Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

nächstes Kapitel                                 zurückblättern                               zum Anfang des Buches


 

10. Von der Unmöglichkeit, Energie zu vernichten

 

Bevor ich am nächsten Morgen ins Büro fuhr, nahm ich mir Zeit, bei einer Tasse Kaffee und einem aufgebackenen Brötchen in die Zeitung zu schauen. Ich war relativ früh aufgewacht; der neue Tag kündigte sich gerade durch das erste Dämmerlicht an. Normalerweise hätte ich mich noch einmal auf die Seite gedreht und noch ein wenig geschlafen. Da mir aber beim Aufwachen als allererstes bewußt wurde, daß ich mein Licht nicht erlebt hatte, fiel es mir schwer, wieder in den Schlaf zu finden. Meine Gedanken beschäftigten sich immer wieder damit, so daß ich nach einigem Hin- und Herwälzen beschloß, aufzustehen und in aller Ruhe die Woche zu beginnen.

Bei den Leserbriefen der heutigen Zeitungsausgabe blieb ich regelrecht hängen, weil mein Blick auf das Wort "Reinkarnation" in den Überschriften fiel. "Die haben aber rasch reagiert", dachte ich, bis mir einfiel, daß Schnelligkeit im Zeitalter moderner Kommunikationsmöglichkeiten, zu denen auch das Faxen gehört, kein Problem mehr darstellt. Mich wunderte darüber hinaus die Vielzahl der abgedruckten Leserstimmen; immerhin waren es sechs Briefe, einige davon aber offensichtlich gekürzt und damit auf das Wesentliche beschnitten. Das Interesse und Mitteilungsbedürfnis zu diesem Thema waren wohl doch größer, als ich es noch vor ein paar Tagen vermutet hätte.

Es herrschte Ausgeglichenheit: Drei waren dagegen, drei dafür. Die Gegner beriefen sich auf entsprechende Bibelstellen (mit "Wiedergeburt" sei immer eine solche im Geiste gemeint). Sie bezeichneten den Glauben an die Reinkarnation als Irrglauben und unchristliche Auffassung und schrieben sie fernöstlichen Lehren oder modernem Religionsersatz zu. Auch der "zwar menschlich verständliche" Wunsch nach einer Art von ewigem Leben wurde als Erklärung angeboten. Ein Schreiber, der sich als Realist bezeichnete ("... ich glaube nur, was ich sehen, hören und fühlen kann") konnte das Ganze überhaupt nicht nachvollziehen.

Zwei der von einem "Wiederkommen ins Fleisch"-Überzeugten führten Argumente ins Feld, von denen mir die meisten beim Lesen der Bücher schon begegnet waren. Einer von ihnen hatte jedoch noch einen weiteren Ansatzpunkt. Er warf die Frage nach dem Sinn wiederholter Erdenleben auf und schrieb von dem "Rad der Wiedergeburt", in dem wir uns nicht freiwillig befänden, sondern mehr oder weniger gezwungenermaßen. Sinn und Zweck wiederkehrender Einkörperungen oder Einverleibungen der Seele in einen materiellen Körper sei daher, vorhandene Seelenbelastungen (damit meinte er Sünden aus diesem und früheren Leben) abzubauen, damit eine schrittweise Rückkehr zu Gott erfolgen konnte.

"Der Schreiber spricht mir aus der Seele", dachte ich, "schrittweise lernen, wie in einer Schule. Dort schafft man auch nicht in einem Jahr das ganze Pensum. Da geht es nach einer Ferienpause in das nächste Schuljahr."

Der Gedanke war ausbaufähig; er mußte ein weiterer Schlüssel sein. Wobei die Frage blieb, wer im Leben die antreibende Kraft war und die nötige Hilfe geben konnte. In der Schule waren es die Lehrer und Eltern - außer einem mehr oder weniger starken Selbstanschub des Schülers. Im Leben war der Mensch weitgehend auf sich selbst angewiesen. Wenn er die nötige Motivation nicht aufbrachte oder vielleicht nicht genug davon: War er dann dazu verdammt, auf ewig im "Rad der Wiedergeburt" seine Runden zu drehen?

Was mich an dem letzten Brief berührte war eine Logik, die aus einem großen Herzen zu kommen schien. Es hieß da:

"Allein das 'Vater unser' müßte allen, die es beten, ein Beweis sein. Ich spreche mit diesem Gebet meinen himmlischen Vater an, der - im Gegensatz zu meinem irdischen Vater - der Schöpfer des nicht-materiellen Teils meiner Person, meiner Seele, ist. Damit bete ich zu einer Macht, von der ich annehme, daß sie das Universum erschaffen hat und erhält. Dieser Macht kann und darf ich doch zutrauen, daß sie das von ihr Geschaffene unter Kontrolle hat. Wenn dieser große Geist alle Seine Kinder liebt, wird Er sie auch nicht verlorengehen lassen; denn Er hat die Macht dazu, dies zu verhindern. Das würde ich als weltlicher Vater oder Mutter nicht anders machen. Und ich bin nur ein Mensch.

Außerdem traue ich Gott, der für mich die Liebe ist, im Gegensatz zu mir nicht zu, daß Er verärgert oder frustriert ist. Und daß Er aus diesem Frust oder auch nur aus falsch verstandener Konsequenz heraus Seine Kinder zur Strafe verlorengehen läßt, weil diese Seine Gebote nicht eingehalten haben. Läßt Er sie aber nicht verlorengehen, dann erhält Er sie und holt sie zu sich zurück.

Das bedeutet für mich, daß es keinen Tod gibt und ich, falls ich nach einem Erdenleben noch nicht wieder reif für den Himmel bin, eine neue Chance bekomme. Ich darf versuchen, es diesmal besser zu machen - bis Er mich schließlich heimholen kann."

Vor diesem Vertrauen verblaßten für mich alle Argumentationen, alle Konzile, geschichtlichen Ereignisse, Verdammungen, Hypnose-Rückführungen und alles andere an Für und Wider. Ich freute mich, einen ähnlich denkenden Menschen gefunden zu haben. Vielleicht würde ich ihm einmal schreiben.

Ein Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, daß es Zeit war, ins Büro zu fahren. Ich wollte gerade aufstehen, als mir ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf schoß, und ich mich wieder hinsetzte. Mein Licht hatte mich gefragt: Wenn du aus Gott bist, dann bist du Sein Kind. Was ist Er dann für dich?

Ich hatte zwar darüber nachgedacht, hatte auch mit meinem Licht über meinen Vater gesprochen, aber ich war nicht so weit gekommen, und es war nicht so tief gegangen wie das, was ich da gerade gelesen hatte. Jetzt lag die Antwort vor mir. Ich schüttelte wie ungläubig den Kopf. Und sie war so einfach formuliert und kam aus einem kindlich-vertrauensvollen Herzen. Eigentlich falsch, dachte ich mir, es müßte "erwachsen-vertrauensvollen" Herzen heißen. Denn wenn wir Erwachsenen unsere Aufgabe erfüllt hätten, dann könnten die Kinder von uns Vertrauen erlernen und nicht umgekehrt. Dann müßten sie nicht uns als Vorbild dienen, sondern wir ihnen.

Ich riß mich los; die Tagesarbeit rief. Die kommende Zeit würde mir Gelegenheit geben, mich an dieser Aufgabe zu üben. Da war ich ganz sicher. Ich hatte auch nichts dagegen, denn wenn ich dorthin zurück wollte, wo ich hergekommen war, dann mußte ich üben und üben und üben ... Das war mir klar. Nur, so allein war's halt nicht ganz das Wahre.

Du bist nicht allein.

Was war das? Ich schaute mich vorsichtig um, als wollte ich mir selbst nicht trauen. Natürlich war da nichts. Es wurde Zeit, daß ich mich mit handfesten Dingen beschäftigte. Zuviel nachzudenken über Gott und die Welt war am frühen Morgen wohl doch nicht angebracht.

 

*

 

Kaum war ich an meinem Arbeitsplatz, ging's los, so als hätte die halbe Firma nur auf mich gewartet. Der Versand kam mit einer Kundenrücksendung, mit der er nichts anzufangen wußte; durch zwei eilige Aufträge, deren Waren heute noch bei den Kunden sein mußten, änderte ich meine Tagestour; unser Lehrling fand sein Ausbildungsheft nicht und stellte jeden unserer Schreibtische auf den Kopf; aus Versehen übernahm ich den Anruf eines verärgerten Kunden, der eigentlich die Buchhaltung betraf - bis Eva ein Einsehen hatte und mir wenigstens die Anrufe vom Leib hielt, die an diesem Morgen nicht unbedingt sein mußten. Es wurde kurz nach zehn Uhr, bis ich mit meinen Vorbereitungen soweit war, daß ich für einen Moment verschnaufen konnte.

Peter war schon unterwegs. Er hatte eine Zeit lang an dem Schreibtisch mir gegenüber gesessen und seine Anrufe getätigt. Weil so viel zu tun war, kamen wir nicht dazu, mehr als ein paar private, belanglose Worte zu wechseln. Als wir einmal für einen Augenblick alleine waren und Peter bereits in der Türe stand, fragte er mich, ob es was Neues gäbe. Ich wußte natürlich, was er meinte, auch wenn er nicht mehr dazu sagte. Aus "Sicherheitsgründen" waren wir stillschweigend übereingekommen, das Licht-Thema mit keiner auch noch so kleinen Andeutung zu erwähnen.

Vielleicht spürte er, daß irgend etwas nicht so ganz im Lot war?

"Nein, nichts Wichtiges", sagte ich, teils deshalb, weil mehr dazu zu sagen im Büro nicht angebracht war, und teils wegen meiner Hoffnung auf baldige "Normalisierung" meiner Nächte. Peter erwartete auch nicht mehr, aber sein einfühlsames Interesse war angekommen.

"Gelegentlich mehr." Peter war bereits auf dem Sprung. "Ich ruf' dich an", sagte ich noch.

Ich hatte inzwischen mein Auto auch gepackt. Nochmals ging ich ins Büro zurück, um eine kleine Terminverschiebung für den Nachmittag zu bestätigen. Bevor ich endgültig aus dem Haus ging, fiel mir ein, daß Eva ihren Pfarrer nach den Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten der Reinkarnation hatte fragen wollen. Meine Meinung dazu hatte sich inzwischen so verfestigt, daß ich sie mir nicht mehr nehmen lassen würde. Insofern war die Ansicht ihres Pfarrers für mich auch nicht mehr maßgebend. "Wenn ich ehrlich sein soll", dachte ich, "wäre sie es sowieso nicht gewesen."

Aber Eva hatte sich die Mühe gemacht, danach zu fragen. Jetzt sollte sie auch sagen dürfen, was sie erfahren hatte. In dem Trubel des Morgens hatte sie die Sache völlig vergessen. Als ich sie daran erinnerte, antwortete sie:

"Also, unser Pfarrer ist wirklich ein netter Mensch. Mit dem kann man richtig normal reden. Der hat so gar nichts Studiertes an sich, er wirkt eher wie ...", sie suchte nach den richtigen Worten, "... wie ein großer Bruder."

"Und was hat er gemeint, dein großer Bruder?"

"Ferdinand." Sie hatte ihre Stimme leicht angehoben und die letzte Silbe meines Namens gedehnt.

"Ist ja schon gut", entschuldigte ich mich, "war nicht so gemeint. Ich weiß, daß es ganz patente Pfarrer gibt." Das wußte ich wirklich. Ein Cousin von mir hatte Theologie studiert und war Geistlicher geworden. In der Jugend waren wir dicke Freunde gewesen, jetzt hatten wir nur noch selten Kontakt miteinander. Es wäre ungerecht von mir gewesen, über einen Menschen zu urteilen, nur weil er einer Institution angehörte, deren Vorgehensweise und Zielsetzung ich nicht teilte.

Sie mußte gespürt haben, daß es mir ernst war mit meiner Entschuldigung.

"Unser Pfarrer hat auf jeden Fall gemeint, daß der Glaube an die Wiedergeburt nicht aus der Bibel abgeleitet werden kann. Er hat aber auch zugegeben, daß es ernstzunehmende Autoren gibt, die sehr wohl die Wiedergeburt in der Bibel begründet sehen. Anscheinend hat er sich früher einmal damit beschäftigt."

Sie wirkte im Nachhinein noch ein bißchen erstaunt, als sie nach einer kleiner Pause fortfuhr:

"Mich hat überrascht, daß er überhaupt etwas darüber wußte. Ziemlich viel sogar, wie es für mich den Anschein hatte, viel mehr vielleicht, als er zugeben wollte. Zusammengefaßt lautete seine Aussage: 'Wir leben nur einmal.' Das wäre die Lehre seiner Kirche."

Ich wollte gerade sagen, daß ich das erwartet hatte, als Eva weitermachte.

"Ich frage mich jetzt, warum er so betonte, daß das die Lehre der Kirche sei. Vielleicht hätte ich ihn nach seiner persönlichen Meinung fragen sollen. Ob er sie mir gesagt hätte?"

"Meinst du, sie wäre anders als die offizielle Lehrmeinung gewesen?"

"Möglicherweise ja. Dem würde ich's zutrauen." Sie dachte einen Moment nach. "Er machte nämlich eine eigenartige Bemerkung zum Schluß. Er sagte: 'Wenn ich allerdings bedenke, wie chancenlos und daneben so manch ein Leben verläuft, würde ich mir schon wünschen, daß man es nochmals versuchen dürfte. Es wäre irgendwie fairer.'"

"Na bitte", hatte ich auf der Zunge, als mir die Ernsthaftigkeit bewußt wurde, mit der Eva sprach. Es mußte sie mehr berührt haben, als sie selbst wahrgenommen hatte.

"Eigentlich weiß ich jetzt auch nicht mehr als vorher", sagte sie dann, "viel linientreue Ablehnung und ein bißchen versteckte Zustimmung." Sie verzog den Mund, fast wie um zu schmollen. "Jetzt, wo es gerade anfing, mich zu interessieren."

"Vielleicht kann dir etwas weiterhelfen", sagte ich schon unter der Tür stehend. "Schau mal in die Zeitung; da sind ein paar schöne Leserbriefe drin."

Ich war bereits draußen, als sie mir nachrief: "Du tust ja gerade so, als wüßtest du schon mehr."

Ich winkte ihr kurz zu, dann fuhr ich los. Für diesen Tag waren die Termine ziemlich dicht gedrängt, nicht zuletzt wegen der zwei zusätzlichen Besuche und der damit verbundenen Umstellung meiner Route.

 

*

 

Es gelang mir trotzdem, eine leicht verspätete Mittagspause einzuhalten. Ich suchte mir einen ruhigen Waldparkplatz, was ich bei schönem Wetter oft tat. Auf Essen und Trinken verzichtete ich heute, auch auf einen kleinen Spaziergang. Die Ruhe des Waldes und die frische Luft, die durch die geöffnete Türe kam, taten mir gut. Ich hatte mir die Bücher von Max mitgenommen, in denen ich noch nicht gelesen hatte. Eines war dabei, das mich besonders interessierte: Es war ein Buch mit Abhandlungen zu dem Vakuum im theologischen Glaubensgefüge, das mit der Abschaffung der Wiedergeburt entstanden war. Darin wollte ich noch ein bißchen lesen, dann aber mit diesem Teil der Thematik Schluß machen.

Ich spürte, daß es Wichtigeres auf meinem gerade erst begonnenen Weg in die Heimat gab, als sich auf Dauer mit der Entstehung von Ersatz-"Wahrheiten" zu befassen. Zum Erkennen der Knebelung des freien Geistes und zum Aufspüren dogmatischer Fallstricke ja, als Argumentations-Schwert zum Zuschlagen und zu scharfsinnigen oder -züngigen Angriffen, die lediglich nur den Intellekt kurzfristig befriedigten, nein.

Soviel hatte ich von meinem Licht schon gelernt, daß es auf das Tun ankam; ob mit oder ohne Wissen um Verdrehungen, Manipulationen und Machtgelüste spielte schlußendlich keine Rolle. Daran wollte ich mich halten.

Ich entdeckte einiges, von dem ich nicht verstehen konnte, wieso ich so etwas einmal geglaubt hatte. Ich korrigierte mich selbst: Ich hatte es ja gar nicht geglaubt, ich hatte es ja nicht einmal gekannt. Für mich beschränkten sich damals Inhalt und Umfang des Glaubens auf das im Religionsunterricht Gelernte und bei gelegentlichen Kirchenbesuchen Gehörte. So ging es wahrscheinlich den meisten. Mehr erfuhren sie nicht, nach mehr fragten sie nicht. Damit waren sie (ich selbst vor Jahren mit eingeschlossen) wie die Mitglieder eines Vereins, die gutgläubig den Worten des Vorstands lauschten und vertrauten, ohne sich jemals um die Satzungen und Statuten des Vereins zu kümmern - um die hochbrisanten und zum Teil nicht offen zugänglichen Paragraphen. Gerade diese aber entschieden letztlich über Wohl oder Wehe der Mitglieder.

Als ich so in meinem Auto saß und las, fiel mir eine kleine Begebenheit ein, die sich vor Jahren zugetragen hatte. In einem Gespräch mit einem Bekannten hatte ich über die Schritte in meinem Leben gesprochen, die für mich wichtig gewesen waren. Schließlich hatte er zu mir gesagt: "Du denkst zuviel, du hast zu viele Informationen."

"Willst du die gleichen haben?", hatte ich ihn gefragt. Er hatte abwehrend die Hände gehoben und gesagt: "Nein, nein, dann muß ich ja möglicherweise die gleichen Konsequenzen ziehen."

Keiner wird müssen, dachte ich im Rückblick auf die damalige Begegnung. Jeder hat den freien Willen bekommen. Wie Gott aber Seine Kinder jemals wieder zurückbekommen würde bei gleichzeitiger Respektierung ihres freien Willens, das war eines der Rätsel, deren Lösung für mich noch im tiefsten Dunkeln lag. Doch dann besann ich mich, daß ich dieses Problem gut Ihm überlassen konnte. Ich hatte meine eigenen.

Was mir bei der Beschäftigung mit den vielen Dogmen zum Sündenfall, zur Zeugung der Seelen und zur Erbsündenlehre, zu Himmel, Hölle und Jüngstem Gericht, zur ewigen Verdammnis und zur Auferstehung des Fleisches und anderem mehr besonders aufgefallen war, betraf die Tatsache, daß ein großer Teil der verbindlichen Glaubenssätze nur in lateinisch-griechischem Originaltext vorliegt. Das macht das Lesen und Verstehen der Regeln und Normen für den Durchschnittsbürger nahezu unmöglich; er weiß nicht einmal um diese Glaubensvorschriften.

Der kleinere, wohl nicht für so explosiv gehaltene Teil war in deutscher Sprache nachzulesen - falls man sich um die entsprechenden Bücher bemühte. Aber selbst dieser Teil kirchlicher Glaubenslehre brachte mich abwechselnd zum Kopfschütteln, Erstaunen und Erschrecken. Ich vergaß völlig die Warnung des Lichtes vor den Fallen des Hochmuts. Ich las, daß kein Dogma von einem Getauften beharrlich geleugnet oder bezweifelt werden darf, erfuhr von Zweiflern und Leugnern, die sich der Sünde der Häresie (= von der Kirche abweichende Lehre) schuldig machen und von der durch die Tat von selbst eintretenden Exkommunikation.

Als es mir schließlich zuviel wurde, legte ich die Bücher an die Seite. Ich war um einiges an Wissen reicher geworden, doch war ich nun zufriedengestellt? Ohne die Hinweise des Lichtes wäre ich in Gedanken schon längst daran gegangen, zu be- und verurteilen, zu verteufeln, herabzusetzen. Doch selbst mit den mir erteilten Ratschlägen war es mir nicht möglich, den notwendigen inneren Abstand zu wahren, gewissermaßen eine neutrale Haltung einzunehmen.

Vielleicht hatte das, kam es mir in den Sinn, etwas mit fehlender Kraft zu tun. Die vermeintliche Stärke des anderen, war ich belehrt worden, konnte ebensogut durch eine noch nicht bearbeitete Schwäche in mir bedingt sein. Wo aber konnte diese Schwäche liegen?

War es Schwäche, gegen etwas anzugehen, das man als falsch erkannt hatte? Was war mit den Menschen, die auf Grund unzureichender Bildungsmöglichkeiten, fehlender Aufklärung und mangelnder Vorbilder keine Chance hatten, freie Gedanken zu denken und sich entsprechend zu entwickeln? "Gut", sagte ich mir, "du magst vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, die Lehre anprangern (vor wem eigentlich?), was aber ist mit den Menschen? Was ist mit denen, die guten Gewissens mit ihrem Glauben leben, die ihn lehren? Kannst du schon den Menschen von der Sache trennen? Bekommt der Mensch, dein Nächster, nicht automatisch einen Teil deiner Mißbilligung ab?"

Nein, mußte ich zugeben, trennen konnte ich das noch nicht. Doch ich konnte auch nicht einsehen, alles so zu belassen. Wo war die Lösung? Warum war ich überhaupt so an einer Lösung interessiert? Waren es Überreste eines ehemaligen Fanatismus', beginnende Überheblichkeit des Besserwissens oder erste Ansätze von Selbstlosigkeit? Letzteres bezweifelte ich.

Ich schloß für einen Moment die Augen. Von all den Bindungen und Zwängen, den Verboten und Abhängigkeiten wollte ich nichts mehr wissen. Ich sehnte mich nach dem Weg, der mir gezeigt worden war, und wollte und würde auf dem Weg vorangehen, der für mich die Wahrheit war. Ich sehnte mich nach meinem Licht.

Die Stunde, die ich mir selbst als Pause gegeben hatte, war fast um. Ich packte die Bücher wieder ein und machte mich auf den Weg zu meinem nächsten Kunden. Einerseits war ich froh, der Gegenseite ein wenig in die Karten geschaut zu haben, denn - so sagte ich mir - "wer frei werden will, muß erkennen, was ihn fesselt." Andererseits war ich traurig, weil ich ahnte, daß viele Menschen noch auf die Frühlingsboten der Wahrheit warteten und auf einen Gott der unendlichen und bedingungslosen Liebe.

 

*

 

Meine weiteren Besuche zogen sich bis in den Abend hinein. Die Gespräche waren fast alle erfolgreich gewesen; und das nicht nur im Hinblick auf Umsatz, Gewinn und Provision. Das war für mich nie das einzig Entscheidende gewesen. Das Vertiefen von Freundschaften, eine beiderseitige Zufriedenheit, das Lösen von Problemen und das Sammeln von Erfahrungen waren für mich ebenso wichtig. Ich hatte an diesem Nachmittag auf meiner Tour größere Strecken als sonst zurückgelegt. Das hatten die eingeschobenen Termine und die sich daraus ergebenden weiteren Entfernungen zwischen den einzelnen Kunden verursacht.

Es würde später werden, bis ich heute nach Hause käme, dachte ich. Da ich nichts vorhatte an diesem Abend, spielte das keine Rolle. Im Gegenteil: Es gab mir Gelegenheit, während der längeren Fahrtstrecken ein wenig nachzudenken. Das schöne Wetter und die waldreiche Landschaft trugen ihren Teil zu einer inneren und äußeren Entspannung bei.

Alle möglichen und unmöglichen Gedanken gingen mir durch den Kopf. Mal war es eine Gedankenkette, aufeinander aufbauend und sinnvoll, mal waren es einfach Gedankenfetzen, oftmals ausgelöst durch die Landschaft mit ihren Dörfern, durch die ich fuhr. Mein geplanter Urlaub kam mir in den Sinn, das Wochenende mit Anne, die vermutlich notwendig werdende Operation meines linken Hüftgelenkes, die Manipulation der Nachrichten und, und, und ... Ich hatte das Radio eingeschaltet, hörte aber nur mit halbem Ohr hin. Plötzlich drang ein Liedtext in mein Bewußtsein: "Es war einmal eine Liebe, die war ...", dann wurde das Lied ausgeblendet, weil es nur als Übergang zu einem Wortbeitrag diente.

Ich schaltete ganz spontan das Radio aus, weil ich spürte, daß es nützlich sein könnte, ein paar Gedanken darauf zu verwenden. Nicht so viel, daß es die Aufmerksamkeit für den Straßenverkehr beeinträchtigen würde, sondern einfach ein bißchen "laß' es mal kommen, schau'n wir mal, was draus wird." Soviel war mir im selben Augenblick klar geworden, daß es schon eigenartig sein müßte, wenn mir dieser "Zufall" nicht irgend etwas sagen könnte oder wollte, und sei es nur eine Kleinigkeit. Wenn man Zufall im Sinne von "das fällt einem zu" verwenden würde, sagte ich mir, könnte sicher so manch einer eher einen Zugang zu den Zufälligkeiten seines Lebens finden.

Was mich natürlich beschäftigte (vermutlich sehr viel mehr unbewußt als bewußt) war die Frage, ob und wann mein Licht wiederkommen würde. Nicht nur, daß ich mich in den paar Nächten unseres Beisammenseins schon an sein strahlendes Auftreten und seine Nähe gewöhnt hatte, und ich es deshalb vermißte - es war mehr. Das Licht hatte eine Seite meines Wesens, meiner Seele berührt und ein bißchen von dem freigelegt, das darin bisher verschüttet gewesen war. Da wollte etwas hervorkommen, das spürte ich genau. Was mochte es sein? Das beginnende Erkennen der Wahrheit war sicher ein Teil davon. War das aber alles? Formte sich nicht dahinter schon mehr? Vielleicht der Wunsch nach tiefgreifender Veränderung?

Ich war belehrt worden, daß das Herz über dem Verstand steht, die Liebe über dem Wissen. Dafür gab es einen einfachen Beweis: Wissen ergab sich wie von allein immer aus der Liebe, Liebe dagegen niemals von selbst aus dem Wissen.

In den vergangenen Nächten hatte ich diese Liebe verspüren dürfen. ("In Mini-Portionen", dachte ich.) Sie fehlte mir. Ich wollte sie wieder erleben, sie wiederhaben, nie mehr davon lassen müssen. Ich wollte und würde mich nicht mit "Es war einmal eine Liebe ..." abfinden. Ich ... ich ... ich ... und ... wollte ... wollte ... wollte.

Wenn das Erscheinen des Lichtes keine Selbstverständlichkeit war, sagte ich mir, dann mußte ihm eine Regel zugrunde liegen. Ich erinnerte mich plötzlich an das erste Gespräch zwischen Peter und mir. Wenn das Licht nicht wiederkäme, hatten wir herausgearbeitet, dann deshalb nicht, weil es meinen freien Willen akzeptieren würde. Aber ich hatte doch niemals etwas Entsprechendes gesagt! Doch auch ohne Worte kann man etwas zum Ausdruck bringen, fiel mir ein. Zum Beispiel durch die ausgeführte Tat, durch eine Handlung. Und wo, bitte, sollte ich so etwas getan haben?

Den Einschub "bitte" in meinem letzten Gedanken konnte ich nicht mehr verhindern. Es war zu spät für eine gedankliche Korrektur; vielleicht war es sogar gut so. Denn sofort erkannte ich, daß keineswegs Höflichkeit diesem Wort "bitte" zugrundelag, sondern ein trotziges Aufbegehren. Es tat mir in der gleichen Sekunde leid, es tat mir weh. Doch es war passiert ("Gott sei Dank dafür" zu sagen, gelang mir allerdings noch nicht).

Ich war ein bißchen aus der Fassung geraten, gestolpert sozusagen über mich selbst, und hatte den Faden verloren. Ich spürte, daß ich einer möglichen Lösung näher gekommen war. Mehr aber war wohl im Moment nicht drin. Ich schaltete das Radio wieder ein. "... bitte sag' mir, warum?", tönte es mir entgegen. "Das darf doch nicht wahr sein", dachte ich und schaltete wieder ab.

 

*

 

Den letzten Besuch machte ich um kurz nach sechs Uhr, kurz vor sieben Uhr verabschiedete ich mich. Vor mir lag eine knappe Stunde Fahrt. Ich war mit mir wieder im reinen und sah mich schon in meinem Schaukelstuhl sitzen. Vielleicht würde ich noch etwas essen gehen, überlegte ich, dann eine Dusche, dann die Füße hochlegen und ausspannen. An einer Tankstelle sprach mich ein junger Mann an und bat mich, ihn mitzunehmen. Er wollte zu seiner Mutter, die nur einen Häuserblock von mir entfernt wohnte, wie sich herausstellte. Ich nahm ihn selbstverständlich mit; gegen ein wenig Gesellschaft hatte ich nichts einzuwenden.

Beide hatten wir keine Kontaktschwierigkeiten und kamen deshalb schon bald in ein Gespräch. Wir hatten uns vorgestellt. Er hieß Martin und studierte Physik. Damit hatte ich mich zwar nie befaßt, aber mich hatten immer schon unerklärliche Phänomene fasziniert, UFOs, Naturerscheinungen, übersinnliche Wahrnehmungen und so weiter. Wie sich herausstellte, hatten wir da ein gemeinsames Interessensgebiet. Nur war er viel belesener als ich. Außerdem verhalf ihm sein Studium dazu, vieles besser verstehen und erklären zu können.

 

n bezug auf UFOs hatten wir die gleichen Ansichten. Er glaubte wie ich daran. Beide konnten wir natürlich nicht erklären, wie es möglich sein sollte oder könnte, Raum und Zeit zu überbrücken. Die bisher bekannten physikalischen Gesetze ließen eine realistische Annahme dieser Möglichkeit nicht zu. Schneller als mit Lichtgeschwindigkeit, soviel glaubte ich von der Relativitätstheorie verstanden zu haben, konnte man nicht fliegen - ganz abgesehen von den dann auftretenden Verschiebungen im Zeitgefüge. Wollte bzw. konnte man also tatsächlich kosmische Entfernungen überwinden, mußte man zwangsläufig andere Fähigkeiten entwickelt haben.

Unvermittelt fragte mein Beifahrer: "Kennen Sie die Geschichte aus der Bibel, in der Jesus Wasser in Wein umgewandelt hat?"

Ich stutzte, weil ich keinen direkten Zusammenhang sah. Martin hatte damit anscheinend keine Schwierigkeiten.

"Es muß da einen Zusammenhang geben", fuhr er fort. "Dieser Jesus war offensichtlich in der Lage, Wunder zu vollbringen. Nur glaube ich nicht, daß es Wunder waren, weil es in meinen Augen keine gibt. Ich glaube vielmehr, daß Wunder Abläufe sind, die auf Gesetzmäßigkeiten beruhen, die der Normalsterbliche nicht kennt."

Ich schwieg, es wurde interessant. Seinen Gedankengang wollte ich nicht unterbrechen.

"Wenn wir diese uns jetzt noch unbekannten Gesetze einmal entdeckt haben und damit umgehen können, werden die Wunder Wirklichkeit, alltägliches und immer wieder nachvollziehbares Geschehen."

"Aber dann werden neue 'Wunder' auftauchen, weil für uns nach wie vor viele - vermutlich die meisten - Wirkungsmechanismen und Zusammenhänge noch im Dunkeln liegen."

"Richtig." Er nickte. "Doch je weiter wir uns entwickeln, um so mehr werden wir verstehen und auch umsetzen können. Geistig entwickeln, meine ich, nicht nur technisch."

Ich registrierte überrascht den für mich erstaunlichen Tiefgang, den ich bei einem so jungen Menschen nicht erwartet hatte.

"Was hat jetzt das Wasser-und-Wein-Wunder deines Erachtens damit zu tun?" wollte ich wissen.

"Dieser Jesus war weiter entwickelt als die anderen Menschen. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, ist auch egal. Ich denke mir", er zuckte mit den Schultern, "vielleicht habe ich auch unrecht, daß bei diesem sogenannten Wunder eine Energieumwandlung erfolgt ist. In jedem Fall muß meiner Meinung nach eine Art geistiger Eingriff in die Materie vorgenommen worden sein. Oder so etwas ähnliches."

Ich spürte deutlich, daß er von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugt war, auch wenn er Schwierigkeiten hatte, sie zu begründen.

"Ist das möglich, ich meine, daß der Geist die Materie beherrscht?"

Er grinste. "Zu einem angehenden Wissenschaftler paßt das eigentlich nicht, doch ich glaube daran. Denn schließlich ist Materie nichts anderes als Energie. Und geistige Energie müßte in der Lage sein, materielle Energie zu beherrschen."

Langsam wurde es mir zu kompliziert. Auf was hatte ich mich da eingelassen?

"Um auf die UFOs zurückzukommen ...", sagte ich.

"Ja, richtig, genau das meine ich. Auch hier muß ein anderes Prinzip wirken als die bisher bekannten. Vielleicht sind andere Wesen, die weiter entwickelt sind als wir, in der Lage, ebenfalls die Materie zu beherrschen. Und zwar so zu beherrschen, daß sie sie nicht zerstören müssen, um etwas Neues daraus zu bauen oder zu schaffen, sondern daß sie sie ...", er suchte nach Worten, "... auflösen und anders wieder zusammensetzen. Dann würden Raum und Zeit ihre Dominanz verlieren."

Er war in seinem Element und erzählte mir von Versuchen, bei denen durch Beschleunigung kleinster Materieteilchen ein Punkt erreicht wurde, bei dem sich Materie - wenn auch nur für Bruchteile von Sekunden - in reine Energie umwandeln ließ und dann wieder zurück in Materie. So verstand ich ihn wenigstens. Dem Augenschein nach verschwand die Materie in einem Moment spurlos, um im nächsten in ihrer neuen Gestalt als Energie aufzutauchen. Und umgekehrt.

Martin erzählte mir weiter, daß sich seiner Ansicht nach die Wissenschaft in einer ganz ähnlichen Situation befände wie die des Mittelalters, "... noch genauso in den Kinderschuhen wie damals, gemessen an dem, was wir noch nicht wissen."

"Und das willst du ändern?", fragte ich neckend und doch gleichzeitig ernstgemeint, weil ich das jugendliche Engagement hinter seinen Worten verspürte.

"Wenn ich kann", grinste er. "Was ich jetzt schon kann, ist meinen Kopf zu gebrauchen."

"Und das bedeutet für dich ...?" Jetzt war ich neugierig geworden.

Er machte eine kleine Pause.

"Ich denke immer, man müßte den Dingen auch anders auf den Grund gehen können, als durch Studieren und Experimentieren. Manchmal helfen ein paar Schlußfolgerungen mehr als monate- oder jahrelange Versuche." Er schaute mich an. "Das habe ich gemeint."

Mir war, als hätte ich einen Gleichgesinnten, einen Verbündeten gefunden. "Jetzt sind wir schon zu zweit", dachte ich.

"Etwas geht mir seit langem nicht aus dem Kopf", begann mein Beifahrer nach einer Weile von neuem. Er sprach zögernd, als würde er überlegen, ob er mir seine Gedanken anvertrauen könnte. Schließlich war ich ein Fremder; vielleicht glaubte er auch, sich lächerlich zu machen.

"Nur Mut", sagte ich.

Wieder eine Pause. Dann rückte er damit heraus: "Ich glaube, ich habe den Beweis für ein Leben nach dem Tod gefunden."

 

*

 

Für eine Weile schwiegen wir. Er, weil ihn seine Aussage gegenüber einem Fremden vielleicht selbst erschreckt hatte; ich, weil ich innerlich zusammengezuckt war und im Moment auch nicht wußte, was ich sagen sollte. Denn alles hätte ich an diesem Abend erwartet, nur nicht einen solchen Satz von einem Anhalter in meinem Auto.

Wir näherten uns langsam der Stadtgrenze. Das war kein Grund, unser Gespräch jetzt schon zu beenden. Noch hatten wir ein paar Minuten, "wenn's sein muß, auch noch mehr", dachte ich.

Damit er nicht auf den Gedanken käme, er hätte mich damit schockiert (was ja auch nicht der Fall war, höchstens überrascht), und weil ich es wirklich wissen wollte, fragte ich ihn: "Wie bist du zu dieser Überzeugung gekommen?"

Er war inzwischen wieder in seiner Mitte eingekehrt. "Ich meine natürlich, daß ich ihn nur für mich gefunden habe. Kein anderer würde das als Beweis anerkennen. Eigentlich geht es auch keinen etwas an; man kann ja auch mit keinem Menschen darüber reden. Aber weil wir hier so miteinander gesprochen haben, dachte ich ..."

Ich ließ ihn in Ruhe. Er sprach weiter.

"Vor Monaten ist mein Vater gestorben. Ich habe ihn sehr gemocht, Mutter natürlich auch. Sie hätte Hilfe und Trost gebraucht. Ich konnte ihr nicht viel davon geben, weil ich selbst am Boden war." Wir waren inzwischen in der Stadt. Er nahm das kaum wahr. "Eines Tages las ich etwas über ein Leben nach dem Tod. Das machte mich neugierig. Ich wollte mehr wissen. Alles, was ich las, war zwar irgendwie beruhigend, aber mir fehlte etwas. Der Wissenschaftler in mir wollte mehr wissen, nach Möglichkeit Beweise sehen." Jetzt lächelte er: "Dabei bin ich noch gar keiner. Aber dann habe ich mich an was erinnert."

Fragend schaute er mich an. "Können Sie sich vorstellen, was das war?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Ich erinnerte mich an ein physikalisches Gesetz, nachdem es unmöglich ist, daß Energie verlorengehen kann. Anders ausgedrückt: Man kann Energie nicht vernichten. Verstehen Sie?"

Ich verstand noch nicht viel. Inzwischen waren wir vor dem Haus seiner Mutter angekommen.

"Es ist ganz einfach", belehrte er mich. "Man kann Energie wohl umwandeln, aber niemals vernichten. Aus Eis wird Wasser, aus Wasser wird Wasserdampf, und dieser löst sich schließlich auf und verflüchtigt sich für das Auge. Ergo: Das Eis existiert nicht mehr, es ist verlorengegangen, vernichtet. Oder?"

Jetzt war das jugendliche Grinsen wieder in seinem Gesicht.

"Nichts ist vernichtet. Das Eis hat eine andere Form angenommen und ist zu Wasser geworden. Das Wasser hat eine andere Form angenommen und ist zu Dampf geworden. Der Dampf hat sich in Feuchtigkeitstropfen von Molekülgröße verwandelt, die nicht mehr sichtbar sind. Aber alles ist noch da, nur in einer anderen Beschaffenheit. Nichts ist vernichtet."

Er hielt inne. Jetzt erst schien ihm aufzufallen, daß wir bereits geparkt hatten. Er warf einen Blick auf seine Uhr.

"Es ist spät geworden. Danke, daß Sie mich mitgenommen haben."

Ich wartete immer noch auf die Auflösung.

"Verstehen Sie jetzt?"

"Ich glaube schon", sagte ich zögernd. Schließlich wollte ich nicht den Anschein erwecken, als sei ich schwer von Begriff. Würde er mir helfen, das letzte, noch fehlende Glied in der Kette zu erkennen? Das meiste hatte ich ja begriffen. Meine zögernde Antwort hatte ihn erkennen lassen, daß es bei mir zum letzten Durchblick noch nicht reichte.

"Es ist unmöglich, Energie zu vernichten. Man kann sie nur umwandeln. Sie verändert dabei ihre Form, aber ihr 'Inhalt' bleibt der gleiche. Deshalb habe ich darin für mich den Beweis dafür gefunden, daß es keinen Tod gibt. Mir ist natürlich klar, daß dieser 'Beweis' einer strengen wissenschaftlichen Prüfung nicht standhält. Aber das ist eben meine Art, an die Sache heranzugehen, wenn ich anders nicht weiterkomme. Deshalb glaube ich an ein Leben nach dem Tod", eine kleine Pause, wie um das Ganze spannender zu machen, "weil nämlich Leben nichts anderes als Energie ist."

"Und Energie kann nicht vernichtet werden", wiederholte ich.

"Genau", sagte er beim Aussteigen, "nur verändert. Genau wie Materie." Er nahm seinen Rucksack vom Rücksitz und gab mir die Hand. "Sonst mache ich das eigentlich nicht, daß ich so viel von mir erzähle. Wir kennen uns ja kaum." Fast entschuldigend sagte er das; anscheinend wunderte er sich über sich selbst. "Dennoch, es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten. Wenn wir uns nicht zufällig an der Tankstelle getroffen hätten ..."

"Ja", sage ich, "Zufälle gibt's."