Alles endet im Licht
von Hans Dienstknecht
ISBN 3-00-002287-2 

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16. Brüderliche Energie für den Rückweg

 

Der Fernseher blieb an diesem Abend aus. Ich hatte nach dem Essen eine Flasche Wein aufgemacht, Anne hatte für leichte Musik gesorgt. Dann tauschten wir Neuigkeiten aus, aber auch "alte Geschichten", in denen unsere Freunde und Bekannten eine Rolle spielten. Anne bedauerte, an diesem Wochenende Peter und Katharina nicht besuchen zu können. "Beim nächsten Mal stimmen wir uns terminlich besser ab", versprach ich ihr.

Für einen Samstagabend gingen wir relativ früh schlafen. Anne hatte sich in ihrem Zimmer eingerichtet; ich lag noch eine Weile wach, weil mir so einiges durch den Kopf ging. Als ich müde wurde, schickte ich noch ein Dankeschön für den Tag ... wohin? "In mich hinein", dachte ich. "Daran werde ich mich gewöhnen müssen". Dann schlief ich ein.

Ich grüße dich, und ich verneige mich vor der Liebe in dir.

"Der Liebe in mir?", fragte ich, weil ich nicht verstand. "Du nimmst mich ernst, das weiß ich. Aber meine Liebe ist noch
klein ..."

Ich verneige mich vor dem Christus in dir, der die Liebe Gottes ist.

Vor dem Christus in mir? Ich horchte auf und erinnerte mich, daß davon in der letzten Nacht die Rede gewesen war. Etwas sagte mir, daß heute Besonderes geschehen würde - ganz Besonderes, denn besonders war das alles ohnehin schon. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, es würde eine ebensolche Nacht werden.

Du hast dir niemals groß deine Gedanken über Jesus von Nazareth und Sein Leben gemacht ... Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Mein Licht kannte mich ja. Wenige Menschen haben Ihn erkannt. Zu Seinen Lebzeiten hofften viele auf Ihn als den Erlöser von der Römer-Herrschaft. Nach Seinem Tod, als das Urchristentum erblühte, gab es nur bei wenigen ein gewisses Begreifen Seiner Tat.

Was heute gilt, daß nämlich das Herz zählt und nicht der Intellekt, galt auch schon damals. In den ersten Jahrzehnten des Christentums erblühte unter diesem Gesichtspunkt eine echte, innere Begeisterung, die getragen war von der Liebe zu Ihm. Es war nicht so wichtig, alles zu verstehen; das damalige Bewußtsein hätte dafür auch nicht ausgereicht. Diejenigen, die sich für Ihn entschieden, erhielten den Beweis für die Richtigkeit ihrer Entscheidung in ihrem Leben, in ihrer Gemeinschaft, in ihrer gegenseitigen Hilfe und in ihrer Liebe. Wer die Ernte als Beweis in seinen Händen hält, der fragt nicht mehr danach, ob die Frucht wohl wachsen wird, und wie dies geschieht. Er hat vertraut und wurde in seinem Vertrauen hin zum Wissen geführt.

Das Christentum der späteren Jahrhunderte verlor diese Eigenschaften mehr und mehr. Der Eigenwille verdrängte das Vertrauen, der Intellekt das Verstehen. So mußten die Oberen Zuflucht nehmen zu Interpretationen, die ihrem beschränkten Denken entsprangen, nicht aber einer universellen Weisheit. Denn die Weisheit ist göttlichen Ursprungs, und der Zugang zum Göttlichen in ihnen wurde für sie immer schwieriger. Nicht Gott war der Verursacher dieser Erschwernis. Sie selbst waren es.

Ich war so still wie nie zuvor und hatte meine inneren und äußeren Ohren geöffnet; ich wollte nicht nur hören, ich wollte auch verstehen.

Heute gibt es so viele falsche Deutungen der Person Jesu, Seiner Geburt, Seines Lebens und Seines Todes, wie es Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt.

Kaum einer weiß um den wahren Hintergrund des Christus. Schon der Name "Jesus Christus" könnte so manchen zum Nachdenken bringen, besagt er doch nichts anderes, als daß sich in das menschliche Wesen "Jesus" das geistige Wesen "Christus" inkarnierte. Es vollzog sich das gleiche Geschehen wie bei jeder Inkarnation, wie bei jeder Geburt. Nur die Bedeutsamkeit des Geistwesens war eine andere: Es war die Einmaligkeit des Sohnes Gottes, des Christus, eines Teils der göttlichen Allmacht und Allgegenwart. Und es war die Liebe Gottes, die sich mit Christus in den Menschen Jesus von Nazareth inkarnierte und damit in diese Welt kam.

Das Licht ließ mir Zeit, damit diese Wahrheit tief in mich hineinfallen konnte. Den Vorgang wirklich zu begreifen, war mir nicht möglich. Soviel war mir inzwischen klargeworden. Mein Bewußtsein reichte dafür nicht aus.

Für einen Moment gingen meine Gedanken zurück. Es war noch nicht solange her, daß mir das Licht zum ersten Mal erschienen war. Und wer bist du? wurde ich gefragt. Dann hatte es mich wie ein kleines Kind an die Hand genommen, an meinen Verstand appelliert und mich, beginnend mit der Frage nach dem Zufall, bis an diesen Punkt geführt. Was für ein Geschehen! Was für eine Dimension der Wahrheit!

Mich bewegte etwas; ich wollte etwas fragen, hatte aber heute nicht den richtigen Mut.

Du fühlst dich klein, gemessen an der Größe des Christus? Lege dein menschliches Denken ab. Schließ dein Herz auf und versuche, Ihn zu erkennen. Er ist dein göttlicher Bruder. Was sollte es geben, das du Ihm nicht sagen, Ihn nicht fragen kannst? E r wird dir immer antworten. Wirst du Ihn immer verstehen?

Ich würde Ihn noch gar nicht verstehen, mußte ich mir eingestehen. Doch es war gut, daß das Licht mein falsches Denken zurechtgerückt hatte. Und es tat gut, um die Nähe einer solchen Kraft zu wissen, von der ich allerdings bisher noch nicht mehr verstanden hatte, als daß sie die Liebe ist - und in mir war.

Also fragte ich und hoffte, daß es keine allzu dumme Frage war. "Warum ist der Christus inkarniert?"

Du weißt um das Fallgeschehen. Das Ziel der gefallenen Engel war ursprünglich eine eigene Schöpfung. Dies gelang ihnen jedoch nicht. Kannst du auf Details verzichten?

Ich nickte - als mir bewußt wurde, daß diese Frage hoffentlich nicht ernstgemeint war.

Als die Fallwesen erkannten, daß der Versuch einer eigenen Schöpfung nicht mehr gelingen konnte, strebten sie die Auflösung der gesamten Schöpfung an. Der niedrigste Punkt jener Bereiche, die sich durch ihre Abkehr von Gott gebildet hatten, war und ist das materielle Universum, genauer: die Erde. Dort begann durch die Inkarnation des Christus-Geistes in den Menschen Jesus von Nazareth ein geistiges Geschehen ungeahnten Ausmaßes. Der Sohn Gottes, die Kraft der selbstlosen Liebe, griff nach dem Willen des Vaters in den Kampf der Finsternis gegen das Licht ein und stellte sich, geistig gesehen, an seine Spitze. Ein Aufschrei des Schreckens und der Wut ging durch die Dämonen-Welten, als sie den Schachzug des Lichtes erkannten.

33 Jahre später war dieser Kampf zugunsten des Lichtes entschieden. Was sich danach abspielte und noch abspielt, waren und sind nur noch Ausläufer der damaligen Auseinandersetzung. Sie hatten und haben keine grundsätzliche Bedeutung mehr. Die Finsternis kann ihren Plan der Auflösung nicht mehr durchführen. Der Geist des Christus hat dieses Vorhaben verhindert.

"Wie war dies möglich?" fragte ich mit leiser Stimme, wie um einen heiligen Vorgang nicht zu stören. "Zwar spricht man von Sieg und Auferstehung und Erlösung, gleichzeitig hängt aber überall das Kreuz mit dem Korpus des Verstorbenen. In Wirklichkeit weiß wohl keiner, wie trotz Tod und Niederlage Christus gesiegt haben soll."

Daran erkennst du die große, innere Entfernung von der Wahrheit. Christus ist in die Welt gekommen, um durch Sein Leben Zeugnis von der Liebe des Vaters zu geben. Die Dunkelheit, die die Größe des göttlichen Planes nicht durchschaute, war der Ansicht, mit dem Tod des Jesus von Nazareth könnte sie die Absichten Gottes vereiteln. Das Gegenteil war der Fall. Und nun wirst du begreifen, warum ich mich vor dem Christus in dir verneigt habe:

Mit dem Tod des Jesus verströmte sich die geistige Kraft des Christus i n die Seele eines jeden Menschen und in alle Seelen in den Astralbereichen. Sie ist auch in dir - ein Lichtstrahl berührte meine Brust - hier, etwa in der Nähe deines Herzens. Es ist die zusätzliche Energie, die seither dir und jedem zur Verfügung steht, um den Weg zurück in die Himmel erfolgreich gehen zu können. Das war vordem nahezu unmöglich. Zu gering war die Kraft in den Seelen und Menschen geworden; ohne Seine Liebekraft wäre der Himmel sozusagen verschlossen geblieben.

Ich erinnerte mich daran, daß ein jeder den Himmel wieder in sich tragen muß, wenn er in ihn zurück will. Den Himmel wieder in sich zu erschließen, war demnach die Lebensaufgabe jedes Menschen - früher oder später.

Seitdem sind die Himmel wieder offen. Die Entscheidung, wieder hineinzugehen, muß aber jeder selbst treffen. Wenn du künftig von Erlösung hörst oder liest, dann weißt du, daß es keine "automatische" Erlösung gibt, die sich allein durch den Glauben an Ihn oder die Zugehörigkeit zu einer Kirche vollzieht. Seine Erlösung galt zwar
a l l e n Menschen und Seelen, aber sie nimmt dir nicht die Arbeit an dir selbst ab. Sie erleichtert dir diese Arbeit, sie hat dir den Weg geebnet. Wann du ihn gehen willst - ob du ihn überhaupt gehen möchtest -, mußt du entscheiden. Du hast den freien Willen. Wenn du dich dafür entscheidest, geht Er mit dir.

Was ich da erfuhr, war unendlich tröstlich. Es war beruhigend, befreiend, ermutigend - es war alles, was man sich wünschen konnte. Ich war nicht nur unsterblich, ein göttliches Wesen; ich hatte nicht nur einen Vater, der in meiner himmlischen Heimat auf mich wartete; ich konnte nicht nur jederzeit den Weg zu Ihm nach Hause antreten: Ich hatte auch einen Begleiter bei mir, in mir, der mir helfen würde, den Weg zu gehen. Er würde ihn mit mir gemeinsam gehen, wenn und weil der Weg für mich allein möglicherweise sehr beschwerlich war.

Für mich hätte unser Gespräch an dieser Stelle für heute zu Ende sein können. Es war mehr als genug gewesen. Doch mein Licht wollte mir anscheinend noch etwas sagen.

Ehe du in die weitere Nacht und den morgigen Tag gehst, nimm noch etwas mit. Christus ist nicht abstrakt. Er ist der konkreteste Helfer, den du dir vorstellen kannst. Du wirst Seine Kraft später wie selbstverständlich in dir verspüren können. Du wirst Ihn in dir leiser oder lauter vernehmen können, je nachdem, wie nahe du Ihm gekommen bist.

Doch ebensowenig, wie Er abstrakt ist, reicht es aus, wenn du in deinem Tun abstrakt bist oder bleibst. Lippengebete oder Absichtserklärungen sind etwas Abstraktes, ein ehrliches Bemühen ist etwas Konkretes. Triffst du eine konkrete Entscheidung, tust du einen konkreten Schritt, dann tritt im selben Augenblick Er in dir auf den Plan. Ein Gedanke an Ihn, ein liebevolles Wort, ein Lächeln oder ein Hilferuf, und die Liebe, die dir näher ist als deine Arme und Beine, ist für dich da.

Doch sie achtet deinen freien Willen. Lehnst du Seine Liebe ab, wird Er dich dennoch nicht verlassen. Er läßt dich jedoch handeln, wie du es möchtest oder es für richtig hältst.

"Und wenn ich dann falle?" wollte ich wissen.

Was glaubst du?

Was glaubte ich? Hatte ich schon eine Meinung? Zu neu war das Wissen um die erlösende Kraft in mir. Da sie jedoch die Liebe war, konnte es nur eine Antwort geben: "Die Liebe läßt mich nicht allein."

Sie läßt dich n i e allein. Bildlich gesprochen ist sie dir dann besonders nahe, wenn du gefallen bist. Denn dann benötigst du ihre Hilfe am dringendsten. Oder glaubst du noch, daß sie dir grollt, dich mit Verachtung straft und sich von dir abwendet, weil du in deiner Schwäche gesündigt hast?

"Du hast mich eines Besseren belehrt", antwortete ich.

Der Vater und Christus sind eins. Es ist die gleiche Liebe, die gleiche Freiheit. An wen du dich wendest, ist ohne Bedeutung. Entscheidend für dich ist, o b du es tust. Erst dann kann und wird die Christuskraft dir helfen, die Belastungen deiner Seele umzuwandeln und damit abzubauen. Erst dann mindert sich die Gefahr, von den Bumerangs, die "noch unerkannterweise unterwegs sind", wie du es ausdrücktest, getroffen zu werden.

Denke daher daran: Je konkreter die Bedeutung d e i n e s Christus' - ich sage dies bewußt - für dich wird, um so leichter gehst du deinen Weg. Er ist die Liebe, auf die die Menschen lange, lange Zeit gewartet haben. Auch deine Seele hat viele Jahre darauf gewartet, daß dein Mensch Ihn findet. Verliere Ihn nicht wieder - wenn du mich richtig verstehst.

Es war das Tiefgehendste und Ernsthafteste, das mir je in meinem Leben widerfahren war. Ich lag noch lange wach, bis ich schließlich wieder einschlief. Zumindest hatte ich diesen Eindruck.

 

*

 

Anne war nach dem Mittagessen wieder gefahren. Wie immer hatten wir uns vorgenommen, mit unseren gegenseitigen Besuchen nicht zu lange zu warten. Beim nächsten Mal würde ich vielleicht ihren Michael kennenlernen, hatte sie beim Abschied gemeint.

"Aber nur, wenn er will", hatte ich geantwortet, "du weißt, die Sache mit dem freien Willen ..."

Sie hatte mir einen Kuß gegeben. "Natürlich. Mach's gut, Papa." An ihrem Auto hatte sie sich noch einmal umgedreht. "Irgendwie hast du mir gefallen an diesem Wochenende." Meine hochgezogenen Augenbrauen hatten sie veranlaßt, noch zu sagen: "Nicht nur an diesem ... Du weißt schon, was ich meine. Aber diesmal warst du so ... so anders, ... so gelassen, still zufrieden und doch ... erwartungsvoll. Ist das das richtige Wort?"

Sie war eingestiegen, hatte die Scheibe heruntergekurbelt, und mit ihrem Blitzen in den Augen hatte sie noch gefragt: "Du bist doch nicht auch verliebt?"

"Ich? Nein", hatte ich geantwortet und den Kopf geschüttelt; und dann - so leise, daß sie es nicht hören konnte - angehängt: "Oder vielleicht doch? Wer weiß ..."

Am Abend hatte ich Peter und Katharina angerufen. Wir hatten uns für den Montag abend verabredet, wir wollten Katharinas Geburtstag feiern.

Nun lag ich in meinem Bett und konnte zuerst nicht einschlafen. Dann mahnte ich mich zur Disziplin, entspannte mich, legte mir in Gedanken noch einiges für den morgigen Arbeitstag zurecht, und schließlich kam der Schlaf doch. Irgendwann kam auch mein Licht. Es berührte mich mit seinen Strahlen, ganz sanft, so wie eine Mutter ihr Kind streichelt. Ich war ganz still, ließ es geschehen und antwortete ihm mit Empfindungen der Freude und Geborgenheit.

Es wird eine schöne Zeit werden: Christus, du und ich und viele, viele andere, die unerkannt dir helfen.

"Ist es bei jedem so?"

Bei jedem, der es will. Wenn auch der Weg eines jeden anders verläuft, so ist doch die geistige Hilfe für jeden da. Sie ist so vielfältig, daß ihr Menschen euch keine Vorstellung davon machen könnt. Unzählige Boten der Himmel stehen bereit, um vorbereitend und helfend einzugreifen, wenn ihr in der rechten Weise darum bittet, das heißt mit einem ehrlichen Herzen.

"Was ist die 'rechte Weise'? Was meinst du mit 'ehrlichem Herzen'? Ist es, wenn ich nichts für mich will?"

Mein Licht ließ mir Zeit, wie um mich aufzufordern, weiterzumachen, mitzudenken. Also dachte ich mit.

"Das Ziel ist der Himmel. Folglich muß das Verhalten der Menschen - entschuldige, mein Verhalten - diesem Ziel entsprechen. Folglich kann es bei allem, was ich vorhabe und durchführe, auch nur einen Maßstab geben, den ich anlegen sollte: den gleichen, den Gott anlegt."

Wieder war ich in einer Zwickmühle. Ich spürte zwar die Richtigkeit dieser Konsequenz, aber die Vorstellung erschien mir utopisch, jemals nach göttlichen Prinzipien handeln zu können. Ich erkannte aber auch die Falle, vor der ich gewarnt worden war: Auf Grund zu erwartender Schwierigkeiten, wie es den Anschein hatte sogar Unmöglichkeiten, die Beachtung und Erfüllung des Prinzips für hoffnungslos zu erklären. Wo gab es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Ich suchte einen neuen Denkansatz. Das Licht unterstützte mich dabei mit feinsten Strahlen der wunderbarsten Farben.

"Wenn die Liebe mir helfen will und nur auf ein Zeichen meines freien Willens wartet, wird diese Hilfe immer darauf ausgerichtet sein, mich in meiner seelisch-geistigen Entwicklung zu fördern. Anders ausgedrückt: mir zu einem Verhalten zu verhelfen, in dem sich - im Endstadium - die Liebe Gottes ausdrückt." In Gedanken machte ich: "Puh!". Was für ein Anspruch!

Du weißt, daß Gott dir keine Steine gibt, wenn du Ihn um Brot bittest. Glaubst du wirklich, daß Er, daß Christus dir die Bitte, zur Liebe reifen zu dürfen, nicht erfüllt? Meinst du nicht vielmehr, daß es mehr eine Frage ist, ob diese Bitte überhaupt geäußert wird?

Es hatte natürlich wie immer recht.

Auf die richtige Weise mit einem ehrlichen Herzen zu bitten, konnte also in seiner Essenz stets nur darauf hinauslaufen, Hilfe (für sich selbst und für andere) zu bekommen für den Weg, bis man schließlich an seinem Endpunkt angelangt war. Dazu gehörten die vielen Gelegenheiten, die der Tag bot; die vielen Menschen, denen man begegnete; die Aufgaben und Prüfungen, denen man auf einmal gegenüberstand; die vielen großen und kleinen Situationen, die das Leben an einen herantrug. Ein Gedanke, ein Stoßgebet - und die Hilfe würde in dem Augenblick und in dem Maße gegeben werden, wie es für die Seele (die eigene und die des anderen) gut war.

"Und wenn ich trotz aller Hilfe stolpere, wenn ich falle?"

Dann steh' wieder auf.

Da war es wieder, dieses einfache, klare, kompromißlose Betrachten: "Dann steh' wieder auf!" Warum eigentlich nicht? "Ich kann dir sagen, warum eigentlich nicht", sprach ich zu mir selbst. "Weil du Mensch bist, weil du immer wieder schwach wirst. Vielleicht auch, weil es etwas Schöneres gibt als hinfallen, aufstehen, hinfallen, aufstehen ..."

Bist du Mensch, bist du Seele, oder bist du Geist?

Ich hatte im momentanen Aufwallen meiner Empfindungen wieder vergessen, daß meinem Licht keine Regung verborgen blieb. Ich wurde wieder "zurückgeholt". Eigentlich wurde ich wieder auf die Plattform gestellt, die wir uns in unseren Nächten bereits gemeinsam erarbeitet hatten. Ich war herabgefallen und wurde wieder aufgehoben.

"Danke", sagte ich nach einer Weile. "Wer bin ich ...?"

Das Denken, Reden und Tun eines jeden Menschen wird bestimmt von der Sichtweise, aus der sich der Mensch betrachtet. Wer sich als Mensch sieht, wird als Mensch empfinden, denken, reden und handeln. Ändert der Mensch seinen inneren Standpunkt, weil er um seine Seele weiß, dann blickt er praktisch aus einer anderen, höheren Warte auf sich und das ihn umgebende Geschehen. Er wird anderes sehen und erkennen ...

Ich wollte wieder etwas gutmachen. "Erkennt sich der Mensch schließlich in seinem Ursprung, als göttliches Wesen, kommt er nochmals zu einer anderen Sicht der Dinge. - Der Standpunkt erleichtert das Erkennen ..." Und weiter?

... und das Erkennen erleichtert es, die richtige Entscheidung zu treffen. Du erinnerst dich an das, was du über das Bewußtsein erfahren hast ... Dort, wo dein Bewußtsein ist, dort bist du mit deiner eingeschränkten oder erweiterten Erkenntnis, eventuell mit deinen Ängsten, Sorgen und Wünschen. Von dort aus reagierst du, handelst du mit einer Bandbreite von eigennützig bis selbstlos.

"Eine große Hilfe kann mir also sein, mich immer wieder zu fragen, zu prüfen, zu korrigieren: In welchem Bewußtsein lebe ich?" Was würde das werden?

Das Geheimnis liegt in den kleinen Schritten. Große Schritte, die du noch nicht machen kannst aber schon machen willst, weil du Voranstürmen mit gesundem Wachstum verwechselst, können Mühsal bedeuten. Kleine Schritte bedeuten, sich zu "bemühen". Du kannst dir kein Bild von der Langmut deines Bruders Christus und der Größe Seiner Liebe machen. E i n ernsthaftes Bemühen deinerseits, und erscheint es dir noch so klein oder gering, wird von Ihm unterstützt mit Seiner Kraft. Könntest du deinen und Seinen Anteil an der Bearbeitung einer einzigen deiner Schwächen sehen, du würdest ungläubig den Kopf schütteln beim Anblick dieses Mißverhältnisses.

"Weil Er die Barmherzigkeit ist ...", sagte ich ganz leise.

Ja, und weil Er dich, weil Er alle zurückführen wird in die Himmel. Dabei werdet ihr gemeinsam durch einen Großteil der Bereiche gehen, die zwischen hier und den Himmeln liegen. Er wird bei dir bleiben, bis du stark und strahlend genug geworden bist, den restlichen Weg allein gehen zu können.

"Und dann?"

Denke an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Es wird ein Festmahl werden.

"Was werde ich zu Hause tun?" Diesmal war es mehr als Neugier, die mich fragen ließ. Ich spürte, wie sich in mir eine Freude entwickelte. Ich wollte mich ein wenig dieser Vorfreude hingeben; denn aus der Freude, hatte ich gelernt, erwächst die Kraft.

Was macht ein Wesen der Himmel, das wieder zur Liebe geworden ist? Es schöpft, es lehrt, es hilft, es baut auf, es dient.

"Und wartet darauf, daß auch alle anderen heimfinden?"

Ja und nein. Ja, weil die Rückführung aller Seelen und Menschen im göttlichen Plan verankert ist - wobei "warten" der falsche Begriff ist, wenn es um die Ewigkeit und Unendlichkeit geht.

Nein, weil eine der dienenden, auf eigenen Wunsch übernommenen Aufgaben darin bestehen kann, erneut zu inkarnieren, um als Mensch selbstlos den Menschen auf dieser Erde zu helfen.

Das war neu für mich. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und schwieg deshalb für eine geraume Weile. Dann drängte sich mir eine Frage auf, bei der ich nicht sogleich entscheiden konnte, ob ich sie stellen sollte oder nicht. Schließlich tat ich es.

"Und du? Du bist aus den Himmeln. Hast du dich bereit erklärt, für mich da zu sein? Mich zu ertragen, meinen Eigenwillen zu erleben, mich kämpfen und verlieren zu sehen? Dabei zu stehen und nicht eingreifen zu können und zu dürfen, wenn ich gegen besseres Wissen falsch gehandelt habe? Du warst dennoch immer da, ohne die Geduld zu verlieren, ohne jemals auch nur eine negative Empfindung zu haben?"

Ja. Du bist mein Bruder.

Das ging über mein Begreifen. Es herrschte eine tiefe Stille um uns. Mein Licht pulsierte leicht, ich tat nichts. Ich empfand nur.

Gehen wir morgen an die Arbeit?

Was für eine Frage! "Natürlich", sagte ich. Mußte ich mich vorbereiten?

Nein, was du benötigst ist dein Bemühen. Den Rest steuert dein Tag bei. Und dann vergiß nicht: Gebrauche deinen ...

"Ja, ja", antwortete ich, "ich weiß ..."

Und während mein Licht schwächer wurde und mich meinem Schlaf überließ, öffnete sich mein Herz so weit, wie es ging, und ich sagte:

"Ich liebe dich."