntet, das hat er früher gesät. Das ist das, was ich darunter verstehe."

Es folgte eine so lange Stille, daß Anne schließlich beinahe besorgt fragte: "Ist was, Papa. Bist du noch dran?"

"Ja, ich bin noch dran. Und wie ich dran bin! Ich glaube, jetzt löst sich ein weiterer Knoten."

"Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?"

"Natürlich, mir geht's gut. Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht."

"Willst du mir sagen, über was?"

"Wenn du kommst, kann ich dir vieles erzählen." Ich freute mich auf ihren Besuch am Wochenende. Ob sie alles glauben und verstehen würde? "Laß es jetzt gut sein. Du hast mir geholfen mit deiner Satzverdreherei."

"Ich bin gespannt", sagte sie. "Ich freu' mich, mach's gut."

"Du auch, mein Liebes", antwortete ich und legte auf.

Ich schüttelte den Kopf: Eine kleine Wortspielerei, die zudem noch gar keine richtige war, sondern nur eine andere Sichtweise ein und derselben Weisheit, stellte sich als der gesuchte Schlüssel heraus. Wenn man nämlich - das war mir bei unserem kurzen Telefonat schlagartig deutlich geworden - das Gesetz von Saat und Ernte nicht ausschließlich in die Zukunft projiziert (wie es von den Kirchen getan wird), sondern es auch auf die Vergangenheit anwendet, dann finden auf einmal offene Fragen logische Antworten. Irgend etwas in meinem Kopf begann sich, vergleichbar einem Buch voller Lösungen, aufzublättern; zwar waren es erst ein paar Seiten, aber ich hatte das Gefühl, es waren entscheidende.

Man konnte als Beispiel und durchaus richtig annehmen, daß ein zu diesem Zeitpunkt verursachtes Unrecht zu einem späteren Zeitpunkt eine Folge nach sich ziehen wird. Denn so wird das Gesetz von Ursache und Wirkung interpretiert. Dann mußte man aber ebenso annehmen dürfen - müssen, wie ich mich verbesserte -, daß eine zu diesem Zeitpunkt erfolgte Wirkung ihre gesetzte Ursache zu einem früheren Zeitpunkt haben mußte.

"Das ist verrückt", dachte ich. "Was ich heute - ohne dieses 'heute' wörtlich zu nehmen - verursache, wirkt sich morgen aus. Und was sich heute auswirkt, habe ich gestern verursacht."

Übertrug ich diese Überlegungen auf die Zukunft, dann führten sie über die noch vor mir liegenden Jahre bis an den Punkt meines Lebensendes und dann darüber hinaus in ein irgendwie geartetes Dasein danach. Nach allgemein vorherrschender Auffassung stellten dann Himmel, Hölle oder Fegefeuer die Ernte meines jetzigen Tuns dar. Glaubte man an die Reinkarnation, so gab es ein neues Leben in einem neuen Körper. Auf jeden Fall mußte es eine Möglichkeit geben, die Ernte einfahren zu dürfen (falls es eine gute war) oder einfahren zu müssen (wenn sie weniger gut war); ansonsten hätte das Gesetz keinen Sinn. Wäre nämlich der Tod das endgültige Ende, das unwiderrufliche Aus für Leib und Seele, dann würde mit dem Tod alles einfach erlöschen. Die Ernte einer lebenslang ausgebrachten Saat könnte gar nicht eingefahren oder (von wem?) nicht eingefordert werden. "Das wäre wie das Fehlen einer Exekutive in einem Staat", dachte ich.

Wendete ich nun die Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung auf die Vergangenheit an, indem ich in meinem Leben Schritt für Schritt zurückging, dann mußte ich wie bei meiner vorigen Überlegung ebenfalls an einen bestimmten Punkt und darüber hinaus kommen: diesmal nicht an meinen Tod, sondern an meine Geburt und die Zeit davor.

Ich konnte das weitere "Aufblättern", wie ich es genannt hatte, nicht verhindern. Es ging wie von selbst vor sich.

Gott ist die Gerechtigkeit, ging es mir durch den Kopf. Bisher hatte ich mir über die scheinbaren Widersprüche zwischen göttlicher Gerechtigkeit und dem Zustand der Welt, dem Unglück ganzer Völker, den Einzelschicksalen so vieler Menschen keine großen Gedanken gemacht. Es gab für mich keine Veranlassung für tiefschürfende Gedankenakrobatik. Mit dem Erscheinen des Lichtes war das anders geworden.

Die Gerechtigkeit, so hatte ich erkannt, mußte allen die gleiche Chance geben. Diese Chance war aber offensichtlich nicht vorhanden, denn bei den weltweit unterschiedlichen Startbedingungen, die die Kinder mit ihrem Eintritt in das Leben vorfanden, konnte man nach menschlichem Ermessen nicht von Gleichheit sprechen. Die Lösung lag so offensichtlich da, und die Antwort war so zwingend, daß ich mich im Nachhinein fragte, warum ich sie nicht schon früher gefunden hatte.

Gottes Liebe vorausgesetzt, hatte sich jedes Neugeborene seine Lebensumstände selbst geschaffen oder selbst ausgesucht (Genaueres konnte ich noch nicht überblicken). Es war keine Strafe, keine Unachtsamkeit, kein unerklärbarer Ratschluß Gottes - nein, alles unterlag einem Ablauf, dessen Verständnis sich einem entzog, wenn man das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht mit einbezog. Tat man dies jedoch, dann öffneten sich einem "geistig die Augen". Falls man sie öffnen wollte. Denn es bedeutete, daß es ein Dasein, ein Leben vor diesem Leben gegeben haben mußte! Das war die aus dieser Einsicht zu ziehende Konsequenz, es sei denn, man nahm zu theologischen Erklärungen Zuflucht, die den Gott der Liebe achselzuckend und es nicht bessser-wissen-könnend oder -wollend gleichzeitig als Gott der Willkür und Ungerechtigkeit darstellten.

Die Richtigkeit der Reinkarnation ergab sich so wie von selbst, abgeleitet aus dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Das, was die Sünden- und Vergebungstheorie unter anderem erst rechtfertigte - nämlich dieses Was der Mensch sät, das wird er ernten -, richtete sich so gegen diejenigen, die diese Aussage für ihre Zwecke deuteten und für ihre Machtausübung einsetzten. Jetzt wendete sich das Blatt: Saat und Ernte mit der Reinkarnation als Folge wurden so zu einem doppelten Bumerang. Einerseits konnte nun in diesem Licht die Liebe Gottes richtig verstanden werden, und andererseits verlor damit die Erfordernis priesterlicher Vermittlertätigkeit an Bedeutung. So schien es mir. Oder sollte der Priester wirklich in der Lage sein, als Bindeglied zwischen Gott und mir zu fungieren, mir meine schlechte Saat abzunehmen und damit schlechte Ernte abzuwenden? Wenn er das könnte, wäre das natürlich eine einfache und schöne Sache. Konnte er es aber nicht, was ich stark vermutete, dann war er zumindest in dieser Funktion überflüssig.

Wieder einmal bemerkte ich, daß sich meine Gedanken verselbständigt hatten. Das war aber auch kein Wunder; zuviel in mir war es, was von den Erkenntnissen der letzten Minuten berührt wurde. Es würde fast nichts geben, das ahnte ich, das nicht in irgendeiner Form davon betroffen wäre. Es wäre schön, wenn mein Licht jetzt da wäre, dachte ich ein wenig wehmütig. Es gab doch vieles, das mir nicht gleich in den Kopf wollte. Oder ich machte zu viele Umwege gedanklicher Art. Doch ich rief mich zur Ordnung, ich wollte nicht undankbar sein.

Jedes Neugeborene kam nicht unvorbereitet, nicht unschuldsvoll wie eine taufrische Rose in das vor ihm liegende Leben. Zu diesem Schluß war ich gekommen. Wie das praktisch vor sich gehen konnte, war mir noch völlig unklar. Es hatte in seinem "Gepäck" die Ursachen (oder vielleicht einen Teil davon), die in seinem kommenden Leben eine Rolle spielen würden. Es mußte so sein. Es gab keine andere Erklärung dafür, daß schon ein Kind - oftmals von der Geburt an - ein schweres Schicksal zu tragen hatte. Es sei denn, man ließ die Gerechtigkeit Gottes außer Betracht. Dann aber konnte man meines Erachtens Ihn selbst gleich außer Betracht lassen und dafür an den Zufall glauben. Was aber auch keine Lösung war, denn der hatte sich als Illusion erwiesen. Oder man glaubte an göttliche Unordnung und Inkompetenz oder an theologische Erklärungsversuche. "Dann noch eher an den Zufall", sagte ich mir.

Das Problem bestand wohl für die meisten Menschen darin, daß für sie Neugeborene etwas Makellos-Unschuldiges, Kostbares darstellten, etwas, das anscheinend aus dem Nichts in diese Welt gekommen war. Deshalb war es nahezu unmöglich, in diesem zarten und liebebedürftigen Wesen mehr zu sehen als ein kleines, hilfloses Bündel Mensch - das es ja zweifelsfrei bei seinem Erdenantritt auch war. Und trotzdem konnte es nicht anders sein, als daß jeder Neuankömmling dem Äußeren nach zwar "neu", im Inneren aber schon "alt" sein mußte.

Er mußte etwas mitgebracht haben, das zwar nicht sichtbar, aber dennoch so schwerwiegend-entscheidend war, daß es sein Leben prägte oder zumindest mitbestimmte. Er mußte etwas mitgebracht haben, das nur ihm allein "gehörte", das nur ihn allein ausmachte, das nicht zu trennen war von seiner Person. Es mußte die Summe an Wachstum und Entwicklung, an Erkenntnis und Fortschritt aus dem oder den letzten Leben sein, aber auch die Bilanz negativer Entscheidungen und Handlungen. Das Licht, so fiel mir ein, hatte im Zusammenhang mit dem Karmagesetz einmal darüber gesprochen. Als "Karma" wurden demnach die durch einen Verstoß gegen das Liebegebot entstandenen Ursachen in ihrer Gesamtheit bezeichnet. Ich hatte diesen Begriff auch schon einmal in Verbindung mit östlichen Religionslehren gehört und nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit danach zu fragen.

Wenn neben den Stärken (dem Positiven) auch die Schwächen (das Negative) früherer Leben in das neue Erdendasein mit hineingebracht wurden, mußte es einen "Träger" für das Mitgebrachte geben. Da es der Körper nicht sein konnte - dieser war ja von den Eltern gezeugt worden -, mußte es das sein, was mein Licht die "Seele" genannt hatte. Auch ich hatte diesen Ausdruck schon oft verwendet, ohne mir über seine Bedeutung im klaren zu sein.

Ich hatte das Gefühl, ein ganzes Stück vorangekommen zu sein. Es zeichnete sich eine Erklärung für das Leid und Unglück in dieser Welt ab. Dabei wurde für mich allerdings die neue Frage aufgeworfen, warum denn Gott in Seiner Barmherzigkeit und mit Seinen Möglichkeiten nicht wenigstens die schwersten Schicksalsschläge milderte ("und wenn sie tausendmal selbst verursacht worden sind", sagte ich mir).

Außerdem gab es mit der Akzeptanz des Lebens nach dem Tod und der Wiedergeburt Fragen nach der genaueren Bestimmung von "woher?" und "wohin?". Vor allem aber die alles entscheidende Frage nach dem Sinn des Ganzen, dem Sinn des Leidens, des Rhythmus' von Tod und Wiedergeburt, des Lernens und Liebens. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß sich einem die vielen, noch offenen und ungestellten Fragen wie von selbst beantworten würden, könnte man den Sinn hinter all dem erfassen. Eine Lampe nach der anderen könnte in meinem Kopf angehen. Am Ende würde das unendliche Staunen stehen, das auf dem Begreifen und einem daraus resultierenden Leben beruht, und das dann allen Unglauben und auch einen oft genug abstrakten Glauben abgelöst hätte.

Ich war noch lange nicht so weit. Doch ab und zu, ganz leise, ahnte ich schon in der hintersten Kammer meines Herzens, was jeden Menschen einmal an unermeßlichem Verstehen erwartet. Nur schade, daß ich im Moment ohne mein Licht war.