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Das Neue Weltbild

   

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

   

   

  

 

 

 

 

 

 

   

   

  

 


 

 


 

 

 


 

Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff
Studientagung "Eingeladen zum Fest der Freiheit- Theologie des christlichen Handelns bei dem Kirchenvater Origenes" Erbacher Hof - Akademie des Bistums Mainz 30/31.10.1998.

 

EINSICHT UND VERANTWORTUNG
  ZUR RELIGIÖSEN ERFAHRUNG DES ORIGENES

 

 

1. Der biographische Hintergrund religiöser Erfahrung

2. Die intellektuelle Grunderfahrung

3. Der soziale Ort religiöser Erfahrung

4. Mystik und Ekstase in der religiösen Erfahrung des Origenes

 

 

1. Der biographische Hintergrund religiöser Erfahrung 

 

Einen ersten Zugang zur religiösen Erfahrung eines Menschen bietet seine persönliche Biographie. Sie gibt nicht nur Aufschluß über die entscheidenden Lebenserfahrungen, über Konfliktsituationen und Reifungskrisen, die seinen Glaubensweg geprägt haben. Im Fall eines christlichen Denkers vom Rang des Origenes dürfen wir, auch damit rechnen, daß die theologische Reflexionsgestalt, in der seine religiöse Erfahrung zur Sprache kommt, von den biographischen Eckdaten seines persönlichen Lebens bestimmt bleibt. Mehr als einen Fingerzeig in dieser Richtung gibt uns Origenes freilich nicht an die Hand. Ein biographischer Interpretationsansatz seines gewaltigen theologischen Werkes, der uns zugleich Aufschluß über seine religiöse Erfahrung geben könnte, scheitert an der Spärlichkeit persönlicher Nachrichten, die uns seine Schriften überliefern. Anders als Augustinus, der nicht nur ein Genie religiöser Erfahrung und ehrlicher Selbstbeobachtung war, sondern es als erster antiker Mensch auch zur Meisterschaft ihrer literarischen Mitteilung brachte, verhält sich Origenes seinen Lesern gegenüber ausgesprochen zurückhaltend. Über das Martyrium seines Vaters, das in seine Jugendzeit fiel, über die Gefahr der Verfolgung, die sein Leben ständig begleitete, über die im hohen Alter ertragene Folter, aber auch über die persönliche Enttäuschung, die ihm innerkirchliche Feindschaft bedeutet haben muß, erfahren wir von ihm selbst auffallend wenig. Ein spärliches Selbstzeugnis liefert uns der junge Origenes, der sich als Prediger vor der Jerusalemer Gemeinde mit den fast entschuldigenden Worten vorstellt, er sei strenger und härter als ihr guter Bischof Alexander1. Den biographischen Hintergrund für diese Selbsteinschätzung müssen wir den Nachrichten entnehmen, die uns andere über Origenes überliefern, insbesondere der Darstellung des Eusebius im sechsten Buch seiner Kirchengeschichte.

Aber der strenge Charakterzug, den die Verfolgungssituation seinem Leben einprägte, liefert uns doch einen Schlüssel zum Verständnis vieler Einzelthemen, die in seinem Licht zur einheitlichen Deutung einer religiösen Grunderfahrung zusammenwachsen. Das theologische Denken des Origenes ist von der Einsicht beherrscht, daß Christsein Mühe und Verzicht, ständige Arbeit an sich selbst und unablässige Anstrengung erfordert. Unser irdisches Leben ist ein einziger Kampf, dem sich keiner entziehen kann. Die große Frage an das Leben der Sterblichen ist nicht, ob sie in der Arena überhaupt antreten, sondern auf welcher Seite sie den Kampf aufnehmen wollen, in der militia Christi oder im Heer des Antichristen2. Die Welt als Kampfstätte und die Geschichte als Kriegsschauplatz - so erfährt Origenes das Leben, so sieht er die Aufgabe des Christseins. Die Erlösung, die Christus den Menschen gebracht hat, führt nicht zur ruhenden, ungefährdeten Einheit mit Gott oder zur mystischen Versenkung in den obersten Seinsgrund; der religiösen Erfahrung des Origenes fehlt der quietistische Zug seines Lehrers Klemens und seines früheren Mitschülers Plotin3.

 

Vor allem in der Aufforderung zum Märtyrium und in seiner Schrift über das Gebet stellt Origenes den kämpferischen Charakter des christlichen Lebens nachdrücklich heraus. Der Sinn der fünften und sechsten Vaterunser-Bitte ist nicht, daß wir keine Versuchung mehr erleiden und gegen das Böse nicht mehr kämpfen müssen, sondern daß wir in der Versuchung und im Kampf gegen das Böse nicht fallen4. Die Frage Ijobs, ob denn das Leben eine einzige große Versuchung ist (vgl. Ijob 7,1), enthüllt nur der Menschen mühevolles Los, denn ,,vom Versuchtwerden gibt es keine Befreiung"5. Die entgegengesetzte Hoffnung lähmt unsere Widerstandskraft gegen das Böse; sie hüllt das Leben in den illusionären Schein einer frommen Selbsttäuschung, die dort besonders gefährlich wirkt, wo sie - wie im Fall der gnostischen Erlösungsmystik - in religiösem Gewand auftritt. Die Aussicht, sich des erlösten Daseins ohne die Mühe eigener Anstrengung zu erfreuen, ist nichts als ein frommer Selbstbetrug, gegen den Origenes im Namen des wirklichen Lebens protestiert. ,,Glaube nämlich nicht, das Neuwerden des Lebens, von dem es heißt, es sei einmal geschehen, genüge schon; immer und täglich muß gewissermaßen das Neuwerden des Lebens selbst erneuert werden" 6. Die Bereitschaft, die ,,Mühe des Neuwerdens" 7 auf sich zu nehmen, ist in den Augen des Origenes geradezu ein Kriterium authentischer religiöser Erfahrung, das diese von dem illusionären und in der eigenen Lebenspraxis folgenlosen Erlösungsbewußtsein der gnostischen Mystik unterscheidet.

 

 

Die Erfahrung der Verfolgungszeit erklärt aber nicht nur die Anschauung des Origenes von der Last und Anstrengung des ethischen Lebens, sie kehrt als gedeutete Erfahrung in der Theorie von den unausweichlichen Geqensätzen des Lebens wieder, in der er die stoische Paradoxienlehre aufgreift. Das Erlebnis eines ständigen Entscheidungszwanges übersetzt sich darin in eine ontologische Auslegung des menschlichen Lebens, deren kompromißlose Folgerichtigkeit ohne diese biographische Wurzel unverständlich bleibt. Der Mensch steht für Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein, die sein Leben als absolute Gegensätze bestimmen. Zwischen ihnen gibt es keine gleitenden Übergänge wie in den Emanationsreihen der gnostischen Systeme, sondern nur ein Entweder—Oder, in dem der Mensch sich entscheiden muß. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt auch in der existenziellen Logik des menschlichen Daseins; er zielt nicht nur auf die Widerspruchsfreiheit des Denkens, sondern auch auf die Eindeutigkeit des Lebens., Der Mensch wählt das Gute oder das Böse, er trägt den ,,Brief der Gerechtigkeit Origenes immer in einer unausweichlichen Wahl zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis," oder, den ,,Brief der Sünde" (vgl. 2 Kor 3,2-3), das Bild des Himmlischen oder das Bild des Irdischen mit sich; er geht durch die Tore der Zionsstadt oder durch die Tore des Todes (vgl. Ps 9,14>; er vertraut auf das Testament Gottes oder das Testament Satans (vgl. Gal 4,24>; er ist ,,Bauwerk Gottes" oder ,,Bauwerk des Teufels" (vgl.1 Kor 3,9) niemals aber kann er sich zwischen diesen Polen oder im Übergang aufhalten. Die Symbolik der Gegensätze, deren einzelne Bausteine Origenes der weitverzweigten biblischen Metaphorik entnimmt, stellt uns vor die Alternative, entweder das Leben oder den Tod zu wählen8. Hinter der ethischen Urwahl zwischen Gut und Böse steht der ontologische Gegensatz von Sein und Nicht-Sein, den Origenes in scharfer Antithetik entfaltet. Wie wir in der Entscheidung für die Gerechtigkeit oder die Sünde keinen neutralen, unentschiedenen Stand einnehmen können, so gibt es auch kein ,,mittleres", dem Leben und Tod der Seele gegenüber indifferentes Sein. Das ,,gewöhnliche" Leben erscheint nur im Vergleich mit dem Tod des ,,bösen" Lebens überhaupt als Leben. In sich selbst hat es keinen Bestand; es ,,ist" nur als eine Zerfallsgröße, die in ihrem Sein ständig vernichtet wird. Entsprechend kommt das ,,gute" Leben nicht als weitere Zutat zum Grundstock des normalen Lebens hinzu, sondern es ist die einzige Möglichkeit, dem drohenden Nicht—Sein des Todes zu entkommen. Gemessen an dem guten Leben, das allein wirkliches, dauerhaftes Leben ist, kann das mittlere, gewöhnliche Leben nur ein Zustand der Abgestorbenheit und Leere sein, der sich nach dem, was er eigentlich bereits ist, nur noch als ,,Leben des Todes" beschreiben läßt9. Die Ausweglosigkeit der Entscheidung, vor die sich der Mensch gestellt sieht, ist so der Ausdruck eines ontologischen Grundgesetzes, unter dem alles Leben steht. Was sich auf den ersten Blick wie eine verstiegene metaphysische Spekulation über die entgegengesetzten Arten des Lebens und des Todes ausnimmt, erweist sich als philosophische Deutung einer tieferliegenden religiösen Erfahrung, die ihrerseits in einem biographischen Urerlebnis wurzelt.

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2. Die intellektuelle Grunderfahrung

 

Von der persönlichenen Lebenserfahrung eines Menschen, die sich vor allem im Stil und der ,,Gestimmtheit" seines Denkens, aber auch in einzelnen Denkfiguren wiederfindet, ist eine weitere Erfahrungsebene zu unterscheiden, die sich als intellektuelle Erfahrung verstehen läßt. Wenn ein christlicher Denker die erste und letzte Gewissheit des Geistes, daß ,,die für uns schlechthin grundlegende Erfahrung die unserer Freiheit ist"10 von seinem Glauben her deutet, wird auch sie zu einer Dimension seiner religiösen Erfahrung. Bei Origenes läßt sich sogar zeigen, wie sein markantes theologisches und philosophisches Eigenprofil gerade aus der religiösen Deutung seiner Freiheitserfahrung erwächst. Bei. allen Fäden, die ihn mit der gesteigerten Erkenntnissehnsucht der spätantiken Welt verbinden, unterscheidet sich Origenes darin deutlich von dem philosophischen Ideal einer reinen Kontemplation des Geistes, das bei Plotin seinen höchsten Ausdruck findet.

 

Seine Abkehr von dieser Entwicklungslinie des griechischen Denkens läßt sich leicht anhand der Beschreibung erkennen, die Hans Jonas von ihrem bei Plotin erreichten Endpunkt bietet. Danach ist ,,die Theorie als solche praktisch, indem die Spekulation selber zum Medium ihrer Erfahrung wird"11. Einer solchen Dominanz des theoretischen Lebensideals, für die das Denken den einzigen Zugang zum Sein bildet und zur einzigen noch verbleibenden Lebensform des Menschen aufsteigt, ist Origenes auch in seinen jungen Jahren nicht erlegen. Ethische Praxis ist für ihn weder nur die kathartische Vorstufe noch allein die zeitweilige Unterbrechung der Kontemplation; vielmehr sind Theorie und Praxis innerhalb des einen Lebenszieles wie zwei kommunizierende Röhren zugeordnet, deren Pegel nur miteinander steht oder fällt.

 

Wenn Origenes im Blick auf die Erkenntniskraft des menschlichen Geistes seine Hörer dazu auf fordert, die Gebote zu halten, weil wir dadurch ,,eine genauere Sicht im geistigen Sinn" erlangen und ,,die Augen unseres inneren Menschen weiter hindurchblicken" 12, läßt sich dies noch im Sinn des späteren Aufstiegsschemas verstehen, für das die reinigenden Tugenden als ethische Voraussetzung der Erkenntnis unverzichtbar sind. Auch hat Origenes dieses Schema noch nicht durchbrochen, wenn er die Verheißung der Bergpredigt: ,,Selig sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen" (Mt 5,8) als die Maxime einer Selbstreinigung zum Zwecke der Erkenntnissteigerung versteht:

,,Rein muß sein, was dazu fähig sein soll, das Reine würdig zu schauen"13. Aber der Grundsatz, daß weder die Theorie noch die Praxis ohne das andere zu haben sind 14 , gilt auch in umgekehrter Richtung. Die Liebe erkennt den Herrn nicht nur durch ihre guten

Werke, sie sucht die Erkenntnis auch wegen der Werke, die sie verrichten will. So heißt es in der Aufforderung zum Martyrium, in der Origenes das Idealbild des vollkommenen Jüngers zeichnet, von den Christen, daß sie ,,Erkenntnis ersehnt haben wegen der Werke, die der Erkenntnis ziemen" 15.

 

Für den Christen Origenes gibt es keinen Aufstieg der Seele, der sie auf dem Weg der Kontemplation immer weiter vom aktiven Leben fortführt, bis er sich an seinem Endpunkt in reine Gnosis verwandelt. Eine frühe Auslegung der Verklärungsperikope, die sich leicht im Sinne eines stufenweisen Aufstiegs deuten ließe, der über das tätige Leben hinausführt, zielt überraschend auf die entgegengesetzte Pointe; je weiter einer auf den Berg der Weisheit emporsteigt, desto höher steigen auch seine Werke mit auf l6. Selbst das ,,ewige Evangelium", das voll der unaussprechlichen Geheimnisse ist und die ,,vollkommenen Lehren des Himmels" enthält, ist kein Ziel reiner Entkenntnissehnsucht. Wie Origenes in seinem Johanneskommentar ausführt, dem Werk also, indem er sich von seiner erkenntnisfreudigsten Seite zeigt, sind auch unsere guten Taten darin "eingepflanzt", und dies nicht nur, weil sie uns bereits jetzt einen Zugang zum ewigen Evangelium gewähren, sondern auch, damit sie darin für die Zeit der Ernte aufbewahrt bleiben17.

 

Hinter dieser zu seiner Zeit ungewohnten Hochschätzung der vita activa steht ein ausgeprägtes Freiheitsbewußtsein, das als die grundlegende geistige Erfahrung des Origenes anzusehen ist. Die Sorge, seine Hörer könnten vor dem anspruchsvollen Weg der Freiheit zurückschrecken und diese an ihre ,,Veranlagung" oder einen angeblichen Zwang ihrer ,,Natur" abtreten, wiegt für ihn schwerer als die umgekehrte Gefahr, das Wissen um den gnadenhaften Geschenkcharakter des christlichen Lebens zu verdunkeln. Als Schriftausleger und Prediger fürchtet Origenes offenbar nichts mehr, als daß die Religion des Christentums zum süßen Gift wird, dessen narkotisierende Wirkung die bewußte Lebensführung der Menschen und das Vertrauen in ihre freie Entscheidungkraft lähmt. Wo er sich nach der Seite dieses Mißverständnisses hin abgrenzt, da schreckt er auch vor überzogenen Formulierungen nicht zurück. Wie anders soll man die Aussage der Grundlagenschrift verstehen, daß ,,es aber unser eigenes Werk ist, gut zu leben und daß Gott dies als etwas von uns fordert, das nicht von ihm ist"18. Nicht nur der Beginn des guten Werkes hängt vom Entschluß unseres freien Willens ab, auch unser weiteres sittliches Wachstum und unser Voranschreiten in der Gnade vollziehen sich nur in dem Maß, in dem wir uns dafür bereit halten. Das anstößige Wort aus dem Matthäusevangelium: ,,Wer hat, dem wird gegeben werden ..." (Mt 25,29) findet darin seine Erklärung, daß uns die göttliche Gnade im Verhältnis (kata analogian) zur Größe unserer freien Entscheidung gegeben wird; den gleichen Sinn liest Origenes in die Jüngerbitte: ,,Vermehre unseren Glauben" (Lk 17,5 oder den Ausdruck des Johannesprologs ,,Gnade über Gnade" (Joh 1,16) hinein19. Hier verleitet ihn die Erfahrung, daß die Freiheit stets ein bedrohtes, unter Anstrengung zu bewahrendes Gut bleibt, sogar zu einer gewaltsamen Exegese, die dem Wortsinn dieser Texte geradewegs zuwider läuft.

Um der gleichen Erfahrung willen besteht der junge Origenes auch darauf, daß jeder seinen Rang unter den geistigen Wesen zu jeder Zeit selbst bestimmt und darin von keinen substanziellen Schranken seines Wesens begrenzt wird20. Die Welt der Freiheit ist ein Reich der grenzenlosen Möglichkeiten, die außer der Fähigkeit zu weiterem Aufstieg und Fall nichts Feststehendes und keinen Halt kennt. Der Teufel kann darin zum Erzengel und der Engel zum Teufel, der Mensch ,,Himmel" oder ,,Erde" werden und — je nachdem wie schwer er sündigt — bis zur untersten Stufe der Dämonen herabsinken 21. Eine solch schwindelerregende Konzeption verliert wenigstens ein Stück ihrer Befremdlichkeit, wenn wir sie als Deutungsversuch einer geistigen Erfahrung verstehen dürfen, von der Origenes wie gebannt ist. Nur wenn die Freiheit der geistigen Wesen als innerer Motor den ganzen Weltprozeß in Gang hält, so glaubt er zumindest zur Zeit seines frühen Systementwurfs annehmen zu müssen, wird ihr im Denken der Rang zuerkannt, den sie in der ursprünglichen Selbsterfahrung des Geistes besitzt.

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3. Der soziale Ort religiöser Erfahrung

 

Zur ursprünglichen Selbsterfahrung des Menschen gehört nicht nur das Bewußtsein seiner Freiheit, sondern auch das Erlebnis des Mitseins mit den anderen. Die Spannung, in der beide Pole des menschlichen Daseins zueinander stehen, bestimmt in der einen oder anderen Weise alles philosophische Denken, denn sie gibt Aufschluß über den gemeinsamen Erfahrungshintergrund, vor dem es seinen sozialen ,,Ort" findet. In einem zeitgeschichtlichen Umfeld, in dem die Philosophie den Rückzug ins Private antritt und die großen Themen der platonischen und aristotelischen Ethik die öffentliche Verantwortung des Denkens und das antike Freundschaftsideal aus den Augen verliert, kann das Festhalten an der Dimension des Mitseins mit den anderen geradezu auf eine spezifisch religiöse Erfahrungsquelle verweisen, die dem Denken des Origenes seine unverwechselbare Gestalt gegenüber der zeitgenössischen Philosophie verleiht.

 

 

Origenes hat die soziale Verbundenheit der Menschen in einem sehr realen Sinn verstanden. Auch wenn die Aufgabe der Freiheit jedem für sich selbst zugelastet ist und die Anstiegsbewegung seiner Seele den einzelnen als einzelnen beansprucht, so muß er diesen Weg doch nicht alleine gehen. Origenes versteht das Wort des johanneischen Christus, er sei seinen Jüngern eine ,,wahre Speise" für das ewige Leben (Joh 6,53-55) so, daß es von allen Menschen gilt. Jeder ist für die anderen eine Speise, die sie im Guten wie im Bösen nährt; in jedem Wort und in jeder Tat stärken oder schwächen sich die Menschen gegenseitig. Reine Speise und reiner Trank ist allein Jesus, denn jedes seiner Werke ist heilig und sein Wort ist wahr. Danach kommen die Apostel und ihre Schüler, da aber jeder dein zum Apostel wird, zu dem er gesandt ist, werden wir alle entsprechend der Reinheit unserer Sinnesart zu einer reinen Speise. In jeder Begegnung, in jedem Wort, und in jeder leisen Gestik werden wir den anderen oder werden diese für uns Speise zum Nutzen oder zum Schaden der Seele, denn ,,es ist unmöglich, daß wir nicht irgendeinen Geschmack aufnehmen oder darbieten" 22.

 

 

Die Spannung zwischen dem Selbstsein jedes Einzelnen und seinem Mitsein mit dem anderen sieht Origenes auch in dem biblischen Bild vom ,,Ackerfeld Gottes" (1 Kor 3,9; vgl. Gen 27,27> angesprochen, das er auf das gemeinsame Christsein der Gläubigen in der Kirche überträgt. Jede Seele besitzt einen Acker, den sie durch ihre Anstrengung zur Selbstvervollkommnung bebaut, daneben aber besitzen alle Töchter Jerusalems auch einen gemeinsamen Acker, den sie zusammen bestellen. Der Acker jeder einzelnen Seele ist ihre eigene Lebensführung, durch die sie ihren auf das Gute gerichteten Sinn wachsen und gedeihen läßt; der Acker, der allen gehört, ist das commune exercitium des kirchlichen Glaubens und seiner Lebensweise. Die Arbeit im Acker der einzelnen Seele und die im gemeinsamen verhalten sich wie Vorbereitung und Durchführung zueinander; indem die einzelne Seele ihre Fähigkeiten heranbildet, bestellt sie auch den großen Acker und umgekehrt können sich ihre Anlagen erst dann voll entfalten, wenn sie in den Acker der Kirche eingepflanzt sind23. Die Auslegung dieses Pauluswortes im Hohe—Lied—Kommentar ist nur ein Beispiel für die zugleich individuelle und ekklesiologische Interpretation, zu der sich Origenes von der biblischen Symbolik anregen läßt. Er hat die Metaphern des Hohen Liedes, besonders natürlich das Bild von der Braut, nicht nur als erster auf die Kirche und die Einzelseele angewandt, sondern auch beide Auslegungen miteinander verbunden.

 

 

Das Zueinander von geistiger Selbsterfahrung und solidarischer Verbundenheit, von Einsicht und Verantwortung, prägt das origeneische Vollkommenheitsideal wie die zwei Pole einer Ellipse —wenn das in der Origenesforschung viel strapazierte Bild noch einmal Verwendung finden darf. Häufig stehen sie in unverkennbarer Spannung zueinander, aber dann behält doch wieder das Bemühen die Oberhand, sie nicht auseinanderbrechen zu lassen. Ein Beispiel dafür, wie Origenes die Erkenntnissehnsucht der Vollkommenen und ihre Verantwortung für die Einfachen zunächst auseinanderstreben läßt, um am Ende beide wieder zusammenzuführen, gibt die Auslegung des Gespräches Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen. Warum heißt es, so fragt Origenes, wenn der Evangelist von der Anbetung in Geist und Wahrheit spricht, einmal nur ,,die Stunde kommt" (Joh 4,21), das andere Mal aber ,,die Stunde kommt, und sie ist jetzt da" (Joh 4,23). Der Zusatz deutet darauf hin, daß die vollkommenen Gläubigen den Vater nicht erst außerhalb ihres Körpers, also nach Ablauf ihrer irdischen Lebenszeit, sondern bereits jetzt auf vollkommene Weise anbeten.

 

Deshalb kann der Vater nicht erst wenn die Stunde kommt in Geist und Wahrheit angebetet werden, sondern schon wenn sie jetzt da ist, auch wenn man dabei denken könnte, daß wir in Jerusalem bleiben um deretwegen, die nur bis dorthin gelangen können24

 

Origenes faßt hier einen merkwürdigen Gedanken ins Auge, der gleichsam zwei konkurrierende religiöse Erfahrungsebenen miteinander zu verbinden sucht. Er bremst seinen kontemplativen Elan, der ihn über seine irdische Existenzform hinaus zu einer ,,mehr als menschlichen", engelartigen und göttlicheren Anbetung des Vaters treibt und bleibt um der Menge der Einfachen willen in ,,Jerusalem". Er verzichtet auf das Privileg eines engelgleichen Lebens, damit er den ungebildeten und einfachen Menschen näher ist, für die er sich verantwortlich weiß. Müssen wir in dieser Einordnung in die Kirche die ,,Unterordnung unter eine innerlich überstiegene Größe" (W. Völcker) sehen und die Frage nach der intellektuellen Redlichkeit einer solchen Haltung stellen?25 Immerhin beruft Origenes sich auf das Beispiel des Paulus, der die Verantwortung für seine Gemeinde über die Sehnsucht, beim Herrn zu sein, stellte und den Juden ein Jude geworden ist (vgl. 1 Kor 9,20). Auf jeden Fall steht hinter einer solchen, von der Rücksichtnahme auf die Fassungskraft der Einfachen geleiteten Einstellung eine andere religiöse Erfahrung, als sie etwa Plotin gemacht haben muß, der auf den ,,gemeinen Haufen" indigniert herabschaut und in ihm nur den ,,Handlanger" für die notwendigen Bedürfnisse der Edlen sehen kann26.

Auch Origenes rechnet damit, daß nur ein kleiner Kreis unter seinen Hörern die höchste Stufe eines vollkommenen Jüngers erreichen kann. Zum einen sind nur wenige zu solch anspruchvolle Freiheitsgebrauch überhaupt fähig, zum anderen übersteigt die Einsicht in die himmlischen Geheimnisse die geistige Fassungskraft der meisten Menschen27. Dennoch führt sein ethisches und religiöses Ideal nicht zu einem esoterischen Elitebewußtsein, da die solidarische Verantwortung für die Menge der einfache Gläubigen hinter sich läßt. Jesus selbst hat ,,die nicht verachtet, die in der Seele arm sind", und seinem Vorbild folgend dürfen auch seine Jünger nicht ,,von oben, als seien sie Große, auf die herabschauen, die in der Kirche wie kleine Kinder sind." In der großen Menschheitspyramide, die von den vielen Heiden über die Scharen der Gläubigen zu den Jüngern und schließlich bis zu Spitze der Apostel reicht, ist die breite Masse nicht für die oberen Stufen, sondern sind diese für die unteren da. Die Jünger müssen von dem Berg, auf dem sie aus dem Mund Jesu die Geheimnisse seines Evangeliums vernehmen, zu den Scharen hinabsteigen und auch ihnen die frohe Botschaft verkünden28. Als sie die Menge hungrig nach Hause schicken wollen, bekommen sie zur Antwort:

 

Da ich euch also erzogen und fähig gemacht habe, den Bedürftigen vernünftige Speise zu geben, darum gebt ihr de Scharen, die mir gefolgt sind, zu essen. Ihr habt nämlich Macht, und zwar von mir empfangen, den Scharen zu essen zu geben 29.

 

 

Für Origenes gibt es keine Nachfolge, ohne zu den anderen gesandt zu sein und keine Erkenntnis, ohne für sie Verantwortung zu tragen. Gerade darin bleibt er als christlicher Theologe den Ursprüngen der griechischen Philosophie nahe. Die Universalität der platonischen Bildungskonzeption überlebt nicht in der zeitgenössischen Philosophie, sondern im Raum der Kirche, in der das Denken zu seinem sozialen ,,Ort" zurückfindet, der ihm sei dem Untergang der antiken Polis entschwunden ist.

Die Erfahrung, die Origenes als Prediger gemacht hat - er predigt über Jahre hinweg mit Unterbrechungen fast täglich, und dies zum Stöhnen seiner Hörer oft eine Stunde lang — hat auf sein Denken zurückgewirkt. Er weigert sich, den Alltagsverstand der Menge als letztes Maß für die Erkenntnisfähigkeit des einzelnen hinzunehmen; vor allem lehnt er es ab, sie als eine amorphe Masse anzusehen. Nicht nur zwischen den einfachen und den fortgeschrittenen, den noch weiter voranschreitenden und den vollkommenen, sondern auch unter den ,,Scharen" der einfachen Christen gibt es Unterschiede. Auf sie muß der Verkündiger achten, wenn er das ihm anvertraute Wort Gottes jeder einzelnen Seele so darbieten möchte, daß er sie zu ihren eigenen Möglichkeiten emporführt Origenes klagt selbst darüber, daß ihm dies oft nicht gelingt, und daß er viele seiner Hörer überfordert. Wichtiger als dieser Mißerfolg ist aber, daß ihm die Erfahrung im Umgang mit den untereinander so verschiedenen Menschen Hochachtung vor ihrer Individualität und Besonderheit gelehrt hat. Sein ,,System", wie wir es aus der Grundlagenschrift rekonstruieren müssen, stand einem solchen Erfahrungszuwachs eher im Weg; es bleibt geradezu blind für den positiven Rang menschlicher Individualität. Wenn alle Unterschiede unter den Menschen aus dem Abfall der Seelen hervorgehen und der ganze Prozeß aufeinanderfolgenden Welten nur den Sinn hat, die Einheit des Anfangs wiederherzustellen, dann bleibt alle Besonderheit reine Negativität, die am Ende wieder auf gehoben werden muß. Aus seiner Predigttätigkeit aber weiß Origenes, daß die Einmaligkeit der Menschen kein Hindernis für das Gute ist; sie stellt vielmehr einen Wert dar, der in der den Anfang überbietenden Vollendung nicht verloren gehen darf. Aus dieser Nahperspektive geht ihm auf, was er zur Zeit seines frühen Systementwurfs niemals hätte zugeben können, daß nämlich der Schöpfer ,,die Herzen aller Menschen als einzelne geformt hat"30.

Ohne den sozialen Erfahrungshintergrund einer christlichen Gemeinschaft wäre Origenes kaum zu dieser Einsicht gelangt; sie erforderte zudem Lernbereitschaft und den Willen, die Erfahrungstreue des Denkers über dessen Zwang zur inneren Kohärenz zu stillen.

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4. Mystik und Ekstase in der religiösen Erfahrung des Origenes

 

Die religiöse Erfahrung des Origenes kam in den ersten drei Schritten nicht als eigenes Segment neben anderen Erfahrungsbereichen, sondern als die religiöse Deutung seiner biographischen, intellektuellen und sozialen Grunderfahrung in den Blick. Religiöse Erfahrung gibt es aber auch als abgrenzbaren Erfahrungsausschnitt, der neben den anderen Lebensbereichen steht und von diesen zu unterscheiden ist. Mystische Erlebnisse bilden einen Teil der religiösen Erfahrung in diesem engeren Sinn, aber das punktuelle Erlebnismoment ist ihr nicht wesentlich. Das gilt gerade für Origenes, der ohne Zweifel mystische Erfahrung gemacht, aber wohl kaum ein mystisches ,,Erlebnis" gehabt hat. Von einer visionären Ekstase, wie sie Augustinus in seinen Bekenntnissen oder wie sie Porphyrius von seinem Lehrer Plotin berichtet, ist in den Schriften des Origenes nirgends die Rede. Die berühmte 27. Numerihomilie, in der er die verschiedenen Stationen auf dem Weg Israels durch die Wüste allegorisch auf den Weg der Seele zur Vollkommenheit bezieht, bezeugt durch den rhythmischen Wechsel von Trauer und Freude, Dunkelheit und Licht zwar das Vorhandensein mystischer Erfahrung, nicht aber ein ekstatisches Erlebnis im Sinn eines punktuellen Durchbruchs durch die gesamte Wegstrecke des ethischen Lebens31.

 

Der Streit der älteren Forschung, ob Origenes visionäre ,,Unio-Erlebnisse" (W. Völcker) und ein Aufgehen seines eigenen Ich im göttlichen Geist gekannt hat, führte paradoxerweise zur richtigen Antwort auf eine falsch gestellte Frage. Die Kategorie des Ekstatischen meint bei Origenes nicht die Außergewöhnlichkeit visionärer Erlebnisse, sondern einen ontologischen Wesenszug des Menschen, dem das eigene Sein nicht als statischer Besitz, sondern als Aufforderung zu dynamischem Mehr—Sein gegeben ist. Anders als der plotinische Weise, dem die reine Ekstase seines Geistes in seltenen Augenblicken geschenkt wird, erfährt der vollkommene Christ sein ganzes Leben als die ,,Stelle", an der das Vollkommene erscheint. Als ein ewiger Wanderer verwirklicht der Mensch in den Augen des Origenes sein Lebensziel nicht im punktuellen Durchbruch durch das gewöhnliche Leben, sondern in der graduellen Annäherung des täglichen an die ,,Grenze" des vollkommenen Lebens. Für die Frage nach der religiösen Erfahrung des Origenes ist es deshalb entscheidend, wie man den ekstatischen Grundzug seines Denkens versteht, nicht aber, ob man ihm visionäre Erlebnisse zutraut.

 

Über diese noch recht allgemein gehaltene Feststellung zum Begriff der Ekstase im Denken des Origenes dürfen wir jedoch noch einen Schritt hinausgehen. Das Wort Nietzsches vom Privileg des ,,großen Menschen", wonach jeder nur dann ein Recht hat, seine innere Erfahrung auszusprechen, wenn er auch eine Sprache dafür zu finden weiß32, läßt sich im Sinne eines Rückschlußverfahrens auch umkehren. Origenes hat auf dem Gebiet der Mystik ungemein anregend gewirkt und einen Großteil des Wortschatzes geprägt, den die mittelalterlichen und neuzeitlichen Mystiker später verwenden. Ist eine solche sprachschöpferische Leistung ohne eigene ,,innere" Erfahrung überhaupt denkbar? Christus als Bräutigam der Seele, als Pfeil, der sie durchbohrt und verwundet, die Gottesgeburt im menschlichen Herzen, der ständige Wechsel von Fülle und Leere, Beglückung und Traurigkeit, Einssein und Verlassenheit, die Finsternis im Wesen Gottes33 — die Liste dieser Einzelthemen, als deren erster Traditionszeuge Origenes zu gelten hat, läßt sich leicht vermehren. Die Unterschiede zu den späteren neutestamentlichen Schriftstellern wie auch zu seinem Zeitgenossen Plotin sind zu groß, als daß sich diese Motive aus einer gemeinsamen literarischen Überlieferung erklären ließen. Fast wider Willen und ohne den Zwang zur literarischen Mitteilung, der für Augustinus so bezeichnend ist, verrät Origenes in diesen Bildern etwas von der mystischen Erfahrung, die er selbst gemacht hat.

 

 

In einem einzigen Punkt erlaubt uns Origenes einen tieferen Einblick in seine persönliche Glaubenserfahrung. Im Prolog zum fünften Buch seines Johanneskommentar, wo er sich gegen den Vorwurf der Vielschreiberei verteidigt, führt er zur Rechtfertigung seines anspruchsvollen Vorhabens, die heiligen Texte zu erforschen und ihnen innere Einsicht abzuringen, zunächst pragmatische Gründe wie die pädagogischen Erfordernisse des Unterrichts oder die Notwendigkeit an, die kirchliche Lehre gegen den Einspruch der Häretiker zu verteidigen. Zum Schluß aber nennt er das Motiv, das ihm selbst am wichtigsten ist und das seine Gegner auch dann anerkennen müssen, wenn sie den Nutzen der wissenschaftlichen Theologie für die Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens nicht einsehen können. Die angestrengte Suche derer, die sich mit einem ,,vernunftlosen und unwissenden Glauben" (alogé kai idiotiké pistis) nicht zufrieden geben, geschieht, wie alle Mühe um Einsicht, nicht um ihrer selbst und auch nicht allein um ihres kirchenpolitischen Nutzens willen, sondern aus Liebe zu Jesus34. Ihr ist alle Sehnsucht nach Erkenntnis und alle Anstrengung zu verstehen35 untergeordnet, ihr dient das Bemühen, andere zur Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse emporzuführen. Eine vertraute Beziehung zu Christus, verstanden als Liebe zu dem Menschen Jesus, gibt der religiösen Erfahrung des Origenes ihre letzte, unverwechselbare Note, die wie ein Wasserzeichen durch die Einzelmotive seines theologischen Denkens hindurchscheint. Ohne den Menschen Jesus, in dem die Gerechtigkeit und das göttliche Leben zu uns gekommen ist, finden wir keinen Zugang zum Logos und selbst dann, wenn wir ,,vielleicht" (sic!) einmal zur erhabendsten und höchsten Schau des Wortes gelangen, werden wir sein Fleisch und sein Leiden nicht vergessen können36. Die Sprache des Origenes gewinnt einen persönlichen und zärtlichen Ton, wenn er - nicht nur als feierliche Akklamation oder rhetorischen Predigtschluß, sondern mittendrin in angestrengter exegetischer Beweisführung - immer wieder ,,mein Jesus", ,,mein Christus" und ,,mein Erlöser" ausruft 37. Auch diese Stellen sind nur ein leises und verdecktes Zeugnis seiner unmittelbaren religiösen Erfahrung, aber aus ihnen spricht eine affektive Nähe, eine vertraute Intimität, wie sie uns in der Geschichte der christlichen Spiritualität erst wieder in der mittelalterlichen Jesusmystik begegnet. Wenn Origenes in einer Predigt zum Buch des Propheten Jeremia einmal beiläufig von Menschen spricht, die Jesus nicht nur mit einer gewöhnlichen, sondern mit einer intensiveren und verehrungsvollen Liebe nachfolgen , dann müssen wie dies auch als ein indirektes Selbstzeugnis lesen, das auf die Quelle verweist, der die beiden Pole seiner eigenen religiösen Erfahrung entspringen.

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Anmerkungen

Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Bände der Berliner Ausgabe in der GCS. Die Grundlagenschrift ist zitiert nach: Origenes: Vier Bücher von den Prinzipien,
hg.. übers. u. m. krit. u. erl. Anm. vers. v. Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp. Darmstadt 1976 (Texte zur Forschung 24).


1 SamH 1,1 (VIII,2).

2 Exhort. ad. Mart. 18 (1,17); NumH 26,2 (VII, 243); GenH 15,5 (VI,133);
PA 1,6,3 (82,25).

3 Vgl. dazu René Cadiou: La Jeunesse d‘Origène. Paris 1935, S. 93, und
Walther Völker: Das Vollkommenheitsideal des Origenes. Tübingen.
1931, S. 75

5 PE 29,9 (11.385); 30,1 (11,393).
PE 29,2 (11,382).

6 RöKo 5,8 (PG 14,1042A).

7 JosH 6,1 (VII,322).

8 Vgl. PE 22.4 (11,348); GenH 13,4 (VI.120); JoKo 2,47 (IV,59); 20, 229
(IV.362); JerH 1,15 (111,13); EzH 12,3 (VIII,436); Exhort. ad Mart. 12
(1,11); 17 (1,16).

9 Vgl. dazu JoKo 20, 140 (IV,247); 20,224 (IV,361); 20.363 (IV, 380-381);
MtKo 13,9 (X,203), und zur Interpretation der origeneischen
Gegensatzlehre Gerhard Gruber: ZOH. Wesen, Stufen und Mitteilung
des wahren Lebens bei Origenes. München 1962. S. 25-32

10 Bernard Quelquejeu, Jean-Pierre Jossua: ,Erfahrung. In: Neues
Handbuch theologischer
Grundbegriffe, hg. v. Peter Eicher. München 1984. Bd. 1, S.230-241,
hier S.234.

11 Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist 2/1: Von der Mythologie zur
Mystischen Philosophie. Göttingen 1954, S. 223.

12 Gespräch mit Herakleides 16 (Jean Scherer (Hg.]: Entretien d‘Origène
avec Héraclide et les évèques ses collègues sur le père, le fils, et l`´àime
Le Caire 1949); in Kap. 17 präzisiert Origenes, daß mit den Augen des
inneren Menschen der () gemeint ist.

13 Contra Celsum 6,69 (11,139).

14 LkFr 171 (IX,298); vgl. dazu Henri Crouzel: Oriègne et la ,,connaissance mystique". Brüssel
1961, S. 436.

15 Contra Celsum 6,69 (11,139).

16 Scholion zu Lk 9,31 (PG 17, 344 C); vgl. auch Contra Celsum 6,77 (11.147).

18 PA 3, 1. 6 (201. 7-8); 3, 1, 12 (216, 5-9)

24 JoKo 13,88 (IV,238); vgl. 13,98 (IV,240).

25 Das Erste ist die These von Völker (Anm. 3), 5. 183, die zweite
Deutung vertritt Franz Heinrich
26 Kettler:    Der ursprüngliche Sinn der Dogmatik des Origenes. Berlin
1966, S.47. 26 Plotin: Enneaden II 9,9.

27 Joko 19,67 (IV,310).

28 JoKo 1,65 (IV,16); MtKo 15.8 (X.370).

29 MtKo 11,1 (X,35); zit. nach der Übersetzung von Hermann-Josef Vogt: Origenes. Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus. Stuttgart 1983, 5. 107f

30 JoKo 13. 168 (IV,252).

31 Vgl. dazu Völker (Anm. 3), 5. 134-144 (für ekstatische Visionen); HaI
Koch: Pronoia und Paideusis. Studien über Origenes und sein Verhältnis
zum Platonismus, Bd. 1. Berlin/Leipzig 1932, S.320. 335 (dagegen), und
Crouzel (Anm. 14), S.203-209 (dagegen).

32 Schopenhauer als Erzieher, Großoktav-Ausgabe Bd. 10,318.


33 JoKo 2,172 (IV,85). Die Ansicht, die Origenes das Wissen um die Dunkelheit Gottes absprechen und in diesem Punkt einen Gegensatz zu Gregor von Nyssa
konstruieren will, wird durch solche Aussagen widerlegt.

34 JoKo 5,8 (IV,105).

35 PA 2, 11,2 (184.5)

36 JoKo 10.26 (IV.176); 2,61 (IV,62).

37 Vgl. etwa Contra Celsum 1,25; JerH 15,3 (111,126-128); 18,5 (111,155-157); JosH 1,4
(VII,291-292); 14,1 (VII,375-377); 15,7 (VII,393); 24,3 (VII,450-451); ExH 6,1
(VI,191-193); JesH 2,1 (VIII,248-251); 6,3 (VIII,271-274); EzH 3,3 (VIII.350-352); 6,6
(VIII,383-385); vgl. dazu Frédéric Bertrand: Mystique de Jesus chez Origène. Paris 1951, S.49-140.
38 JerH 15,3 (111,127); vgl. auch PE 20,1 (111,344).

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