Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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11. Gott tritt nicht als Gläubiger auf

 

In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Vieles aus dem Tag war mir noch durch den Kopf gegangen, ehe ich in den Schlaf gefunden hatte. Plötzlich stand ich vor einem Gebäude, über dessen Tür eine blinkende Neon-Schrift zum Eintritt aufforderte. "Entwicklungs-Museum" las ich. Eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, bat mich herein. Wie von Geisterhand öffneten sich die Türen; ich trat ein und befand mich in einer Halle mit riesigen Ausmaßen.

Überall waren Behälter aufgestellt, angefangen von Kästen in Zigarrenkistengröße bis hin zu Containern, die bis fast zur Decke reichten. Während ich noch da stand und nicht recht wußte, was ich nun tun sollte, setzte sich einer der Behälter in Bewegung und kam direkt auf mich zugerollt. Er hatte etwa die Größe eines Kinderwagens. Während er auf mich zukam, wurden seine Seitenwände durchsichtig, und ich hatte den Eindruck, plötzlich vor etwas Ähnlichem wie einem Aquarium ohne Wasser zu stehen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, daß sich Menschen darin bewegten: große und kleine, junge und alte, weiße und farbige - ein kunterbuntes Gemisch. Die Landschaft ähnelte der, wie man sie bei Miniatur-Eisenbahnen antrifft. Alles war vorhanden: Häuser, Fabriken, Büros, Geschäfte, Post, Bahnhof, Kirche, Schule, Gasthäuser und vieles mehr.

"Wir haben versucht, in unserem Museum eine Schule des Bewußtseins nachzubauen; hier zum Beispiel einen ganz normalen Alltag", sagte die körperlose Stimme. "Sie haben sicher schon davon gehört." Hatte ich?

"Wenn nicht, erkläre ich es Ihnen kurz. Die Grundschule und die weiterführenden Schulen sind hinlänglich bekannt. Dort lernt der Mensch fürs Leben, für seinen künftigen Beruf. Weniger bekannt", die Stimme nahm einen bedauernden Unterton an, "ist die Tatsache, daß auch das Bewußtsein des Menschen eine Entwicklung durchmacht. Sie reicht von egozentrisch und auf die primitiven Bedürfnisse fixiert bis hin zum Anstreben sittlich hochstehender, ja selbstloser Ziele."

Der Behälter entfernte sich, während seine Wände wieder undurchsichtig wurden. Kaum hatte er seinen Platz eingenommen, rollte der nächste auf mich zu. Als ich durch die Wände schauen konnte, erkannte ich einen Spielplatz, auf dem allerdings nur Erwachsene herumtollten. Viele von ihnen waren gut gekleidet, teilweise sogar in Abendgarderobe; alle beschäftigten sich mit Spielen unterschiedlichster Art, angefangen von Burgenbauen über Fang-mich-doch bis zu Ball- und Versteckspielen.

Der Behälter rollte fort, es kam der nächste. In seinem Mittelpunkt stand die verkleinerte Ausgabe einer Universität, und während es aus einem Lautsprecher in ständiger Wiederholung ertönte "Wissen ist Macht", strömte eine unübersehbare Schar von Menschen auf die Türen zu und verschwand in dem Gebäude. Ich überlegte gerade, was sich darin wohl abspielen würde, als ein freundlicher Herr auf mich zutrat und sagte: "Treten Sie doch ein." Im nächsten Augenblick schon wohnte ich der Verleihung irgendeiner Auszeichnung bei, die in Form eines vergoldeten Lorbeerkranzes dem Preisträger über das Haupt gehalten wurde und dann, wie von Zauberhand gehalten, schwebend an seinem Platz blieb.

Während ich noch staunend schaute, hob mich eine Hand in den nächsten Behälter, mitten in eine religiöse Feier hinein. "Kult- und ritenfeie Zone" las ich auf einem Transparent, das von der Decke hing. Um mich herum sah ich viele andächtige Gesichter. Ernsthaftes Beten wechselte sich ab mit freudigen Gesängen, liebevollen geistigen Hilfen, Lachen, Tanz und meditativer Stille. Während die Anwesenden sich schließlich tiefer und tiefer versenkten, schrumpften sie gleichzeitig und lösten sich, als sie nur noch ein Punkt waren, auf. Im selben Moment entstanden sie neu an ihren Arbeitsplätzen. Ich war überrascht, was und wen ich alles sah: einen muslimischen Lehrer, eine jüdische Ärztin, zwei chinesische Krankenpfleger, einen behinderten Gärtner, einen Manager, einen schwarzen Leichtathleten, eine Nonne, einen Bergführer, einen orthodoxen Priester, ja sogar einen Bischof. Als ich auf Letzteren zugehen und ihn fragen wollte, wie es möglich sei, daß Menschen so unterschiedlicher Nationalitäten, Religionszugehörigkeiten, Berufe und Interessen gemeinsam beten und singen können, verschwand der Behälter. Ich stand wieder allein inmitten der großen Halle.

"Die meisten unserer Besucher verstehen nicht sofort", ertönte wieder die Stimme aus dem Nichts. "Dabei ist es doch so einfach; denken Sie immer nur an die Schuljahre, die Sie durchschritten haben. So können Sie nie etwas falsch verstehen oder falsch machen."

Ein Behälter, der mir bis zum Bauch reichte, kam auf mich zu. Da die Wände nicht durchsichtig wurden, hob ich den Deckel an.

"Ach ja, beinahe hätte ich etwas vergessen. Entschuldigen Sie. Als Museumsdirektor obliegt mir die Aufgabe, darauf zu achten, daß keiner unserer Besucher sich an unseren Schülern vergreift. Sie wissen nicht, was ich meine? Schauen Sie, auch die Erwachsenen sind hier Schüler. Sie bleiben es so lange, bis sie uns verlassen. Wenn unsere Besucher sehen, daß zum Beispiel ein älterer, gestandener Herr noch traumverloren im Sandkasten spielt, nehmen Sie oftmals die Figur heraus, weil sie sich in ihren Augen im falschen Behälter befindet. Sie glauben, unserem Schüler einen Gefallen zu tun, wenn sie ihn in den Behälter setzen, den sie für richtig halten."

Die Stimme wurde streng. "Tun Sie das nie! Sie würden das ganze System durcheinanderbringen. Der Schüler würde vielleicht Schaden erleiden, und wir müßten Sie leider aus dem Museum verweisen. Regreßansprüche, das werden Sie verstehen, müßten wir uns vorbehalten.

Ansonsten haben Sie die Freiheit, sich bei uns anzuschauen, was immer Sie wollen. Schauen Sie, schauen Sie. Und denken Sie immer daran: Unsere Schüler haben ebenfalls die Freiheit, die absolute Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie mögen; sie können hingehen und bleiben, wo immer es ihnen gefällt. Ich wünsche Ihnen schöne Stunden. Schauen Sie, schauen Sie ..."

Ich kam dieser Aufforderung gerne nach. Den Deckel des vor mir stehenden Behälters nahm ich ganz herunter, legte ihn auf den Boden und beugte mich dann über den Rand, um sehen zu können, was sich dort für eine Klasse des Bewußtseins aufhielt.

Ich hörte ohrenbetäubendes Geschrei und Gezeter und sah viele Menschen, die mit Kostümen in schrillsten Farben herumliefen. Sie schlugen sich mit Fliegenpatschen die Papiermützen von den Köpfen, sprangen sich hinterrücks an, stießen sich um, lachten die Hingefallenen aus. Sie waren voller Spott und Tücke und machten einen Heidenlärm. Es war kaum auszuhalten.

"Spinnen die?", dachte ich und beugte mich tiefer.

"Willst du was?", rief einer zu mir hoch und machte mir eine lange Nase.

"Seid ihr noch ganz sauber?", schrie ich. "Habt ihr nichts Besseres zu tun?"

"Lauter, ich versteh' dich nicht."

Ich hatte schon so laut geschrien, wie ich konnte. "Dann hört doch mit eurem Krach auf! Das hält ja kein Mensch aus. Wenn ihr leiser wäret, könntet ihr mich auch verstehen."

"Sprich lauter oder komm näher, wenn du was Wichtiges hast, alter Sauertopf."

Ich beugte mich noch tiefer in den Behälter und rief so laut ich konnte: "Es gibt Wichtigeres auf dieser Welt, ihr Tagediebe. Euch müßte man Ordnung beibringen. Ruhe, wenn ich ..."

Weiter kam ich nicht, weil ich das Übergewicht verlor und in den Behälter fiel. Ich spürte noch, wie mir jemand eine Pappnase aufsetzte; dann verschwamm das Bild und ich erwachte.

Ich lag eine Weile da, ehe ich wieder einschlafen konnte. Selten hatte ich einen Traum von dieser Klarheit gehabt, der mir auch noch nach dem Aufwachen gegenwärtig war. Viel gab es nicht an der Symbolik herumzudeuteln, dafür war die Sprache zu klar. Mit dem Kopf begann ich zu verstehen. Das Herz würde folgen.

 

*

 

Auch in dieser Nacht begegnete mir das Licht nicht. Ich konnte und wollte mich nicht mehr einfach mit dem Gedanken abfinden, daß es dafür schon Gründe geben würde. Sicher war es richtig, nichts zu erwarten und eine Situation auch einmal zu akzeptieren - immer vorausgesetzt, daß man nichts dazu beitragen konnte, sie zu verändern. Konnte ich das aber wirklich nicht?

Der Vormittag verlief ohne Besonderheiten. Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, doch zwischen den Besuchen tauchte in meinen Gedanken immer wieder die Frage nach dem "Warum?" auf. "Hilfe, wenn Ihr Fernseher ...", las ich im Vorbeifahren an einem Elektrogeschäft. Das Wort Hilfe, rot und in großen Buchstaben geschrieben, sprang mir förmlich ins Auge. Den Rest las ich kaum. "Die könnte ich auch gebrauchen", dachte ich. Sie müßte ja nicht sehr groß sein, ein kleiner Hinweis würde schon genügen.

Ich stand inzwischen vor einer roten Ampel. Schulkinder liefen über den Zebrastreifen, drei Nachzügler folgten in einem kurzen Abstand. Es waren zwei Mädchen, die ausgelassen versuchten, einen kleinen Jungen in die Mitte zu nehmen und an den Händen zu fassen. Diesem schien das aus irgendwelchen Gründen nicht zu behagen. Sie hüpften, so gut es ihnen gelang, mit dem Kleinen über die Straße und riefen:

"Willi ist der Größte, Willi ist der Größte."

Als die drei auf der anderen Straßenseite waren, machte der Bub sich frei, zeigte ihnen einen Vogel und lief davon. Die beiden Mädchen lachten ihm nach.

Hinter mir hupte es; ein Blick auf die Ampel zeigte mir, daß es grün geworden war. Ich fuhr los. "Willi ist der Größte", schallte es in meinem Kopf, "Willi ist der Größte."

Das Wetter ließ einen Spaziergang zu. Deshalb parkte ich in der Mittagspause meinen Wagen an einem Waldrand und machte mich auf den Weg. Das Bild der fröhlichen Kinder stand mir plötzlich vor Augen.

"Kinder ist falsch", korrigierte ich mich, "Mädchen ist richtig. Der kleine Willi war nicht so fröhlich." Mir fiel der Willi von der Parkbank ein, der auch keinen fröhlichen Eindruck gemacht hatte. Wie es dem jetzt wohl ging?

Ganz plötzlich hatte ich ein unbehagliches Gefühl. Es schien keinen vernünftigen Grund dafür zu geben, und dennoch: Etwas hatte mich unruhig gemacht. Ich versuchte, die Empfindung beiseite zu schieben. Es hatte sich doch nichts verändert. Kein Gewitter kündigte sich an, kein Termin war vergessen worden, alles war in bester Ordnung.

Dann erinnerte ich mich daran, daß ich mir vor Jahren einmal vorgenommen hatte, mir nichts vorzumachen. Natürlich wäre es am besten gewesen, niemanden etwas vorzumachen. Das empfand ich aber doch als zu schwierig. "Dann mach' wenigstens dir selbst nichts vor", hatte ich mir damals versprochen. Schließlich wollte ich mich im Laufe meiner Lebensjahre immer besser kennenlernen - "so viel bist du dir schuldig", hatte ich mir gesagt -, und ohne Ehrlichkeit, zumindest zu mir selbst, schien mir das nicht möglich.

Nicht immer hatte ich mich an meinen Vorsatz gehalten. Jetzt aber, das fühlte ich, war es an der Zeit, in mich hineinzuspüren. Dieses komische Gefühl wollte mir etwas sagen. "Was wird das wohl Wichtiges sein?", dachte ich leicht skeptisch und neugierig und irgendwie kleinmütig zugleich.

Ich entschied mich dagegen, das einladende Angebot einer Bank anzunehmen. Mit Bänken hatte ich in den letzten Tagen schlechte Erfahrungen gemacht.

Vielleicht waren sie gar nicht so schlecht.

Diesmal verzichtete ich darauf, mich umzudrehen. Ich wußte, daß ich allein war, mußte mich davon nicht erst überzeugen. Ich ignorierte also den Einwurf und setzte meinen Spaziergang fort.

Wo war ich stehen geblieben? Vielleicht ließe sich von dort aus meine Unruhe aufrollen. Kinder - Willi ist der Größte - Wie es Willi, dem Penner, geht, der "meine Kreise" gestört hatte ...

"Au", rief ich, und ehe ich mich versah, saß ich auf dem Boden, eine Hand in einer Pfütze. Ich hatte in meiner Unachtsamkeit auf dem unebenen Waldboden eine Wurzel nicht beachtet und war beim Darauftreten umgeknickt. Ich rieb, auf dem Boden sitzend, meinen linken Knöchel und stellte fest, daß der Fuß Gott sei Dank nur verstaucht war. Das war nicht weiter schlimm, schlimmer war ein verschmutztes Jackett. Ich würde es trocknen lassen müssen, um es dann bei einem Kunden im Laufe des Nachmittags sauber machen zu können.

Ich schaute mich um, die Bank lud immer noch ein. Also humpelte ich die paar Meter zurück und ließ mich auf ihr nieder.

"Alter Penner", sagte ich zu mir, "konntest du nicht besser aufpassen?"

Penner, Penner, Penner ... hallte es in meinem Kopf nach. Ich schreckte zusammen - und wurde still, ganz still. Mir war, als würde ich minutenlang nicht denken. Ich saß da, verzog schließlich den Mund und begann, als meine Gedanken sich nach und nach formten, mich mehr und mehr zu schämen.

Zu Anfang war ich noch versucht, Entschuldigungen für mich zu finden, dann ging ich zu Erklärungen über, schließlich "hörte" ich mir nur noch zu. Wenn man mit sich selbst ins Gebet geht, so hat dies - das war meine Erfahrung - zwei Seiten. Die schlechte ist, daß es meistens tiefer geht und für das Ego schmerzlicher ist, als wenn jemand anderes das mit einem macht; die gute ist, daß es keiner erfährt.

Ich ließ zu, daß es tief ging, ich wollte etwas lernen. Ich sollte etwas lernen - soviel war mir schon klar geworden. Meine Kreise hatte er gestört, dieser Willi. Hatte er ein Recht dazu? Gut, es konnte ihm keiner verbieten. Mußte ich es mir gefallen lassen? War es eigentlich so schlimm, was ich mir hatte gefallen lassen müssen? Zweimal nein. Aber hätte es keine andere Lösung gegeben? War meine Reaktion überhaupt die einzig mögliche, oder war es die einzige, die mir möglich war? An diesem Wortspiel blieb ich hängen: Es war die einzige, die sich mir an diesem Nachmittag anbot. Warum? Kannte ich nur diese eine? Standen mir keine anderen zur Verfügung? Wenn ja, warum nicht? Hätte ich andere Möglichkeiten wählen sollen?

"Mach' weiter", sagte ich mir, "du willst es doch 'rauskriegen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Oder noch besser", einen Rest meines Humors hatte ich mir anscheinend bewahrt, "wo ein Willi ist, ist auch ein Weg."

Er hatte mich geärgert. Wieso eigentlich? Weil ich in einem für mich wichtigen Prozeß der Erkenntnis - nein, Korrektur: Wissensbildung - war. Warum konnte er mich ärgern? Weil er mich laufend gestört hat. Wiederholung der Frage: Warum konnte er mich ärgern? Wiederholung der Antwort: Weil er mich laufend ... falsch. Richtig: Weil er in mir eine Saite zum Klingen gebracht hatte, die eine andere Reaktion als die des Ärgers nicht zuließ. Schon besser. Warum war ich nicht in der Lage, mit dieser Störung anders als gehabt umzugehen? Gegenfrage: Kann man denn anders damit umgehen? War denn meine Reaktion nicht normal, war sie nicht menschlich-verständlich?

An diesem Punkt nahm ich mir vor, mein Licht bei Gelegenheit danach zu fragen. Ich fand keine zufriedenstellende Antwort darauf, ob ein aufsteigender Ärger, der durch eine Situation praktisch hervorgerufen werden mußte, nicht beinahe zwingend normal war. Ich konnte allerdings einsehen, daß dies bei mir nicht unbedingt der Fall gewesen war, und ich die Situation durchaus hätte anders lösen können, wenn ich mich nur ein wenig in Willi hineingefühlt hätte.

Das war es, was mir weh tat. Ich hatte in meinem Wunsch - sag' ruhig Drang - also gut, in meinem Drang nach weiteren Informationen das Naheliegende übersehen. Neben mir hatte ein Mensch gesessen, der mir auf seine Art etwas hatte mitteilen wollen. Der mich - nicht nur vielleicht, sondern bestimmt - gebraucht hätte. Wäre ich nicht so völlig auf mich bezogen gewesen, hätte ich seinen Hilfeschrei gehört und ihm etwas sagen, etwas mitgeben können, das ihm geholfen hätte. Nun war der Spieß umgedreht worden, und mir war etwas mitgegeben worden. Ich hatte was mitbekommen, noch besser "abbekommen", dachte ich.

In den zurückliegenden Nächten war mir etwas geschenkt worden. Ich hatte die Liebe erfahren, ich wollte sie vertiefen, wollte sie verstehen lernen - und hatte sie vergessen, sobald ich aus meinem Elfenbeinturm ins Leben hinausgetreten war. Mir fiel ein, irgendwann und irgendwo einmal gelesen zu haben: Der Weg zu Gott führt über deinen Nächsten.

Ich saß noch eine ganze Weile da, das Unbehagen und die Unruhe hatten nachgelassen, wahrscheinlich durch die Erkenntnis der letzten halben Stunde und den Vorsatz, nicht so schnell auf meinem Weg zum Verstehen aufzugeben.

"Wagen wir's erneut", sagte ich laut zu mir. Im Inneren sagte ich es zu uns, weil ich wußte, daß es eine Kraft gab, die mir dabei helfen würde. Dann stand ich auf und stellte fest, daß ich ganz gut auf meinem linken Fuß stehen und gehen konnte. Als ich meinen schmutzigen Anzug betrachtete, dachte ich: "Ferdinand, du siehst aus, wie ein
Pen ..."

 

*

 

Ich nehme dich in meinen Frieden auf.

Mein Licht war da. Vielleicht jubelte ich vor Freude; ich weiß es nicht mehr genau. Auf jeden Fall tat ich etwas für mich Erstmaliges: Ich neigte - leicht, aber immerhin erkennbar - meinen Kopf in Dankbarkeit.

Du brauchst nicht m i r zu danken, dich auch nicht vor m i r
zu verneigen. Kein Wesen des Himmels nimmt entgegen, was einzig und allein Gott gebührt. Doch ich verstehe, was du mit deiner Geste ausdrücken willst. Das geistige Wesen in dir neigt sich vor seinem Schöpfer, weil es Seine Liebe und Macht seit Ewigkeiten kennt. Dein Mensch folgt diesem Beispiel zögernd. Lasse dich in deinem Tun nicht beirren, auch wenn die ersten Schritte klein sind und vorsichtig gesetzt werden.

Wenn du Ihm deine Liebe zeigen, für Seine Liebe danken willst, dann tu' es direkt. Gehe zu Ihm. Er wohnt i n d i r .

Mir fiel ein, daß Jesus von Nazareth gesagt hatte, der Mensch sei der Tempel des Heiligen Geistes. Ob damit das gleiche gemeint war? Ich würde es erfahren.

"Ich habe dich vermißt", sagte ich.

Ich weiß es, weil ich bei dir war. Ich habe dein Nachdenken und deine Suche nach dem Grund meines Ausbleibens nicht nur erlebt; ich habe sie, soweit mir das möglich war, gefördert. Oder glaubst du noch an den Zufall?

Da die Frage unmöglich ernstgemeint sein konnte, schwieg ich.

Ich war stets in deiner Nähe. Was du als mein Ausbleiben oder Fernsein wahrgenommen hast, spielte sich nur in dir ab. Dein Bewußtsein hatte sich verändert, du selbst hattest es gegen besseres Wissen unter Einsatz deines freien Willens eingeschränkt. Damit warst du nicht mehr in der Lage, mich wahrzunehmen. Dein Seelenlicht hatte sich verringert, so daß mein Licht nicht mehr zu dir durchdringen konnte. Kannst du das verstehen?

Und ob ich das konnte. Ich brauchte mich nur an den traurigen und hilflosen Ausdruck in Willis Augen zu erinnern, als ich ihm kraft meiner gesellschaftlichen und intellektuellen Überlegenheit klarmachte, daß ich Wichtigeres zu tun hatte, als mit ihm auf einer Bank zu sitzen. Doch etwas beschäftigte mich noch.

"Dann war es keine Strafe? Nicht so eine Art 'Beugeversuch', um mich zur Besserung zu ...", ich überlegte, "... nötigen?" Zwingen wollte ich nun doch nicht sagen; zwingen konnte mit göttlicher Liebe und freiem Willen nicht vereinbar sein. Aber ein bißchen Druck, gerade so viel, daß der Mensch wenigstens in die richtige Richtung geht? Auf jeden Fall waren zu diesem Punkt noch viele Fragen offen.

Deine Vorstellung von Gott und der Größe Seiner Liebe entspricht - um es mit euren Worten auszudrücken - in etwa der Entwicklung eines Kindes im Vorschulalter, gemessen an seinen späteren Fähigkeiten ...

Da war sie wieder, die Liebe, die ich so vermißt hatte! Ich wollte gerade einwerfen, daß ich damit doch nur die allgemeine und weitverbreitete Meinung wiedergegeben hätte, als mein Licht fortfuhr.

Du wolltest deinen Verstand gebrauchen. Versuche es.

Ich war also wieder gefordert. "Aus deiner Antwort entnehme ich, daß es so, wie die Menschen es üblicherweise sehen, nicht sein kann. Ich kann es mir aber auch noch nicht erklären, obwohl ich hier den Widerspruch zwischen unendlicher Liebe auf der einen Seite und dem Leid überall auf der Welt auf der anderen Seite sehe. Liebe und Leid sind nicht vereinbar, es sei denn, man einigt sich auf die Ansicht, 'daß Gott den straft, den Er liebt', wie ich es gelesen habe. Das aber ist für mich völlig indiskutabel."

Ich machte eine Pause in der Hoffnung, das Licht würde den Faden aufnehmen und weiterführen. Doch es schwieg. Also machte ich weiter.

"Da das Leid aber in der Welt ist, muß es, wenn es nicht von Gott als Strafe kommt oder von Ihm zur Besserung geschickt worden ist, aus einer anderen Quelle kommen bzw. eine andere Ursache haben. Richtig?"

Schweigen. Ich begriff wieder, daß ich dort nicht unterstützt werden würde, wo mir eigenes Denken möglich war. Vor folgenschweren Fehlschlüssen würde ich bewahrt bleiben - es sei denn, sie dienten mir in abgeschwächter Form zur weiteren Erkenntnis und Reifung. "Eigentlich ist es wie beim Laufenlernen", dachte ich. "Keinem Kind ist damit gedient, bei jedem neuen Schritt sofort wieder die rettende Hand ergreifen zu können. Zumindest dann nicht, wenn die Beinchen und das Gleichgewichtsempfinden schon etwas entwickelt sind."

Wie stark sind deine Beine schon? Und vergiß nicht: Es gilt, auch ein inneres Gleichgewicht zu erlangen.

"Ich will mir Mühe geben", sagte ich. Mein letzter Satz hatte mit der Formulierung "... bzw. eine andere Ursache haben" geendet. Hier nahm ich den Gedanken wieder auf. "Du hast mich über das Gesetz von Ursache und Wirkung belehrt. Inzwischen habe ich auch gelesen, daß schon Aristoteles dieses Prinzip, das auch unter dem Begriff 'Kausalgesetz' bekannt ist, gelehrt hat. Es wurde seitdem immer wieder aufgegriffen und tiefer erkannt."

Jeder Mensch setzt, solange er lebt, große und kleine Ursachen. Es sind die Verstöße, die sich gegen das Liebegebot richten. Und jeder Mensch verspürt ihre Wirkungen, sofern sie nicht rechtzeitig ganz oder teilweise aufgehoben werden.

Das Licht bemerkte meinen fragenden Blick bei dem Wort "rechtzeitig".

Es ist unmöglich, daß dein Bewußtsein die Zusammenhänge in ihrer tatsächlichen Größe und Komplexität erfassen kann. Und dennoch sind sie so klar und logisch und gleichzeitig in ihrem Zusammenwirken so einfach. Darin liegt ihre Genialität. Die menschliche Sprache ist kaum geeignet, mehr als nur andeutungsweise und symbolhaft göttliche Gesetzmäßigkeiten auszudrücken.

Nicht als Herabwürdigung, sondern um mir die leider bestehende Tatsache meines begrifflichen, menschlichen Unvermögens zu verdeutlichen, sagte das Licht unvermittelt:

Was fängst du an mit der Aussage, daß Gott nicht nur Vater, sondern gleichzeitig auch Mutter ist?

Ich fing gar nicht erst an, darüber ernsthaft nachzudenken, sondern sagte schlicht und ehrlich: "Nichts." Daraufhin war für eine Weile Stille. Das Licht ließ mir Zeit, meine Empfindungen und Gedanken zu sammeln. Schließlich fuhr es fort:

Die Mystiker, die es zu allen Zeiten und in allen Religionen gab und gibt, erlebten und erleben die Realität Gottes und Seiner Schöpfung vor ihren geistigen Augen, gleichsam in einer Schau. Wer auf die Sprache angewiesen ist, muß lernen, in sie hineinzuschauen und die Worte nur als "Krücken" anzusehen, die eine Botschaft vermitteln. Wer dies nicht lernt, verwechselt - um eure Worte zu gebrauchen - die Verpackung mit dem Inhalt. Er wird keine tieferen Einsichten erlangen, weil er sich zu früh zufrieden gibt mit dem, was ihm als Wahrheit angeboten wird, oder was er vorschnell als Wahrheit erkannt zu haben glaubt.

So bedeutet "rechtzeitig", daß eine Wirkung aufgehoben oder abgemildert werden kann, b e v o r sie den Verursacher dieser Wirkung trifft. Und das nach ehernen Gesetzen, deren Erfassen euer im Zeitlichen gefangenes Denken übersteigt.

Da war nun für mich allerlei Neues drin, das ich sofort aufgriff.

"Rein theoretisch kann ich mir erklären, daß eine Schuld nicht 'mir nichts, dir nichts' verschwindet. Andererseits fällt es mir schwer zu verstehen, daß sie, wenn sie auch nicht verschwindet, auf unbegrenzte Dauer weiterbesteht. In alle Ewigkeit? Oftmals schon nach Jahren ist ein Unglück, ein Diebstahl oder sogar ein schweres Verbrechen vergessen, von den kleinen Bagatell-Vergehen ganz zu schweigen. Nach Jahrzehnten ist, abgesehen vielleicht von den großen Kriegen, soviel Gras darüber gewachsen, daß alle es vergessen haben ... Vor allem dann", fügte ich noch hinzu, "wenn der Täter nie gefaßt wurde. Wo ist die Schuld ...", das richtige Wort fehlte mir, schließlich sagte ich, "... hin?"

Bitte gebrauche deinen Verstand. (Es hatte tatsächlich "bitte" gesagt - allerdings wohl eher, um mir Ansporn zu sein, denn aus Höflichkeit.) Du weißt, daß alles Energie ist.

Ich nickte.

Du weißt, daß Energie nicht einfach verlorengeht.

Wieder nickte ich und ergänzte: "Jede Handlung, sei es eine gute oder schlechte, ist demnach Energie, die nicht verschwindet. Irgend jemand hat die Handlung ausgeführt, damit ist sie gewissermaßen 'in die Welt getreten'. Auch wenn ihre Folgen nicht mehr sichtbar oder spürbar sind, so hat sie dennoch eine Spur hinterlassen, im Unsichtbaren."

Im Geistigen, in der Seele des Verursachers.

"Über die Seele mußt du mich auch noch aufklären", dachte ich, sprach es aber nicht aus, weil ich meine Voreiligkeit erkannte. Was ich nicht berücksichtigte war, daß es für mein Licht keinen Unterschied machte, ob ich "nur" dachte oder das Gedachte auch in Worte kleidete. Das passierte mir selbst nach vielen Wochen immer noch einmal, was mir dann meist ein Lächeln entlockte.

Die Antwort kam prompt. Sie bestand aus einer ungemein liebevollen und nachsichtigen "Licht-Umarmung" (eine passendere Bezeichnung fiel mir nicht ein, aber ich verstand auf einmal besser, was ich über Worte und Sprache erfahren hatte). Ohne auch nur den Hauch irgendeines Größerseins - Überheblichkeit war dem Licht ohnehin fremd - wurde ich für einen Moment in eine Gemeinsamkeit aufgenommen, die mir völlig fremd war. Es lag so viel Verstehen und selbstlose Geschwisterlichkeit darin, daß ich mir wünschte, mehr davon zu erleben.

Mehr davon zu entwickeln, wünsche ich dir. Das Glück liegt nicht darin, geliebt zu werden, sondern zu lieben.

Dann war dieser Augenblick vorbei, und die "Realität" unserer nächtlichen Begegnung nahm wieder ihren Platz ein. Ich hatte das, was mir mein Licht gerade gesagt hatte, zwar verstanden, aber das, was es mir hatte sagen wollen, nicht begriffen.

Ich wußte, daß es keinen Sinn haben würde, danach zu fragen. Ich hätte es doch nicht erfaßt und auch keine Antwort bekommen. Daher nahm ich mir vor, dieses Wort tief in mir zu bewahren; denn ich ahnte, daß es ein tiefes Geheimnis barg - möglicherweise das tiefste und größte überhaupt.

Vielleicht hilft dir folgendes: Angenommen, du begehst einen Diebstahl. Er wird nie entdeckt und du damit als Täter nie erkannt. Gewissensbisse, falls je vorhanden, verschwinden nach ein paar Tagen. Glaubst du, daß nach diesen paar Tagen auch die Tat als solche nicht mehr existiert?

"Sie ist noch da, nicht nur im Unsichtbaren oder Geistigen, sondern sogar im Äußeren. Das, was ich gestohlen habe, fehlt ja an seinem ursprünglichen Platz - auch wenn es keiner bemerkt."

Und wie sieht es nach einigen Wochen oder Monaten aus?

"Es hat sich nichts geändert."

Hat sich nach Jahren oder Jahrzehnten etwas geändert, wenn du nicht bereust und das gestohlene Gut nicht zurückgibst? Wenn sich
i n d i r , dem Verursacher, nichts ändert, hat sich dann an der Tatsache deines Diebstahls nach tausend oder zehntausend Jahren etwas geändert, sozusagen "von alleine"?
Das Licht bemerkte mein Zögern. Du kannst die Dauer beliebig verlängern.

Ich mußte erkennen, daß es nur eine Antwort gab: "Nichts löst sich wie von selbst auf, nur weil die Zeit 'darüber hinweggegangen' ist; denn Zeit spielt im Geistigen keine Rolle."

Wir waren, wie mir schien, an einem sehr wichtigen Punkt angelangt. "Wenn die Tat oder die Folge nicht von alleine erlischt, besteht sie weiter, 20 Monate, 20 Jahre, 200 Jahre, 2000 Jahre ..."

So lange aber lebt der Mensch nicht.

"Also nimmt er die Tat bzw. die von ihm geschaffene Ursache, wenn sie an seinem Lebensende noch besteht, mit in den Tod."

Und jetzt? Wie würde es weitergehen? Ich strengte meinen Kopf an.

"Viele oder die meisten Menschen denken, daß alles vorbei ist, sich alles auflöst, alles vergessen ist - so nach dem Motto: 'Das war's'. Nichts bleibt, keine Rechenschaft wird verlangt, keiner muß Rechenschaft geben.

Die Christen glauben, daß Rechenschaft abgelegt werden muß. Das Ergebnis ist entweder die Belohnung in Form des Eintritts in den Himmel oder die Läuterung durch den Aufenthalt im Fegefeuer oder die Bestrafung in Form der ewigen Verdammung in die Hölle. Das richtet sich nach Schwere der Sünden, die beim Sterben noch nicht bereut und erlassen sind. Die Details variieren von Religion zu Religion. Die mit in den Tod genommenen Ursachen scheinen durch das Fegefeuer oder die Hölle ausgelöscht zu werden, vielleicht ausgebrannt."

Und was glaubst du?

"Für mich ist Gott eine Instanz der Liebe. Und in dieser Liebe wirken unumstößliche Gesetze, die aus der Liebe kommen. Diese Gesetze Gottes können unmöglich vorsehen, daß auch nur eines Seiner Kinder für alle Ewigkeit im Feuer brennen muß, nur weil es sich für die Dauer eines Menschenlebens, das bei Ihm weniger ist als ein Augenaufschlag, gegen Ihn gestellt hat."

Ich atmete tief durch, weil ich spürte, daß mich der Gedanke an die Millionen und Milliarden Menschen, die mangels richtiger Aufklärung in ihrer Unwissenheit furchtsam und ängstlich gestorben waren und noch sterben würden, nicht kalt ließ.

"Schon bevor ich dich kennenlernte, habe ich einen Gott, der auf diese Weise straft, nicht für möglich gehalten. Jetzt weiß ich, daß es diesen Gott nicht gibt. Da er aber in den Köpfen so vieler Menschen existiert, muß ihn jemand erfunden haben - jemand, der nicht wollte und nicht will, daß Seine Kinder zu Ihm zurückfinden."

Gott straft nicht, bei Gott gibt es keine Schuld.

"Hilf mir bitte."

Spüre einmal in das Wort 'Schuld' hinein. Hat 'Schuld' nicht etwas durch und durch Menschliches? Ein Schuldner ist abhängig, einem Schuldner kann man ein schlechtes Gewissen machen. Wenn man es geschickt anstellt, kann man einen Schuldner in seiner wirklichen oder vermeintlichen Schuld belassen. So kann man ihn gängeln, ihn lenken, ihn unterdrücken. Kein Mensch, der sich um ein ehrliches Gottesverständnis bemüht, wird Ihm ein solches, menschliches Verhalten zutrauen oder gar unterstellen.

"Aber es gibt doch mehr als genug Verstöße gegen die Gebote", wandte ich ein. "Der Mensch versündigt sich dabei gegen Gott und lädt eine Schuld auf sich."

Es wäre empfehlenswert, die Worte Sünde oder Schuld, wenn man sie schon benutzen möchte, in erster Linie auf sich selbst anzuwenden. Das könnte sich bei ehrlicher Betrachtung und gutem Willen vorteilhaft auf die Selbsterkenntnis auswirken. Auf andere Menschen bezogen fördern die Worte Fehler oder falsches Verhalten eine neutralere Sicht und führen zudem nicht so schnell in die Versuchung der Selbstüberschätzung und der Abwertung des anderen.

War da etwas drin, das für mich des Nachdenkens wert war? Ganz bestimmt, zumal ich glaubte, eine gewisse Betonung herausgehört zu haben. Mir schien plötzlich, daß dieser Aspekt mehr Beachtung verdiente, als ich ihm in der Vergangenheit geschenkt hatte.

Wenn Gott dir gegenüber nicht als Gläubiger auftritt - obgleich dein Fehlverhalten mit seiner Ursache besteht -, dann klagt Er diese Schuld bei dir auch nicht ein. Wenn Er dich auch nicht bestraft für deren Nichtbegleichung, dann muß die Schuld einen anderen Aspekt haben. Vielleicht ist sie in ihrer Bedeutung von der Finsternis auch verdreht worden?

Dies war natürlich keine Frage zum Erhalt einer Antwort, welche die eigene Unwissenheit befriedigt. Die Frage galt mir.

"Ich kann mich", begann ich, "um es vereinfacht darzustellen, als Sünder mit zwei Seiten meines Verhaltens beschäftigen: Entweder mit der Wiedergutmachung, falls dies möglich ist, oder mit meinem Unvermögen, als sündiger Mensch jemals Gott entscheidend näherkommen zu können.

Im ersten Fall ist eine entsprechende Erkenntnis, echte Reue, die Bitte um Vergebung und der Vorsatz, künftig nicht mehr zu sündigen, Voraussetzung. Dann kann der Blick nach vorne gehen und der Fehler mir als Lernschritt dienen.

Im zweiten Fall geht ein großer Teil meiner Kraft in die niederdrückende Einsicht, aus eigener Kraft nicht viel tun zu können, da ich vor den Augen Gottes ein sündiger Mensch bin, der Schuld auf sich geladen hat ..."

Es fing an, in mir zu dämmern. "Im zweiten Fall geht meine Energie in die Vergangenheit, mit der ich mich mehr beschäftige als mit einem künftigen, veränderten Verhalten meinerseits. Natürlich kann ich auch beides kombinieren, doch die Gefahr ist äußerst groß, irgendwann in Resignation zu verfallen - besonders dann, wenn das gleiche Fehlverhalten oder ein ähnliches wiederholt auftritt."

Mein Licht ließ mich gewähren. Ich wußte, es würde mich korrigieren, wenn ich falsche Schlüsse zog.

"Dieses Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben, kann ein unüberwindbares Hindernis darstellen, einen Neuanfang zu wagen. Schuld, die so verstanden wird, hält den Sünder mit gesenktem Blick gefangen. Das kann nicht der Wille der Liebe sein, die ihre Kinder als 'freie Geister' sehen will.

Zu einem innerlich freien Menschen" - 'zu dem ich werden möchte', fügte ich in Gedanken hinzu - "gehört neben der Erkenntnis der Sünde auch die Kenntnis darum, wie die gesetzte Ursache wieder aus der Welt geschafft werden kann. Ist dies geschehen, hat der Fehler seine Schuldigkeit getan."

Ich machte eine Pause. Auf einmal war alles so logisch: Die Aufgabe des Lebens bestand unter anderem darin zu lernen. Kaum ein Lernprozeß läuft ohne vorherigen Fehler ab. Wird dieser Fehler korrigiert, dann hat er seinen Zweck erfüllt und seine Bedeutung verloren. ("Ähnlich wie bei einem Wanderer, der nach einem Blick auf seinen Kompaß seine Marschrichtung mehr oder weniger stark ändert", dachte ich.) Was zählt, ist einzig und allein die daraus resultierende "Richtungsänderung" im Leben. Gott würde also niemals Fehler gewissermaßen "in der Hinterhand" als Schuld behalten, nur um Seine Geschöpfe besser lenken zu können. Ein Fehler (oder auch viele) macht schrittweise frei - falls er der Erkenntnis und Korrektur des bisherigen Tuns dient. Dann müßte auch die Ursache und mit ihr eine mögliche Wirkung, soweit ich das bisher überblickte, aus der Welt sein.

Sie ist es erst dann, wenn derjenige, dem du geschadet hast, dir verziehen hat. Daran erkennst du die Gerechtigkeit Gottes.

Hatte also jeder die Möglichkeit, alles aufzulösen, was er in diesem Leben und früheren an Ursachen gesetzt hatte? Ich erinnerte mich daran, daß mir mein Licht gesagt hatte: Gott wohnt i n d i r . War dem so, dann bedurfte es gar keiner kirchlichen Vermittlung oder priesterlichen Lösegewalt, um Sünden aus der Welt zu schaffen, um sich wieder frei zu fühlen und weiter auf Gott zugehen zu können. Wo sollte der Mensch jedoch für diese "Arbeit" die Kraft hernehmen? Waren nicht alte Gewohnheiten, negative Charaktereigenschaften, unglückliche Lebensumstände und vieles mehr stärker als der Wunsch und der Wille, sein Leben in neue, bessere Bahnen zu lenken? Es waren viele Fragen, die auf mich einstürmten, so daß ich mir sagte: "Ich habe es ja gewußt: Ist eine Frage beantwortet, tauchen zehn neue auf."

Das Licht hatte die ganze Zeit über hell pulsiert. Seine Strahlen hatten mich berührt, so als wollte es mir damit mein Denken erleichtern. Ich war kurz davor, mir selbst für meine Gedankenarbeit zustimmend zuzunicken, als mein Licht sagte:

Du weißt nun um die übergroße Liebe Gottes, die dir und jedem Menschen die Möglichkeit gibt, durch Unrecht geschaffene Ursachen umzuwandeln, sofern es der einzelne mit seinem freien Willen möchte und auch anstrebt. Die Kraft, die dies jeden Augenblick und überall geschehen läßt, hast auch du schon oft in deinem Leben erfahren. Nur war es dir bisher nicht bewußt. Du wirst sie kennenlernen - und sie lieben lernen.

Ich gab mich ganz dieser mir inzwischen so vertrauten Stimme hin und hörte aufmerksam zu.

Gott tritt niemals als Gläubiger auf, und Er straft auch nicht. Er hat es nie getan. Wenn eines Tages dieses Wissen überall verbreitet ist, dann hat sich das Bild, das die Menschen sich von Ihm gemacht haben, gewandelt - hin zu einem himmlischen Vater, der die Güte und Barmherzigkeit ist.

Noch gibt es vieles, das du nicht einzuordnen vermagst. Denke an die kleinen, aber steten Schritte und übe dich ein wenig in Geduld. ("Du hast ja auch Geduld, besonders mit mir", dachte ich. "Ich nehme mir einfach ein Beispiel an dir.") Wenn du einen weiteren Schritt machen möchtest, versuche die Antwort auf die Frage nach dem Leid in dieser Welt zu finden. Die halbe Antwort kennst du schon: Gott ist es nicht, der dies Seinen Kindern antut. Die andere Hälfte liegt direkt vor dir. Schau hin, setze die Teile richtig zusammen, und du kennst auch diesen Teil der Wahrheit.

Ich wünsche dir Kraft für die vor dir liegende Zeit. Meinen Teil dazu werde ich beitragen. Die Kraft für jeden Schritt zur Erkenntnis und zur Entwicklung zum Guten hin kommt immer aus der inneren Freude - und diese aus der Seele, auch wenn der Mensch dies oftmals noch nicht erkennt. Denke mit Freude an die positiven Veränderungen, die die Zukunft bringen wird, und nicht an die Schulden der Vergangenheit, die dann keine mehr sind. Dann kannst du auch nicht gefangengehalten werden in deinem menschlichen Bewußtsein.

Denn, mein Bruder, du bist Geist, und du bist göttlich - wie ich.