Einführung
Das Thema klingt verlockend, denn
Mystik hat es mit Erfahrung zu tun, und gerade heute suchen viele Menschen nach
Erfahrungen im Bereich des Gebetes und der Religion überhaupt. Es ist dies ein
Suchen nach Bestätigung und Sicherheit des Glaubens, der immer mehr zu
entgleiten droht.
Das Hohelied, von dem wir sprechen,
ist eine Sammlung von Liebesliedern im Alten Testament, ein Buch der
Weisheitsliteratur von hoher poetischer Qualität. Origenes ist Ihnen, wie ich hörte,
schon ein wenig bekannt. Er gehört in die Zeit des frühen Christentums, noch
in die Zeit der Verfolgungen. Sein Vater starb als Martyrer zur Zeit des
Septimius Severus. Origenes (185-254) hat als einer der ersten einen Kommentar
zum Hohenlied verfaßt. Leider ist sein Kommentar nicht vollständig erhalten;
er kommentiert nur die ersten beiden Kapitel. Auch Homilien zum Hohenlied sind
von Origenes, allerdings nur in lateinischer Übersetzung, überliefert. Sie
behandeln ebenfalls nur die ersten beiden Kapitel des Buches. Aber man bekommt
auch so schon einen lebendigen Eindruck von dem Gesamtwerk, wenn man sich einläßt
auf die Art der Auslegung des Origenes.
Er hielt dieses Buch für das
Zentrum der Heiligen Schrift des AT. Zu einer solch hohen Wertung konnte er nur
kommen, weil er im Hohenlied nicht einfach hin nur Liebeslieder sah, sondern in
dieser verhüllten Form die Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk
besungen fand. Diese Beziehung wiederum weist hin und vollendet sich in der
Liebe Christi zu seiner Kirche, die konkret wird in seiner Liebe zu jedem
einzelnen glaubenden Menschen. Der Hoheliedkommentar des Origenes ist deshalb
ein Werk, in dem man das christliche Leben dargestellt, nein besungen findet.
Es gibt verschiedene Auffassungen
von Mystik, es gibt sie in jeder Religion. Wenn man im Christentum von Mystik
spricht, wird sie entweder als ein Sonderweg verstanden, der nur für eigens
dazu Berufene offen steht, oder als der Höhepunkt des christlichen Lebens, zu
dem jeder Christ gerufen ist. Im letztgenannten Sinn ist der Hoheliedkommentar
des Origenes ein Buch über das mystische Leben. Doch müssen wir noch näher
bestimmen, wie Mystik hier zu verstehen ist.
I. Das patristische Mystikverständnis
Weithin einig ist man sich in der
Wesensbestimmung der Mystik: Sie ist erfahrungsmäßiger Kontakt mit dem Göttlichen.
Das ist sehr weit gefaßt. In allen Religionen ist von Mystik und von mystischen
Erfahrungen die Rede, aber dabei handelt es sich um verschiedenartige
Wirklichkeiten, weil alle drei Komponenten verschieden bestimmt werden, nämlich
das Göttliche, der Kontakt und die Erfahrung, die der Mensch macht. Darum möchte
ich zuerst folgende Fragen klären, die das patristische Mystikverständnis und
speziell das des Origenes eingrenzen. Ich beziehe mich konkret auf Origenes,
vieles von dem Gesagten trifft aber auf die Kirchenväter allgemein zu.
1. Mit welchem Gott hat der Mensch
in der Mystik Kontakt?
2. Wo liegt der Berührungspunkt
zwischen Gott und Mensch?
3. Wie ist die mystische Erfahrung
zu denken und zu verstehen?
1.
Mit welchem Gott hat der Mensch in der Mystik Kontakt?
Origenes bezieht all sein Wissen
von Gott aus der Heiligen Schrift. Er ist ein ganz und gar biblischer Theologe.
Darum spricht er von dem Gott, der in Beziehung lebt und Beziehung zum Menschen
sucht. Die Heilige Schrift ist ja das Buch der Geschichte Gottes mit dem
Menschen, sie berichtet von dem immer erneuten Versuch Gottes, sich dem Menschen
zu nahen und ihm zu begegnen. Gott ist frei, er ist die Freiheit selber, darum
schenkt er dem Menschen die Freiheit, in der er sein Gegenüber sein kann.
"Der Mensch ist der fleischgewordene Dialog mit Gott",
hat Hugo Rahner gesagt. Es geht also um den Kontakt mit diesem göttlichen Gegenüber,
den Kontakt mit einem Du, einer Person. Christliche Mystik unterscheidet sich
daher wesentlich von vielen anderen mystischen Erfahrungen.
Hinzu kommt, daß dieser Gott sich
mitteilt im Wort. Gott der Vater wohnt in unzugänglichem Licht, und kein
sterblicher Mensch ist fähig, sich den Zugang zu ihm zu verschaffen. Dennoch
will Gott dem Menschen begegnen, er selber drückt sich aus in seinem Wort, und
er will den Menschen an diesem seinem inneren Wesen beteiligen. Das Wort Gottes
ist nicht ein sprachliches Gebilde, wie das unbeständige und oft wirkungslose
menschliche Wort. Der griechische Begriff "Logos" ist viel
umfassender, noch mehr das hebräische dabar. "Logos" heißt Wort,
aber auch Sinn, Plan, Vernunft, Wahrheit, dabar ist nicht nur Wort, sondern
zugleich Geschehen, Tat. Das Wort Gottes ist schöpferisch, es wirkt, was es
besagt; es ist die Herkunft und das Ziel aller Dinge; es ist lebendig und
schenkt das Leben. Noch schwerer zu begreifen: Das Wort Gottes ist Person, es
ist der ewige Sohn des Vaters. Ob man also vom Wort Gottes oder vom Sohn Gottes
spricht, in beiden Fällen ist dasselbe oder besser derselbe gemeint: Jesus
Christus. Wenn man ihn als Sohn Gottes bezeichnet, wird deutlich, daß er
wirklich eine lebendige Person ist, wenn man ihn als Wort Gottes bezeichnet,
wird klar, daß er aus dem Innersten des Vaters zu uns kommt und diesen ganz
ausdrückt.
Im Hebräerbrief wird er auch als
der Strahlenglanz der Herrlichkeit Gottes bezeichnet. Dieses Bild hat Origenes
gern aufgegriffen. Wenn der Vater der Sonne gleicht, der Quelle des Lichtes und
der Energie, so ist der Sohn oder das Wort Gottes den Strahlen zu vergleichen,
die von der Sonne ausgehen und die Gegenwart der Sonne in die Welt vermitteln.
Ebenso wie die Sonnenstrahlen uns die Sonne erkennen lassen, so macht das Wort
Gottes den Vater für die Geschöpfe erkennbar. Es ist das den Menschen
zugewandte Antlitz Gottes, die Selbstmitteilung und das Sich-Aussprechen Gottes.
2.
Wo liegt der Berührungspunkt?
Auch diese Frage trennt das
christliche und patristische Mystikverständnis von anderen Formen der Mystik.
Wir müssen den Kontakt mit Gott da suchen, wo er ihn uns gewähren will. Sein
Heil, das ist der Kontakt mit ihm, wird uns Menschen nur zuteil auf dem Weg, den
Gott vorgesehen hat. Wie wir aus der Schrift erkennen, ist der innere
Zusammenhang des Heilsplanes Gottes folgender: Gott will uns Menschen in seinem
Wort nahekommen, das uns zuerst in der Schöpfung, darauf im Wort der Schrift
begegnet und dann im menschgewordenen Wort, in Jesus Christus. Die Schrift und
die Person Jesu Christi sind eins, dabei handelt es sich nicht nur um einen
Vergleich, sondern um die innere Kontinuität der gesamten Heilsgeschichte, in
der Gott uns nahe ist in seinem lebendigen Wort.
Dieses Wort Gottes ist als Person
in zweifacher Weise körperlich sichtbar und erfahrbar geworden: in seiner
Schriftwerdung und in seiner Menschwerdung. In beiden Fällen handelt es sich um
ein und dasselbe Wort Gottes, das sich seiner Gottgleichheit (vgl. Phil 2,6-11)
entäußerte und menschliche Gestalt bzw. dem Menschen erfahrbare Gestalt
annahm. Der ewige Sohn des Vaters trat als Jesus von Nazareth in die Geschichte
der Menschheit ein, er kam in die Geschichte der ihn aufnehmenden Kirche und
bricht zu allen Zeiten als Wort Gottes in das Leben der Gemeinschaft seiner Jünger
und jedes einzelnen Menschen ein.
Wir halten fest: Der Berührungspunkt
Gottes mit den Menschen ist sein lebendiges und personales Wort. Dieses Wort
will sich mit dem Menschen verbinden, mit ihm eine Lebensgemeinschaft eingehen.
Die Wirklichkeit der Ehe ist in der Schrift und bei Origenes Bild für die größere
geistige Wirklichkeit, zu der der Mensch gerufen ist. Er soll und kann eins
werden mit dem lebendigen Wort Gottes. Das ist für uns ein etwas ungewöhnlicher
Gedanke, wir sind es nicht gewohnt, unser christliches Leben als eine Ehe mit
dem Wort Gottes zu betrachten. Das liegt daran, daß wir andere Voraussetzungen
haben für unser Verständnis von Religion. Gewöhnlich denkt man beim
Christentum nur an eine weltanschauliche Überzeugung und moralische
Ausrichtung. Heute wird Christsein und Theologie auch oft verdächtigt, rational
ausgetrocknet zu sein und die emotionale Seite des Menschen zu mißachten. Ein
Christ hat aber nach der Auffassung des Origenes nicht nur bestimmte Pflichten
und Aufgaben zu erfüllen; nicht nur sein Handeln, sondern sein Sein ist verändert
durch die Gemeinschaft mit Christus, dem Wort Gottes. Somit ist es nach
Origenes, der hier ein Wort des heiligen Paulus aufnimmt, das Ziel christlichen
Lebens, ein Geist mit dem Herrn zu werden (1 Kor 6,17) in der Analogie zu der
Einheit im Fleisch, die in der ehelichen Gemeinschaft verwirklicht wird. Als
Christen sind wir auf dem Weg dorthin. Wir können das Wort Gottes aufnehmen und
uns von ihm prägen lassen. Gott erkennen heißt, ihn erkennen in seinem Wort
und durch sein Wort, es gibt keinen anderen Zugang und keinen anderen Berührungspunkt
mit Gott, wenn man nur das Wort Gottes umfassend genug versteht. Dabei muß man
auch "erkennen" im biblischen Sinn verstehen als vertraut werden,
umgehen mit (Adam erkannte seine Frau Eva), also einen ganzmenschlichen Vorgang
darin sehen.
3.
Wie ist die mystische Erfahrung zu denken und zu verstehen?
Berührung mit Gott ist Gnade.
Origenes unterscheidet nicht zwischen Natur und Gnade; auch die Existenz des
Menschen ist schon Gnade nach seinem Verständnis, ein Anfang der Zuwendung
Gottes. Man kann auch sagen, die Erschaffung jedes Menschen ist sein
Ins-Dasein-Gerufenwerden durch das Wort Gottes; mystische Erfahrung ist das
Einswerden mit dem Wort, soweit es
dem Geschöpf möglich ist. Dazwischen liegt der Weg des christlichen Lebens.
In anderer Terminologie ausgedrückt
sagt Origenes: Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, das ist die erste
Gnade, die er empfängt. Er wird wie alle Schöpfung nach dem Wort geschaffen,
aber er ist in besonderer Weise logikos ( ), man könnte übersetzen sprachfähig
oder auch vernunftbegabt. Der Logos ist das Bild Gottes schlechthin, der Mensch
ist nach ihm geschaffen und soll diesem Bild ganz ähnlich werden. Dann ist er
voll der Gnade wie Maria; dann gewinnt Christus in ihm Gestalt, dann wird er ihm
gleichgestaltet, wird ein neuer Mensch, der nach Gott geschaffen ist. Dieses
Gnadenwirken Gottes am Menschen erfordert in der Sicht der alten Kirche keine
besonderen psychologischen Veränderungen. Es geht um ontologische, nicht
psychologische Veränderung des Menschen. Nicht die Psyche allein und nicht das
moralische Verhalten des Menschen allein, sondern das ganze Sein des Menschen
wird verändert durch die Gnade. Es gibt bei den Mystikern besondere Bewußtseinszustände,
Visionen und Ekstasen, sie können auftreten, aber sie machen nicht das Wesen
der Mystik aus, jedenfalls in der Sicht der alten Kirche. Solche Besonderheiten
können gar nicht maßgebend sein, weil ja nach der patristischen Auffassung
jeder Christ ein Mystiker werden kann und soll. Diese Sicht hat A. Stolz in
seinem Buch: "Theologie der Mystik" ausführlich dargestellt. Er
spricht von mystischen Erfahrungen, wie die Väter sie verstehen, als
transpsychologischen Erfahrungen.
Damit haben wir aber nur gesagt,
was die mystische Erfahrung nicht ist oder nicht sein muß. Welcher Art sind
aber die Erfahrungen, die Mystiker machen? Wie kann man sie denken? Es
müssen Erfahrungen mit dem Wort Gottes sein nach dem, was wir bisher
gesehen haben. Solche Erfahrungen
beschreibt Origenes in seinem Hoheliedkommentar, und in diesem Sinn ist er ein
mystisches Buch.
II. Erfahrungen mit dem Wort Gottes
Christliches Leben ist, wie
wir gesehen haben, eine Lebens- und Liebesgemeinschaft mit dem lebendigen Wort
Gottes. Origenes beschreibt die Erfahrungen, die ein solches Leben mit sich
bringt. Was unser durchschnittliches menschliches Leben an Erfahrungen enthält,
ist vermittelt und gestaltet von unseren fünf Sinnen. Um die darüberhinausgehenden
Erfahrungen mit dem unsichtbaren geistigen Wort Gottes deutlich zu machen, hat
Origenes die Lehre von den fünf geistlichen Sinnen entwickelt. Mit ihrer Hilfe
kann er von den gemeinten Erfahrungen sprechen. Es sind nicht nur Erfahrungen,
die sich im Innern des Menschen und in seinem Geist ereignen, sondern da das
Wort Gottes lebendige und freie Person ist, sind es Erfahrungen der Begegnung.
Das Wort handelt, und der Mensch nimmt dieses Handeln wahr in Freude oder Leid.
Origenes besteht darauf, daß er
eine solche Lehre nicht sich selbst und seiner Einbildungskraft verdankt,
sondern sie vielmehr in der Heiligen Schrift gefunden hat. Die Schrift spricht
von einem Schauen, Hören, Riechen, Kosten und Berühren der Wirklichkeit
Gottes, die uns nahekommt in seinem Wort. Aber wir müssen bedenken: Ein Christ
hat nicht einfachhin die fünf geistlichen Sinne, so wie er die natürlichen
Sinne hat. Sie müssen in der Analogie zu diesen gebildet und entwickelt werden.
Das ist die Aufgabe unseres christlichen Lebens. Alle unsere Wahrnehmungen sind
ja selektiv. Unsere innere Einstellung bestimmt die Art der Selektion. So können
wir sagen, daß wir nur hören und sehen, was wir hören und sehen wollen. Und
auch umgekehrt gilt: Das, was der Mensch sieht und hört, prägt seine ganze
Einstellung. Hören und Schauen, und Entsprechendes gilt auch von den anderen
Sinnen, verändert den Menschen.
Gehen wir nun näher auf die
einzelnen Sinne ein.
Hören
Jeder von uns kann die Verkündigung
hören; damit fängt der Glaube an. Aber man hört zunächst erst einmal die
Stimme, den Klang, den äußeren Wortlaut. Was mit dem geistlichen Hören
gemeint ist, ist viel mehr, aber es fängt mit diesem äußeren, körperlichen Hören
an. Nur wer aufmerksam zuhört, d.h. sich mit ganzer Intensität dem Wort Gottes
zuwendet, der wird hören lernen, was Gott ihm sagen will. Offenbarung ist ein
Substantivum activum; Offenbarung ereignet sich also, wenn wir in dem äußeren
Wort die Stimme des Herrn erkennen. Wir können und müssen fragen, wie wir zu
einer solchen Erfahrung gelangen.
Sie ist nicht machbar, wie alle
Erfahrungen mit dem Wort Gottes, von denen wir jetzt sprechen. Das Wort, der
Sohn Gottes selber muß uns ansprechen. Er will zum Menschen sprechen, das ist
ohne Frage, er will uns den Weg des Lebens zeigen, uns seine Liebe erklären,
von der Freude sprechen, die er uns schenken will. Auch wenn er den Menschen vor
die Entscheidung stellt und ihm den Ernst seiner Situation enthüllt, wenn er
ihm droht und seinen Zorn offenbart, auch dann ist das eine Erklärung seiner
Liebe. Gottes Zorn und Eifersucht, die in der Heiligen Schrift an vielen Stellen
deutlich werden, sind die Kehrseite seiner Liebe, der wir und unser Tun nicht
gleichgültig sind. Das Wort muß also zuerst zu uns sprechen, damit wir es hören
können. Die Initiative liegt bei ihm.
Wie aber können wir Gott in seinem
Wort suchen? Zunächst einmal, indem wir uns mit der Schrift beschäftigen. Wir
können nie sagen, daß wir die Bibel oder auch nur einen ihrer Texte ein für
allemal verstanden haben, sondern wir müssen uns immer neu bemühen, auf sie zu
hören und zu begreifen, was Gott uns in ihr und mit ihr heute sagen will. Darum
heißt es im Psalm: "Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer
Herz nicht" (Ps 95,7f; vgl. Hebr 3,7-19).
Die Aussage, wir müßten uns
"bemühen", könnte allerdings zu dem Mißverständnis führen, die
Gegenwart Christi und das Hören seiner Stimme in der Schrift hinge von unserer
Leistung ab. Das wäre falsch. Es ist völlig klar, daß wir uns einerseits ganz
einsetzen müssen, daß aber die Begegnung mit Christus beim Aufnehmen der
Schrift reines Geschenk bleibt. Gott ist kein Götze, der sich durch unsere
Anstrengung zwingen läßt, sondern er ist frei, zu erscheinen oder sich zu
entziehen, wie er will. Eine lebendige Beziehung braucht zwar ständige Bemühung,
aber sie ist an keine Leistung gebunden, die man erbringen kann.
Insofern
kann das Hohelied mit Recht als Drama bezeichnet werden, denn es enthält die
dramatische Geschichte der Begegnung, aber auch der Entfernung von Gott und
Mensch. Dramatisch ist diese Geschichte, weil es nicht um einen monotonen
Wechsel von Suchen und Finden geht, sondern um eine Entwicklung, bei der der
Mensch das Wort Gottes in dem Maße, in dem er vom Wort geliebt wird und ihm
nahekommt, immer tiefer versteht und deshalb sein verbleibendes Unverständnis
immer schmerzhafter empfindet.
Der
Weg in die Nähe des Wortes Gottes kann auch beschrieben werden als Weg vom Hören
zum Schauen, wobei Schauen die unmittelbare Gegenwart ausdrückt. Wir könnten
auch die Begriffe Meditation und Kontemplation benutzen. Zunächst einmal sind
wir auf das Hören angewiesen. Es ist uns aber verheißen, daß wir das Wort
eines Tages auch schauen dürfen:
Im Hohenlied heißt es ja:
"Horch! Mein Geliebter! Sieh da, er kommt. Er springt über die Berge, hüpft
über die Hügel" (Hld 2,8). Das erste ist die Aufforderung zum Hören.
Deshalb erklärt Origenes im Kommentar dazu:
Wenn
also auch wir das Wort Gottes sehen wollen, den Bräutigam des Menschen, wie er
über die Berge springt und über die Hügel hüpft, dann laßt uns zuerst seine
Stimme hören. Wenn wir ihn in allem gehört haben, dann werden wir auch fähig
sein, ihn zu sehen.
Wer glaubend hört, tritt in ein
Gespräch ein, er läßt sich ansprechen und gibt dem Gehörten Raum, um darauf
antworten zu können. Wir alle sind als Christen Gerufene, in dieses Gespräch
mit Gott von Anfang an einbezogen. Das Volk Gottes und jeder einzelne glaubende
Mensch hört also zunächst die Stimme des Bräutigams, er erfährt seine
Gegenwart im Wort und lernt ihn so lieben. Er hört die einladende, aber
manchmal auch furchtbare und drohende Stimme dessen, der mit ihm spricht. Immer
aber ist es Glück, angesprochen zu sein.
Hören ist nicht so unmittelbar wie
Sehen. Deshalb gehört es zum Glauben, der ja nach dem Wort des heiligen Paulus
aus dem Hören kommt. Offenbar muß der Mensch erst glauben lernen, damit ihm
Gott dann die volle Erkenntnis in der Schau schenken kann. Durch den Glauben,
der immer auch Gehorsam ist, reinigt er den Menschen; und wenn sein Herz rein
geworden ist, darf er die unmittelbare Gegenwart des Wortes in der Schau genießen.
Diese Dynamik vom Hören zum
Schauen kann man in der ganzen Heiligen Schrift verfolgen. Das Alte Testament
betont das Hören, der Menschgewordene aber wird geschaut. Vor allem wird der
Auferstandene gesehen, er beruft seine Zeugen, indem er sich sehen läßt. Unter
den Evangelien ist vor allem das Johannesevangelium dadurch gekennzeichnet, daß
neben das Hören die Betonung des Schauens tritt. Das Wort Gottes führt den
Menschen in seiner Beziehung zu Gott also immer vom Hören bis zur unmittelbaren
Begegnung im Schauen.
Schauen
Das Wort Gottes ist unsichtbar. Wie
kann man es also sehen? Wir sehen es in der Schöpfung, vor allem in ihrer Schönheit
und Lebendigkeit. Wir sehen seine Personhaftigkeit in dem Menschgewordenen, in
Jesus Christus. Aber das alles ist Verhüllung, die wir durchdringen müssen, um
zum eigentlichen Kern, der Schönheit des Wortes Gottes selber zu kommen. Doch
der Mensch kann von sich aus nicht dahin gelangen, das Wort muß sich ihm
offenbaren und die Liebe in ihm entflammen.
Von
himmlischer Liebe und himmlischem Verlangen wird ein Mensch bewegt, wenn er die
Schönheit und Pracht des Wortes Gottes erblickt, seine Gestalt liebgewinnt, von
ihm gewissermaßen mit einem Pfeil getroffen und durch die Liebe verwundet wird.
Denn dieses Wort ist "das Bild" und der "Abglanz des unsichtbaren
Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung, in dem alles geschaffen ist, alles,
was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare" (Kol
1,15f). Vermag also jemand mit aufnahmefähigem Geist die Schönheit und
Herrlichkeit von allem, was in ihm erschaffen wurde, zu ahnen und zu erwägen,
so wird er von der Pracht der Dinge und ihrem großartigen Glanz erschüttert,
und gleichsam, wie der Prophet sagt, von einem "auserwählten Pfeil" (Jes
49,2) durchbohrt. Er empfängt von ihm eine heilbringende Wunde und entbrennt
von dem seligen Feuer der Liebe zu ihm.
Das Wort zeigt also seine Schönheit
und seinen Reichtum, seinen Glanz und seine Herrlichkeit. Zunächst ist es verhüllt,
wir erblicken es nur rätselhaft, in Umrissen, aber es will uns seine ganze Schönheit
zeigen, damit wir hingerissen lieben.
Um die Schönheit des Wortes Gottes
sehen zu können, muß man entsprechende Augen haben, Augen, die den inneren,
geistigen Gehalt des Wortes Gottes erblicken, nicht nur seine äußere Gestalt.
Der Bräutigam im Hohenlied preist die Augen der Braut, die er mit Tauben
vergleicht. In der Taube sieht Origenes einen Hinweis auf den Heiligen Geist. Er
muß das geistige Verständnis schenken, die geistigen Augen, die es aufnehmen können.
"Es
scheint, daß die Braut jetzt zum erstenmal aufmerksam die Schönheit des Bräutigams
wahrgenommen und mit den Augen, von denen es heißt, sie glichen Tauben, die Würde
und Schönheit des Wortes Gottes erblickt hat. Denn man kann wirklich nicht
erkennen und wissen, wie groß die Erhabenheit des Wortes ist, wenn man nicht
zuerst sozusagen Taubenaugen, d.h. geistiges Verständnis erhält".
Dieses Sehen verändert den
Menschen und verleiht auch ihm eine neue Gestalt. Immer wieder zitiert Origenes
in seinen Werken die hierfür grundlegende Stelle aus dem 2. Korintherbrief:
"Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn
wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu
Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn" (2 Kor 3,18).
"Je
mehr man ihn mit geistigen Augen zu sehen vermag, umso schöner wird er (der Bräutigam)
erfunden. Denn es wird nicht nur seine eigene Gestalt und wunderbare Schönheit
erscheinen, sondern auch dem, der ihn anschaut, wird eine gewaltige Schönheit
und eine neue und wunderbare Gestalt zuteil. Das entspricht dem, was der
Apostel, der die Schönheit des Wortes Gottes erblickte, sagt: "Wenn auch
unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird von Tag zu Tag
erneuert" (2 Kor 4,16)
Riechen
Duft ist etwas Unbegrenztes. Wer
ihn wahrnimmt, wird angezogen. Der heilige Paulus verwendet das Bild vom Duft,
um auf die apostolische Verkündigung hinzuweisen. Er sagt: "Dank sei Gott,
der uns stets im Siegeszug Christi mitführt und durch uns den Duft der
Erkenntnis Christi an allen Orten verbreitet. Denn wir sind Christi Wohlgeruch für
Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verlorengehen. Den
einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt, den anderen Lebensduft, der Leben
verheißt" (2 Kor 2,14-16). Der Duft macht auf die Gegenwart Christi
aufmerksam, auf die die Menschen unterschiedlich reagieren.
Das Wort erweist seine Liebe darin,
daß es seinen Wohlgeruch ausströmen läßt, der Freude bereitet und anziehend
wirkt, aber nicht automatisch. Christus führt die Menschen in die Entscheidung,
und auch das geistige Verständnis, das ihn in allen Teilen der Schrift
entdeckt, zwingt zur Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben. Nur wer
glaubt, daß Christus das Wort Gottes ist, das Fleisch geworden und in die Welt
gekommen ist, kann diesen Wohlgeruch wahrnehmen.
Die
Braut sagt in einer Prophezeiung, daß bei der Ankunft unseres Herrn und Erlösers
sein Name so über den Erdkreis und die ganze Welt ausgegossen wird, daß er
angenehmer Duft an allen Orten ist, wie auch der Apostel sagt: "Denn wir
sind Christi Wohlgeruch an allen Orten, jedoch für die einen Todesgeruch zum
Tode, für die anderen aber Duft des Lebens zum Leben" (2 Kor 2,15f). Denn
wenn er für alle Duft des Lebens zum Leben wäre, hieße es sicher auch hier:
Alle haben dich geliebt und haben dich an sich gezogen. Aber jetzt heißt es, daß
sie dich liebten, als dein Name zu einem ausgegossenen Salböl wurde. Gemeint
sind nicht jene alten, in den alten Menschen gekleideten Menschen, nicht die,
die Flecken und Makel haben, sondern die Mädchen, d.h. Menschen, die an Alter
und Schönheit zunehmen, die immer neu werden, die von Tag zu Tag erneuert
werden, indem sie den neuen Menschen anziehen, der nach Gott geschaffen ist.
Christus liebt alle Menschen, das
wird gerade mit dem Bild des Salböls oder Parfums ausgedrückt. Denn er ist
ausgegossenes, ausgeleertes Salböl. Das erinnert an den Hymnus des
Philipperbriefes, in dem es heißt, daß er sich selbst entleert hat, als er die
Sklavengestalt annahm (vgl. Phil 2,7). So wurde er als Mensch für alle faßbar,
als Wort Gottes erfüllt er die ganze Schrift mit seinem Wohlgeruch, der seine
Gegenwart anzeigt.
Mit dem Bild des Parfums wird
betont, daß Christus immer anwesend ist. Duft läßt sich nicht beschränken
und begrenzen. Deshalb kann man in diesem Bild die Liebe Christi, des lebendigen
Wortes, zur ganzen Menschheit sehen. So macht das Wort mit seinem wohlriechenden
Duft auf sich aufmerksam, damit alle, die diesen Duft lieben, ihm mit Eile und
Hingabe folgen.
Wenn aber Menschen das Wort Gottes
an sich gezogen und es ihrem Verstehen und Denken eingefügt haben, wenn sie die
Lieblichkeit und Süße seines Duftes empfunden und den Wohlgeruch seiner Salben
wahrgenommen haben, dann bedeutet das: Sie haben den Sinn seiner Ankunft, den
inneren Zusammenhang von Erlösung und Leiden sowie seine Liebe erkannt, in der
er als der Unsterbliche zum Heil aller bis zum Tod am Kreuz kam. Von all dem
lassen sich die Mädchen, d.h. die
Menschen, die voll von Lebenskraft und freudigem Eifer sind, ansprechen und
einladen, und dann laufen sie ihm nach, seinem süßen Duft nach. Sie gehen
nicht gemessenen und langsamen Schrittes, sondern in raschem Lauf und mit ganzer
Eile, so wie jener, der sagte: "Ich laufe, damit ich es erreiche" (1
Kor 9,24)
.
Die Liebe derer, die das Wort
lieben und von seinem Duft angezogen werden, zieht wiederum das Wort an, und
seine Liebe besteht auch und gerade darin, sich anziehen zu lassen. Eine solche
Wechselwirkung löst der Duft aus, der Duft des mit dem Heiligen Geist
Gesalbten, der Leben schenkt aus Gott und für Gott.
Kosten
"Kostet und seht, wie gut der
Herr ist" (Ps 34,9). Auf diese Psalmstelle kommt Origenes immer wieder zurück,
um deutlich zu machen, daß man das Wort Gottes auch verkosten kann. Es ist
wohlschmeckende Nahrung und köstlicher, belebender Trank.
Jeder Mensch braucht Nahrung für
sein Leben, wir sprechen auch von Nahrung und Ernährung im übertragenen Sinn.
Die eigentliche Speise des Menschen ist das Wort Gottes; sie ist es deshalb,
weil sie dem Menschen das wahre und ewige Leben schenkt. Wer in und aus der
Beziehung zum Wort Gottes lebt, der hat eine andere Lebensqualität, er darf in
Fülle leben. Nur gilt auch hier: Der Mensch muß es lernen, von dieser Nahrung
zu leben, er muß es lernen, sie zu genießen. Dann kann er nicht mehr davon
ablassen.
Der
Geschmack, der einmal das gute Wort Gottes gekostet hat, sein Fleisch und das
Brot, das vom Himmel herabkam, wird es nicht ertragen, danach noch etwas anderes
zu verkosten. Wegen seiner Süße und Lieblichkeit wird ihm alles andere widerwärtig
und bitter schmecken, und er wird sich daher von ihm allein ernähren wollen.
Denn er wird in ihm alle Süßigkeit finden, alles, was er begehrte, denn das
Wort Gottes paßt sich jedem Geschmack an. Daher wird es für die, die aus
unvergänglichem Samen wiedergeboren sind (vgl. 1 Petr 1,23), zur unverfälschten
Milch des Geistes (vgl. 1 Petr 2,2); denen, die in irgendeiner Hinsicht schwach
sind, teilt es sich als Gemüse mit in seiner freundlichen und gütigen
Gastlichkeit (vgl. Röm 14,2). Denjenigen aber, die wegen ihrer Aufnahmefähigkeit
geschulte Sinne haben, um Gutes und Böses zu unterscheiden, bietet es sich als
feste Speise dar (vgl. Hebr 5,14). Bei solchen Menschen aber, die aus Ägypten
ausgezogen sind und, indem sie der Feuer‑ und Wolkensäule folgen, in die
Wüste kommen, steigt es vom Himmel zu ihnen herab und gibt ihnen eine zarte,
feine Speise, die der Speise der Engel ähnlich ist, so daß der Mensch das Brot
der Engel ißt (vgl. Ex 16,14f; Ps 78,24f).
Das Wort Gottes enthält in sich noch viele andere, ja unzählige
verschiedene Arten von Speise, die ein Mensch, solange er noch mit Haut, Knochen
und Sehnen bekleidet ist, nicht fassen kann. Wer aber würdig erfunden wurde,
umzukehren und bei Christus zu sein, und wer, da er im Kleinen treu erfunden
wurde, über vieles gesetzt wird, der wird die Freude des Herrn kosten und
aufnehmen. Er wird an einen Ort geführt werden, der wegen der Fülle und
Verschiedenartigkeit der Speisen, die es dort gibt, Ort der Wonne genannt wird.
Deswegen heißt es auch von ihm, er liege in Eden, was "Wonne"
bedeutet. Denn dort wird zu ihm gesagt: "Freue dich am Herrn" (Ps
37,4).
Das Bild von der Nahrung des Wortes
Gottes ist in der Schrift ganz geläufig. Sie spricht auch von den
verschiedenartigen Speisen, die dem Menschen nicht alle zu jeder Zeit zuträglich
sind. So gibt es Menschen, die im Glauben noch unreif sind und deshalb Milch
brauchen (vgl. Hebr 5,12; 1 Petr 2,2). Andere dagegen können feste Speisen zu
sich nehmen (Hebr 5,14). Eine Zwischenstufe stellen diejenigen dar, die wegen
ihrer Schwachheit im Glauben nur Gemüse zu sich nehmen können, wie Origenes im
Anschluß an Röm 14,2 (wörtliche Übersetzung) ausführt. Für alle aber gilt,
daß das Wort Gottes immer neu ist und nie Überdruß hervorruft, ja sogar sich
jedem Geschmack anpaßt wie das Manna.
Es gibt nicht nur unterschiedlich
schwierige Texte, sondern es gibt auch bei jedem einzelnen Text unterschiedliche
Ebenen und jeder empfängt das, was er gerade braucht:
Denn
alles wird das Wort Gottes für jeden einzelnen, je nachdem, wie es die
Fassungskraft und die Sehnsucht dessen, der an ihm teilhat, verlangen;
dementsprechend schmeckte auch das Manna, obwohl es ein und dieselbe Speise war,
jedem einzelnen nach seinem Verlangen. So bietet auch Christus sich selbst nicht
nur den Hungernden als Brot und den Dürstenden als Wein dar, sondern er gibt
sich auch denen, die Freude suchen, als duftendes Obst. Deshalb also bittet auch
die Braut, obwohl sie schon erquickt und gut genährt ist, mit Äpfeln gestärkt
zu werden, da sie weiß, daß nicht nur alle Nahrung für sie im Wort enthalten
ist, sondern auch alle Freude.
Beim Bild vom Trank wird diese
Seite der Erfahrung noch deutlicher. Wein als Zeichen für die Fülle des Lebens
gehört zum Festmahl, denn er ist nicht unbedingt nötig für den Menschen, dem
als Getränk auch Wasser genügen könnte. Die Lehre und der Inhalt des Wortes
Gottes wird als Wein bezeichnet. Der König zeigt seine Liebe, wenn er den Wein
seines Wortes ausschenkt. Die Braut spricht zu ihrem Geliebten:
Dein
Herz, mein Bräutigam, und dein Geist, d.h. die Lehren, die in dir sind oder die
Gnade der Lehre, übertrifft all den Wein, der das Herz des Menschen zu erfreuen
pflegt.
Auch diese Freude muß der Mensch
erleben lernen, sie ist ihm nicht von Anfang an gegeben. Wenn er sie aber einmal
gefunden hat, dann zeigt sich gerade in ihrer Unausschöpfbarkeit, daß sie von
göttlicher Qualität ist.
Der
Wein aber, der vom wahren Weinstock stammt, ist immer neu. Denn immer wird, wenn
man beim Lernen fortschreitet, die Erkenntnis an Einsicht und göttlicher
Weisheit erneuert. Daher sagt auch Jesus zu seinen Jüngern: "Neu werde ich
ihn mit euch trinken im Reich meines Vaters" (Mt 26,29). Denn immer
erneuert sich die Erkenntnis der Geheimnisse und die Offenbarung des Verborgenen
durch die Weisheit Gottes, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die
Engel und die himmlischen Mächte.
Berühren
Erfahrungen von Berührung
vermitteln unmittelbare Nähe und Geborgenheit. Im Hohenlied heißt es:
"Seine Linke liegt unter meinem Haupt, seine Rechte umfängt mich" (Hld
2,6). Auch diese Erfahrung bezieht Origenes auf die Beziehung des Wortes Gottes
zum glaubenden Menschen. Was sollen wir uns darunter vorstellen? Wie kann ein
Mensch die Umarmung des Wortes erfahren? Origenes macht darauf aufmerksam, daß
die natürliche Liebeskraft des Menschen sublimiert werden kann, so daß der
Mensch die unsichtbare Weisheit und das Wort Gottes liebt.
Und daß das Wort Gottes dem Menschen seine Liebe erweisen kann, ist dann
selbstverständlich klar, wenn man ihm Freiheit und Leben zutraut.
Die Linke und die Rechte des Wortes
Gottes sind seine beiden Seiten: sein göttliches Wesen, das immer beim Vater
ist, und seine menschliche Natur, die auch sein Leiden und seine Niedrigkeit mit
sich brachte. Diese Linke, damit wird symbolhaft die im Wert geringere Seite
bezeichnet (vgl. Gen 48,14; Mt 25,33), stützt dennoch den Glauben der Kirche,
seine Rechte aber hält sie ganz umfaßt.
Die
Kirche, deren Haupt Christus ist, wünscht also, diese Linke unter ihrem Haupt
zu haben, und möchte, daß ihr Haupt durch den Glauben an seine Menschwerdung
gestützt ist. Auch wünscht sie, daß seine Rechte sie umarmt, d.h. daß sie
erkennt und unterrichtet wird über die Dinge, die vor der Zeit des
Heilsratschlusses, den er in der Menschwerdung verwirklichte, geheim und
verborgen gehalten wurden. Denn man muß annehmen, daß alles die Rechte
darstellt, was nichts vom Elend der Sünde, nichts von Hinfälligkeit in sich
hat. Die Linke aber bedeutet, daß er unsere Wunden heilte und unsere Sünden
trug, indem er selbst für uns zur Sünde und zum Fluch wurde (vgl. Gal 3,13).
Obwohl alle diese Dinge das Haupt und den Glauben der Kirche stützen, werden
sie dennoch zu Recht "Linke" des Wortes Gottes genannt.
Vom Wort Gottes umarmt werden,
bedeutet, sein Nähe spüren, in Lebensgemeinschaft mit ihm verbunden sein. Der
ganze Mensch kann die Liebe des Wortes Gottes erfahren, von ihm berührt, beschützt
und geheilt werden.
"Christus
ist den an ihn Glaubenden alles geworden, damit sie ihn auf unterschiedliche
Weise erfassen können. Er ist für sie Brot und Wein, Duft und Salböl, Licht
und Wort, berührbarer Mensch, damit alle Sinne etwas von seiner Wirklichkeit
aufnehmen können. Das alles jedoch ist ein und dasselbe Wort Gottes, das sich
in all dem den Neigungen des betenden Menschen anpaßt und so keinen einzigen
Sinn der Seele von seiner Gnade unberührt läßt".
Man könnte nicht mit voller
Berechtigung von der sinnenhaften Erfahrung des Wortes sprechen, wenn es nicht
Mensch geworden wäre und sich als Person dem Menschen nahegebracht hätte. Es
ist das lebendige Wort, das mit dem Menschen eine eheliche Gemeinschaft eingeht,
und darum ist die Erkenntnis, von der wir hier sprechen, der ehelichen
Erkenntnis, von der die Schrift immer wieder spricht (vgl. z.B. Gen 4,1: Adam
erkannte Eva, seine Frau), zu vergleichen. Darum kann H.U. von Balthasar sagen:
"Gott bleibt der mich Erkennende; ... als der von Gott Erkannte bin ich.
Paulus hat dieses Grundverhältnis in immer neuen, ganz klaren Formeln umkreist:
Die Gnosis bläht auf, die Liebe dagegen baut auf. Bildet sich einer auf seine
Gnosis etwas ein, so weiß er noch nicht einmal, wie sein Erkennen beschaffen
sein soll. Wer Gott liebt, der wird von ihm erkannt (1 Kor 8,1-3). ... Alles
beginnt mit der Liebe zu Gott, und von dieser wird die eigentliche, die
Sehnsucht des Menschen erfüllende Erkenntnis hergeleitet: die eheliche
Erkenntnis, die Gott von dem ihn Liebenden hat und die er ihm notwendig
mitteilt".
Offenbar hat Origenes mit dieser
Lehre von den geistlichen Sinnen bei seinen Zuhörern und Lesern Schwierigkeiten
bekommen. Es schien ihnen zu unrealistisch, was da von inneren Erfahrungen mit
dem Wort Gottes behauptet wird. Origenes kennt keine andere Argumentation als
die mit der Schrift selbst. Sie spricht offenkundig von den Sinnen des inneren
Menschen, die etwas von dem Licht, der Wahrheit, dem Wohlgeruch und der
Wohlgeformtheit des Wortes wahrnehmen können.
Wenn
jemand dem Glauben fernsteht, ist es kein Wunder, wenn er diese Dinge für töricht
und lächerlich hält. Wenn jedoch einer glaubt und die Autorität der Schrift
anerkennt, dennoch aber diese geistige Erklärung nicht annimmt, sondern sie
verlacht und ableugnet, wollen wir versuchen, ihn aus anderen Schriftstellen zu
unterweisen und zu überzeugen, damit er vielleicht so wieder zu Verstand kommt.
Wir wollen folgendermaßen zu ihm sagen: Es steht geschrieben: "Das klare
Gebot des Herrn erleuchtet die Augen" (Ps 19,9). Er möge uns sagen, was
das für Augen sind, die durch das Licht des Gebotes erleuchtet werden? Und
weiter: "Wer Ohren hat zu hören, der höre" (Mt 13,9). Was sind das für
Ohren, von denen es heißt, daß nur, wer sie besitzt, die Worte Christi hört?
Weiter: "Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott" (2 Kor 2,15) und
an anderen Stellen: "Kostet und seht, wie süß der Herr ist" (Ps
34,8). Und was sagt ein anderer? "Unsere Hände haben das Wort des Lebens
berührt" (1 Joh 1,1). Meinst du, dieser Mensch werde nicht durch
alle diese Schriftstellen dazu gebracht zuzugestehen, daß dies nicht von den körperlichen
Sinnen gesagt ist, sondern von den Sinnen, die der innere Mensch hat, wie wir
gesagt haben?.
Im Buch der Sprichwörter wird, was
die Weisheit ihren Liebhabern zu bieten hat, sehr sinnenfreudig dargestellt, sie
deckt den Tisch, sie bereitet das Mahl mit Brot und Fleisch, sie
schenkt den Wein ein (vgl. Spr 9,1-5), Origenes ergänzt aus dem
Hohenlied: Sie setzt duftende Äpfel vor, die den Geschmack und den Geruch
gleichzeitig erfreuen
Wir können uns fragen, ob wir das nachempfinden können. Die meisten
Christen müssen wohl antworten: Nicht so ohne weiteres. Vielleicht ahnen wir
manchmal etwas von der Freude, die das Wort Gottes schenken kann. Wir dürfen
sie ein klein wenig verkosten. Dann kommt es darauf an, ob wir mehr ersehnen.
Auch die geistlichen Sinne müssen geschult werden, und das geschieht
zuallererst durch Einüben. Im Hebräerbrief ist von den geübten Sinnen die
Rede, die gut und böse unterscheiden können (vgl. Hebr 5,14)
III. Logosmystik
Solche Erfahrungen mit dem
Wort Gottes sind im eigentlichen Sinn des Wortes Gnade, freie und nicht
geschuldete Zuwendung Gottes. Keiner kann sie verdienen, keiner sie mit
irgendeiner Methode erreichen. Es sind mystische Erfahrungen, mit denen aber
keine auffallenden außerordentlichen Phänomene verbunden sind. Man braucht dafür
keine besondere Veranlagung, sondern nur die Liebe zum Wort der Heiligen Schrift
und den Glauben daran, daß Gott in ihm dem Menschen begegnen will.
Dargestellt wird eine solche
Haltung im Menschen durch die Königin von Saba, die kam, um die Weisheit
Salomos zu erfahren (vgl. 1 Kön 10,1-10). Im Hohenliedkommentar verkörpert sie
den Menschen, der mit allem Einsatz danach strebt, dem Wort Gottes zu begegnen.
Denn sie kommt schließlich von sehr weit her auf einer beschwerlichen Reise.
Was sie mitbringt, sind Gold und süße Wohlgerüche, die ihre ganze
Bereitschaft zum Verstehen, ihre Bitten und Gebete um Einsicht symbolisieren.
Was sie empfängt, ist viel mehr, als ihr verheißen worden war. Sie kann nur
staunen und all die Herrlichkeit preisen, die sie sieht. Sie kann nur die Frauen
Salomos und seine Diener glücklich preisen, weil sie immer bei ihm sind. So in
der Erzählung aus dem ersten Buch der Könige. Wenn wir in Salomo das Wort und
die Weisheit Gottes erkennen, können wir mit Origenes die Geschichte so deuten:
Die
Frauen Salomos sind glücklich. Gemeint sind zweifellos die Menschen, die Anteil
erhalten am Wort Gottes und an seinem Frieden. Glücklich sind seine Diener, die
immer vor ihm stehen. Nicht die sind glücklich, die manchmal dort stehen und
manchmal nicht, sondern die, die immer und ohne Unterbrechung vor dem Wort
Gottes stehen. Eine solche war jene Maria, die zu Füßen Jesu saß und ihn hörte.
Der Herr selbst legte Zeugnis für sie ab und sagte zu Marta: "Maria hat
den besten Teil erwählt, der wird ihr nicht genommen werden" (Lk 10,42).
Wir können die Mystik des Origenes
als Logosmystik bezeichnen. Mystische Erfahrungen, wie er sie darstellt, sind
Erkenntnisse des Wortes Gottes, die den ganzen Menschen erfassen und berühren
und ihn das Glück des ewigen Lebens kosten lassen. Was wir Menschen dazu tun können,
um auf diesem Weg voranzuschreiten, wird von Origenes kurz gesagt:
Nur
wer das Wort Gottes mit ganzer Leidenschaft und Liebe in seinem Herzen hält,
kann den Duft seines Wohlgeruchs und seiner Süße fassen.
Eine Frage wird hier entstehen: Wo
bleibt bei Origenes die Erfahrung der dunklen Nacht? Kennt er nur die positive
Seite, die Erfahrung der Gegenwart Gottes? Im Hohenlied ist zwar hauptsächlich
von den Erfahrungen der Nähe des Geliebten die Rede, aber doch auch von seiner
schmerzlich erlebten Abwesenheit.
Die Liebe des Wortes zeigt sich
darin, daß es allmählich seine Gegenwart schenkt, nicht plötzlich und nicht
in einem einzigen Augenblick, damit so die Liebe der Braut wächst und stark
wird. Der Mensch muß in einem Reifungsprozeß zur Liebe hinwachsen. Wirkliche
Liebe braucht Zeit, das weiß Gott, und darum nähert er sich dem Menschen
langsam. Er will in ihm ja die Liebe groß werden lassen. Wer die Heilige
Schrift liebt, kann nicht erwarten, daß sie sich ihm schnell, beim ersten
Lesen, erschließt. Genau das will das Wort nicht, weil es dem Menschen schaden
würde. Da das Wort den Menschen vor allem die Liebe lehren will, übt es ihn
ein in Geduld und Treue. Durch die Abwesenheit des Geliebten wird die Sehnsucht
und damit die Fassungskraft des Menschen immer größer. Die Zeit der
Abwesenheit des Geliebten, ohne Bild gesagt: die Zeit der scheinbaren Unzugänglichkeit
des Wortes Gottes ist wichtig für den Menschen, weil sie eine Prüfung für ihn
darstellt. Seine Treue wird geprüft; wenn er sie besteht, wird seine Liebe geläutert
und gefestigt. Diesen Prozeß will das Wort Gottes im Menschen fördern.
Wir haben von den fünf geistlichen
Sinnen gesprochen, die uns eine Erfahrung mit dem Wort Gottes schenken. Wie tief
diese Erfahrung den Menschen berührt, hängt davon ab, wie intensiv die
Begegnung mit dem Wort Gottes ist. Auf jeden Fall ist sie vielfältig und
vielgestaltig, die Verschiedenheit der Sinne macht ja unser menschliches Leben
und Erleben sehr reich. Am intensivsten entfaltet Origenes im Hohenliedkommentar
die verschiedenen Seiten der Begegnung mit Christus, dem lebendigen Wort Gottes,
das dem Menschen immer neue Freude schenkt. Vollkommen selig ist der Mensch,
dessen Sinne alle in der Lage sind, das Wort Gottes zu erleben.
Es
wird aber nicht nur der Geschmackssinn erfreut werden, sondern auch das Gehör,
die Augen, der Tast‑ und der Geruchssinnn werden erfreut werden. Denn ein
solcher Mensch wird im Duft seiner Salben laufen. Und so wird der, der zur höchsten
Vollkommenheit und Seligkeit gelangt ist, in allen seinen Sinnen vom Wort Gottes
erfreut werden.
Christus
macht sich für solche, die nach dem Ausspruch des Apostels geübte Sinne haben
zur Unterscheidung von gut und böse, jedem einzelnen Sinn der Seele zu etwas
Eigenem. Denn er wird deshalb wahres Licht genannt, damit die Augen der Seele
ein Licht haben, von dem sie erleuchtet werden; Wort, damit die Ohren etwas zu hören
haben; Brot des Lebens, damit der Geschmackssinn der Seele etwas zu kosten hat.
Also
wird er auch deshalb Narde genannt, damit der Geruchssinn der Seele den
Wohlgeruch des Wortes empfängt. Darum heißt es auch, er sei tastbar und mit Händen
berührbar geworden und darum wird er auch das fleischgewordene Wort genannt,
damit die innere Hand der Seele etwas vom Wort des Lebens ertasten kann.
Das
alles jedoch ist ein und dasselbe Wort Gottes, daß sich in all dem den
Neigungen des bittenden Menschen anpaßt und so keinen einzigen Sinn der Seele
von seiner Gnade unberührt läßt.
Kein Sinn wird ausgelassen. Alle
Seiten unseres menschlichen Lebens können in Berührung mit dem Wort kommen.
Die mystischen Erfahrungen, die Origenes beschreibt, sind daher vielfältig und
reich. Sie können nicht nach Art und Reihenfolge geordnet werden, noch kann man
sagen, wie der mystische Weg eines jeden Menschen verläuft. Nur das Ziel ist
klar: die Einheit des ganzen Lebens mit Christus, der beständige Dialog mit dem
lebendigen Wort, der immer neues Glück schenkt und im Unglück das Ziel
deutlicher erkennen läßt.
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H. Rahner, Das Menschenbild des Origenes, Eranos-Jahrbuch XV (1947)
197‑248, hier 203.
Vgl. Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien I,1,6 und I,2,7. In diesem
Bild für die dreifaltige Einheit Gottes ist der Heilige Geist der Wärme
und dem Licht der Sonne zu vergleichen, d.h. der Wirkung der Sonne in der
Welt. Im Licht und in der Wärme der Sonne erfahren wir sie und leben in
ihr.
Im Alten Testament wird das Gleiche auch durch den "Namen" oder
die "Weisheit" Gottes ausgedrückt, obwohl noch nicht ausdrücklich
von einer zweiten göttlichen Person die Rede ist.
A.
Stolz, Theologie der Mystik (Regensburg 1936) 175-192.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
3,11,20.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
Prolog
2,17.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
3,2,1.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
1,4,2f.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
1,4,5.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
1,4,12-14.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
3,8,11f.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
1,2,6.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
3,6,9.
Vgl. Origenes, Kommentar zum Hohenlied
3,9,5.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
3,9,9f.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
2,9,14.
Balthasar,
H.U.v., Kennt uns Jesus - kennen wir ihn? (Freiburg 1980) 66.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
1,4,25f.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied 3,5,6f.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
2,1,37.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied
2,10,11.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied 1,4,15.
Origenes,
Kommentar zum Hohenlied 2,9,11-14.
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