Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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14. Die Allmacht wird keines ihrer Kinder verlieren

 

Der folgende Tag, ein Freitag, verlief relativ ruhig. Peter hatte sich Urlaub genommen, um mit seiner Frau Katharina ein verlängertes Wochenende in einem Ferienhaus zu verbringen, das ihnen ein Bekannter zur Verfügung gestellt hatte. Ich führte ein paar Telefongespräche; Eva hatte für mich ein paar Sachen vorbereitet, die ich noch mitnehmen sollte, hauptsächlich Bemusterungen, Prospekte und ein Angebot.

Schon bald fuhr ich los. Meine Freitagstour führte mich nur in Ausnahmefällen auf weite Strecken. Heute hatte ich es so eingerichtet, daß ich nicht länger als bis in den frühen Nachmittag unterwegs sein würde, weil ich anschließend an meinem Schreibtisch Routinearbeiten erledigen wollte, zu denen Berichte, Statistiken, Reisekostenabrechnungen und ähnliches gehörten.

Bei einem meiner Vormittagskunden hatte sich vor ein paar Tagen Nachwuchs eingestellt. Ich kam nicht umhin, mit der frischgebackenen "Oma" ein Glas Sekt auf den neuen Erdenbürger zu trinken.

"Es ging alles gut", erzählte sie mir. "Die Elfriede hat's prima überstanden und der Kleine auch. Alexander heißt er übrigens, genau wie mein Großvater. Und das Komische ist, daß er nicht nur so heißt, sondern ihm auch unwahrscheinlich ähnlich sieht. - Ich weiß, Eltern oder Großeltern legen in Ähnlichkeiten der Kinder oftmals vieles hinein, aber in diesem Fall ..." Sie schüttelte den Kopf. "Mein Mann sieht die Ähnlichkeit genauso; Elfriede natürlich weniger, weil sie ihren Urgroßvater nur als Kleinkind gekannt hat."

Ich trank den letzten Schluck und wollte gerade etwas erwidern, als sie noch sagte: "Wenn ich nicht wüßte, daß es nicht sein kann, würde ich sagen, das ist der Großvater. Aber das ist natürlich Quatsch. Nur weil er so heißt, und weil er so aussieht." Mit sich selbst anscheinend nicht im reinen, fügte sie hinzu: "Und dennoch ..."

Ich hatte das Gefühl, etwas antworten zu müssen, obwohl sie mich nicht direkt gefragt hatte. "Wenn wir mal die Tatsache außer acht lassen, daß wir nicht wissen, wie eine Seele in einen Körper hineinkommt, dann ist es im Prinzip nichts Besonderes, ob sie dies auch ein zweites- oder drittes- oder viertesmal tut. Unerklärlich bleibt es in jedem Fall - ob einmal oder später nochmals oder gar mehrmals."

Sie schaute mich erstaunt an. "Sie glauben daran?"

"Ich glaube daran, daß der Mensch eine Seele hat." Anders, etwa mit den Formulierungen "eine Seele ist" oder "sein wird", wollte ich es nicht ausdrücken. So ganz richtig hatte ich es ja selbst noch nicht verstanden.

"Ich auch", antwortete sie.

"Wenn er aber eine Seele hat, dann muß sie auch irgendwie in den Körper hineingekommen sein." Sie sagte nichts. Machte ich gerade etwas falsch? Wäre es besser zu schweigen? "Einen Satz noch", dachte ich, "dann ist Ruhe."

"Und wenn sie beim Sterben den Körper verläßt, muß sie bei der Geburt des Menschen, so vermute ich mal, eingetreten sein. Zumindest wäre das für mich logisch."

Ich stellte mein Glas ab, sagte "Danke für den Sekt" und wollte mich gerade zur Seite drehen, um meinen Aktenkoffer zu schließen, als sie fragte: "Ist das ihr Ernst?"

Jetzt hatte ich angefangen, jetzt mußte ich auch dabei bleiben, egal, ob ich gleich ausgelacht werden würde oder nicht. Außerdem war es meine Überzeugung. Also sagte ich:

"Ja, weil alles andere für mich unlogisch ist." Sie forderte mich stillschweigend zum Weiterreden auf. "Inzwischen glaube ich an eine göttliche Gerechtigkeit, was bei mir früher nicht der Fall war."

"Und die drückt sich darin aus, daß ein Mensch wiederkommen muß?"

"Vielleicht muß, vielleicht kann, vielleicht darf ...?" Beinahe hätte ich noch angefügt "vielleicht freiwillig", unterdrückte das aber noch rechtzeitig, weil ich nicht glauben konnte, daß jemand freiwillig nochmals auf die Erde ging, wenn er nicht müßte. "Ich weiß es nicht", sagte ich stattdessen.

"Das wäre dann wie in einer Schule. Nach Abschluß der einen Klasse kommt man in die nächste, weil man noch nicht alles gelernt
hat ..."

"Oder, falls man sitzenbleibt, wiederholt man die letzte Klasse noch einmal. Auf jeden Fall glaube ich nicht mehr daran, daß man von der Schule fliegt und dann draußen vor der Türe steht, nur weil das eine Jahr 'rum ist und noch Wissens- und Lernlücken da sind."

Sie schien sich mehr und mehr für den Gedanken erwärmen zu können.

"Eigentlich ist das Leben wie eine Schule, nur gibt es im Leben viel mehr zu lernen ... Und was man in diesem Leben nicht gelernt hat oder lernen konnte, holt man im nächsten nach." Plötzlich ging ihr ein Licht auf: "... hole ich im nächsten nach. Nicht nur möglicherweise mein Großvater, sondern Sie und ich ... und du", sagte sie zu ihrem jüngeren Bruder, der gerade das Büro betrat.

"Um was geht's, Hilde", sagte der, "um größere Beträge?"

"Vielleicht", antwortete ich an ihrer Stelle und erkannte an der "Zufälligkeit" des Telefonläutens, daß es an der Zeit war, mich freundlich zu verabschieden.

"Bis zum nächsten Mal", rief sie mir noch nach. "Und vergessen Sie das Wiederkommen nicht."

 

*

 

"Vergiß das Wiederkommen nicht ... das Wiederkommen nicht ..."

Es war früher Nachmittag, ich war auf der Heimfahrt. Allerlei ging mir durch den Kopf, vor allem freute ich mich auf den Besuch von Anne. Groß etwas vorbereitet hatte ich nicht, das war bei uns zweien nicht nötig. Vermutlich würde sie sowieso etwas mitbringen, um ihren Vater "... vor dem Verhungern zu retten", wie sie immer neckend sagte. Ob wir etwas unternehmen würden, und wenn ja, was - darüber würden wir sprechen, wenn es soweit war.

Das Radio spielte leise und von mir kaum beachtet. In mein Bewußtsein drang schließlich aber doch eine Melodie: Junge, komm' bald wieder, bald wieder ... Aus einem plötzlichen Impuls heraus schaltete ich ab. Da gab es etwas nachzudenken, zumal mich jemand immer wieder an "Vergiß das Wiederkommen nicht ... das Wiederkommen nicht ..." erinnerte.

Mit großer Freude dachte ich an die vergangene Nacht. So vieles war mir geschenkt worden. Ein ganz klein wenig freute ich mich auch über mich selbst. "Aber nur ganz, ganz wenig", dachte ich, weil ich schon wieder die "Fußangel" sah, die sich da auftat. Ich war dankbarer geworden als früher. "Stop und falsch", sagte ich mir, "früher bin ich gar nicht dankbar gewesen". Wofür auch? Was ich hatte und konnte und wußte, war doch alles selbst erarbeitet. Und jetzt?

Mir war klargeworden, daß ich mehr war als der sterbliche Ferdinand Frei, der bisher die 55 Jahre seines Lebens recht und schlecht hinter sich gebracht hatte. Mir war bewußt geworden - bewußt gemacht worden -, daß ich unsterblich war und aus der größten Quelle "genährt" wurde, die es überhaupt gab. Das war die eine, wunderbare Seite.

Die andere war ebenso schön - wenn man sich erst einmal zu dieser Anschauung durchgerungen und schließlich damit begonnen hatte, die vielen Facetten des Egos nach und nach aufzugeben: Alles, was um mich war und in mir und an mir, war mir geschenkt.

Alles? Alles! Oder hast du die Luft geschaffen, die dich am Leben erhält? Aber ich habe mein Brot selbst gekauft! Und das Geld dafür? Habe ich verdient! Und die Kraft dafür? Habe ich in mir entwickelt! Und die Voraussetzungen dafür? Habe ich durch mein Denken, Lernen und Streben geschaffen! Und wer gibt dir die Energie zu diesem Denken? Ich habe mich willentlich entschieden zu denken! Und die Kraft für diese Willensentscheidung ...? Alles aus dir selbst? Bist du ein Perpetuum mobile ...? Du bist aus dir heraus nichts.

Als dieser Prozeß in mir abzulaufen begann, fing sich die Sicht der Dinge an zu ändern. (Ich werde hoffentlich niemals zu glauben wagen, kam mir der Gedanke, ich hätte diesen Prozeß abgeschlossen; zu zahlreich sind die Fallen.)

"Ich bin ein Sohn Gottes - und ich bin ein Nichts. Ist das ein Widerspruch? ... Absolut nicht", war mir durch den Kopf gegangen, "es kommt auf die Betrachtungsweise an. Wer ist dieses 'Ich'? Ist es der Mensch, ist es ein Nichts. Ist es der Geist, ist es göttlich, ewig - alles."

Solche und ähnliche Empfindungen und Gedanken waren in den letzten Tagen in mir abgelaufen. Ich bin fest davon überzeugt, das wäre jedem so ergangen, der die gleichen, schönen Erfahrungen machen würde wie ich.

"Vergiß das Wiederkommen nicht ..." Mir fiel ein, daß ich während des Gesprächs am Vormittag beinahe davon gesprochen hätte, daß vielleicht auch die Möglichkeit besteht, freiwillig zu inkarnieren, obwohl ich mir dieses beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Mein Licht würde mich aufklären. "Wunderbar", dachte ich und gleichzeitig: "Aber bis dahin könntest du doch etwas Kreatives tun und deinen Verstand gebrauchen."

"... Wiederkommen nicht". Zum Wiederkommen waren noch einige, nein, sehr viele Fragen offen. Daß ich meine Neugierde nicht so sehr auf Details lenken sollte, darüber war ich schon aufgeklärt worden. Ich akzeptierte dies auch, fast verstand ich es sogar. "Lassen wir also den Wissensdurst nach dem Ablauf des Lebens im Jenseits beiseite", sagte ich mir. "Es gibt ja auch noch andere, grundsätzliche Fragen."

Erstens: Der Himmel war für diejenigen verschlossen, die ihn bei ihrem Tod noch nicht wieder in sich trugen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie ein Mensch leben würde oder sein müßte, der bereits zu Lebzeiten "den Himmel in sich trug", aber soviel war mir klar: Sehr viele dürften es nicht sein, die diesen Zustand am Ende ihres Lebens erreicht hatten. Die allermeisten kämen also von hier aus nicht sofort - sozusagen aus dem Stand - in den Himmel.

Zweitens: Die ewige Verdammnis in einer ewigen Hölle hatte sich als Irrlehre erwiesen. Zwar schien es einen Bereich dieser Art zu geben (mein Licht hatte kurz davon gesprochen), aber auf ewig verdammt war man nicht. Auch von dort aus mußte es die Möglichkeit der Heimkehr geben, da gleiche Liebe für alle auch gleiche Chancen für alle hieße. Plötzlich mußte ich lachen, weil mir etwas aufgefallen war, das den meisten nicht aufzufallen schien, obwohl es das Widersprüchlichste war, das ich mir im Moment vorstellen konnte:

Gott war dabei, einen großen Teil Seiner Kinder an die Finsternis zu verlieren. Denn wenn man all die Dogmen und die vielen hemmenden Vorschriften, Riten und Zeremonien in allen Religionen einerseits und den Unglauben und die Unwissenheit in der Welt andererseits betrachtete, mußte man zu dem Schluß kommen, daß die meisten Menschen wohl nicht den Weg in den Himmel fanden. Ein Leben wäre für eine solche Entwicklung normalerweise zu wenig gewesen. Also: Die Dunkelheit wäre demnach in der Lage, der Allmacht Geschöpfe abzujagen, und zwar nicht nur eines, sondern sehr viele! Damit wäre die Allmacht keine Allmacht mehr, sondern es gäbe eine größere Macht.

Hatte keiner je diesen - ich traute mich zu denken: unglaublichen Blödsinn bemerkt?

Drittens: Was blieb? Wer nicht in den Himmel konnte, wer aber auch nicht für ewig verdammt wurde, wer nicht auf der Erde bleiben konnte, weil seine Zeit für dieses Leben abgelaufen war - der mußte aber doch irgendwo anders hinkönnen! Und vor allem: Von dort aus mußte er weitergehen können, denn ein ewiges Verbleiben außerhalb der Himmel war auf Grund der vorgesehenen Heimkehr aller Geschöpfe nicht möglich.

Eine Antwort bot sich mir an, deren Richtigkeit ich aber nicht nachprüfen konnte: Wenn die Seelen nicht unbegrenzt in ihren neuen Welten bleiben konnten, mußten sie sich "bewegen", entweder nach "oben" in Richtung Himmel oder nach "unten" zurück auf die Erde. Welche Seele was konnte, wann sie es konnte und anderes mehr, das war mir noch völlig unklar. Aber ich war ein Stückchen weitergekommen. Denn nun kam die Wiedergeburt ins Spiel, und sie erwies sich als ebenso gerecht wie sinnvoll und logisch.

Wer sich weiterentwickeln wollte (sollte, konnte, durfte?), trat demzufolge als Seele erneut in einen Menschen ein, und beide wurden für den Verlauf eines Lebens eins. Dieses Geschehen mußte nach unumstößlichen göttlichen Gesetzmäßigkeiten ablaufen; anders konnte es nicht sein - nicht bei einer unendlich großen Liebe.

Die Seele, die sich in den Menschen inkarnierte, brachte vermutlich die Belastungen oder einen Teil davon aus dem früheren Leben mit, sagte ich mir in Erinnerung an die gar nicht so "unschuldsvolle und taufrische Rose". Oder auch noch aus Leben, die davor lagen; denn alles mußte ja noch da sein, weil keine Energie vernichtet werden kann. Es sei denn ...

"... umgewandelt ... aufgelöst ... erlöst..."

... es sei denn, die belastende Energie würde in ihrer ehemaligen Form nicht mehr bestehen. Bestand sie aber noch, ganz oder teilweise, dann existierte auch noch der "Bumerang"-Effekt. Das konnte nur heißen, daß die Seele bzw. nach der Geburt der Mensch früher oder später von den Wirkungen seiner eigenen Taten eingeholt würde. Das konnte während des gesamten Lebens geschehen, also auch schon einen Augenblick nach der Geburt oder erst einen Augenblick vor dem Tod.

"Oder aber", begriff ich, "die Seele bringt die Belastung, die sie in sich trägt, und die gewissermaßen eine Art 'Narbe' in ihrem Seelenkörper darstellt, von Geburt an als Unvollkommenheit oder Fehler in das neue Leben hinein, in ihren noch kleinen Erdenkörper. Sicher nicht gezwungenermaßen, denn Gott ist die Freiheit. Also entweder nach feststehenden, geistigen Abläufen - oder aber freiwillig ..."

Ich hielt gedanklich inne, weil ich mir über die Konsequenzen dieser Erkenntnis erst klarwerden mußte.

"... und die Eltern stehen allein gelassen und fragend bis erschreckt oder verzweifelt an der Wiege ihres Kindes. Wer von ihnen würde um die Hintergründe wissen? Wer von ihnen würde die Demut und die Stärke einer Seele erahnen, die sich möglicherweise aus Liebe zu Gott zu einem solchen Schritt entschlossen hatte?"

Inzwischen hatte ich meine Firma fast erreicht. Mir war nicht sehr nach reden zumute, und ich hoffte, ich würde es auch nicht müssen. Ich hatte Glück. Eva war an diesem Nachmittag schon früher nach Hause gegangen, und die anderen, die noch da waren, beschäftigten sich mit sich selbst.