1. Was ist «Wiedergeburt»?
Falls die Statistiken nicht fehlgehen, glaubt heute bereits jeder fünfte
Europäer an Wiedergeburt, Reinkarnation,
Seelenwanderung oder Metempsychose. Diese Statistiken geben freilich keine
Auskunft darüber, wie der heutige Mensch sich die Wiedergeburt konkret
vorstellt. Von daher erweist es sich als wichtig, von vornherein
verschiedene Vorstellungsweisen von Reinkarnation zu unterscheiden:
Es gibt zunächst die afrikanische Vorstellung von Wiedergeburt. Diese
beinhaltet, dass die Ahnen in den Nachkommen weiterleben, so dass der Mensch
in seinen eigenen Kindern den wiedergeborenen Ahnen
begegnen kann. Weit davon entfernt ist die Vorstellung der Wiedergeburt, wie
sie ursprünglich in den östlichen Religionen des Hinduismus und des
Buddhismus beheimatet ist. Diese Vorstellung ist wiederum um eine ganze Welt
verschieden von der Wiedergeburtsvorstellung, wie sie bei uns in Europa groß
geworden ist. Um nur die zwei wichtigsten Unterschiede zu benennen: In den
östlichen Religionen des Hinduismus und des Buddhismus ist die Vorstellung
der Wiedergeburt erstens ein ungemein tragischer Gedanke. Kein Hindu und
kein Buddhist hofft auf Wiedergeburt, sondern jeder hofft darauf, ringt und
betet darum, endlich aus dem schrecklichen Kreislauf der Wiedergeburten
befreit zu werden. Wie tragisch diese Vorstellung in den östlichen
Religionen ist, lässt sich zudem daran ablesen, dass nach bestimmten
Ausprägungen dieser Religionen sogar die Götter dem Prozess der
Wiedergeburten unterworfen sind. Dem gemäß werden die immer neuen
Reinkarnationen als etwas Fürchterliches empfunden.
Deshalb richtet sich, wie Wolfgang Pannenberg treffend bemerkt, die
eigentliche Hoffnung der Hindus wie der Buddhisten «nicht auf die
Wiedergeburt, sondern auf Befreiung aus dem
Kreislauf der Wiedergeburten durch die Kraft der Erkenntnis». Was in den
östlichen Religionen also eine tragische Vorstellung ist, ist in Europa
demgegenüber zu einer großen Hoffnung geworden. Hier wird die Möglichkeit
zur Wiedergeburt als großer Trost empfunden und als Hoffnung auf neue
Chancen für ein misslungenes Leben oder für eine weitere Stufe der
Vervollkommnung freudig begrüßt. Während in den östlichen Religionen die
Erlösung der Seelen gerade darin besteht, dass sie einmal nicht mehr
wiedergeboren werden müssen, erweist sich demgegenüber in den europäischen
Reinkarnationsvorstellungen der Kreislauf der Wiedergeburt selbst als
Weg der Erlösung.
Der zweite große Unterschied besteht darin, dass in den östlichen Religionen
die Vorstellung der Wiedergeburt dazu dient, dem Menschen jeden Anflug der
Konzentration auf das eigene Ich überwinden zu helfen. Denn die Lehre von
der Wiedergeburt hat das Ziel, dass der Mensch sich
von sich selbst löst, damit er frei wird, ins Nirwana eintreten zu können.
Insofern gehört das «Subjekt», sofern man überhaupt von einem solchen reden
kann, zum Kreislauf der Wiedergeburten selbst und muss aufgelöst werden,
wenn es Erlösung finden soll. Im Buddhismus muss man paradoxerweise sogar
von einer Seelenwanderung ohne Seele reden. Demgegenüber ist es für die
europäischen Reinkarnationsvorstellungen charakteristisch, dass sie von
einer Fortführung des persönlichen Lebens nach dem Einschnitt des
biologischen Endes ausgehen und dass sie die Reinkarnationen als
hoffnungsvolle Erweiterungen der Lebensmöglichkeiten über den Tod hinaus
denken. Insofern geht es den westlichen Reinkarnationsvorstellungen gerade
um die postmortale Sicherstellung des menschlichen
Ich. In Europa hat folglich die Lehre von der Wiedergeburt oft den Sinn, das
eigene Ich sogar noch Tiber den Tod hinaus retten zu
wollen. Sie ist in ihren verschiedenen Formen fast so etwas wie ein
posthumer Egoismus in der Gestalt der Konzentration auf das eigene Ich. Der
reformierte Theologe Jürgen Moltmann urteilt jedenfalls mit Recht, wenn er
betont, die westliche «Lebensgier», die sich darin ausdrücke, sei «ganz
unindisch, um nicht zu sagen: unerleuchtet .
2. Ist die Lehre von der Wiedergeburt beweisbar?
Wenn wir bisher von der europäischen Wiedergeburtsvorstellung gesprochen
haben, ist dies natürlich ungemein vereinfacht. Man muss vielmehr auch im
Lebensbereich Europas unterscheiden zwischen der höheren
Form der Wiedergeburtslehre wie sie beispielsweise in der Anthroposophie
Rudolf Steiners vorliegt, und den eher vulgären Formen, wie sie im
Volksbewusstsein leben. Wenn diese eher populäre Lehre von der
Wiedergeburt bei uns weit verbreitet ist, stellt sich die Frage, wo die
Ursachen dafür liegen und wie dieses Phänomen genauerhin zu verstehen ist.
Die weite Verbreitung dieser Vorstellung dürfte dabei mit einigen
Grundzügen unserer heutigen Gesellschaft zusammenhängen.
Unsere heutige Gesellschaft ist erstens eine ungemein fortschrittsgerichtete
und wissenschaftsgläubige Gesellschaft. Die Wissenschaft ist derjenige
Bereich, der für den heutigen Menschen zählt. Dies lässt sich
bereits daran ablesen, dass die Experten großgeschrieben sind, was bis in
die Werbung im Telespot hinein beobachtet werden kann. Soll ein Produkt gut
angepriesen werden, lohnt es sich, einen einigermaßen gut
aussehenden Mann anzustellen und ihn in einen weißen Kittel, das
liturgische Gewand des heutigen «Priesters», eben des Experten, zu stecken.
Denn der heutige Mensch will nicht mehr einfach auf Glauben
angewiesen sein, sondern er will es wissen können. Von daher ist die Tendenz
sehr groß, auch im Blick auf das Leben nach dem Tod nicht
mehr auf Glauben angewiesen zu sein, sondern es wissen zu können. Die
meisten Vertreter des Reinkarnationsglaubens gehen deshalb davon aus, dass
es sich dabei gerade nicht um einen Glauben handelt, sondern
um Fakten, die man ganz genau beweisen kann. Sehr viele Vertreter der
Wiedergeburtslehre halten es für beweisbar, dass der Mensch wiedergeboren
wird.
In der Tat gibt es nicht wenige Anzeichen dafür, dass dem so sein könnte. Es
gibt Menschen, die sich an frühere Leben erinnern. Es gibt Menschen, die ein
Wissen davon haben, was in früheren Zeiten gewesen ist,
ohne dass sie Geschichte studiert haben, einfach intuitiv in sich. Solche
Fakten kann man nicht einfach leugnen.
Im Blick auf die Wiedergeburtslehre wäre es verfehlt, von der Kirche her
einen neuen Fall Galilei zu inszenieren, indem sich die Kirche gegen
abgesicherte Fakten zur Wehr setzen würde.
Auf der anderen Seite aber ist zu bezweifeln, ob jene Daten, die darauf
hinweisen, dass es ein Wiedergeborenwerden der Menschen gibt, als Beweise
wirklich standhalten können. Denn alle jene Fakten, die man
aufzählen kann, sind letztlich nicht mehr als Vermutungen und Hinweise,
nicht hingegen aber Beweise. Mit den sogenannten Beweisen für die
Wiedergeburt verhält es sich ähnlich wie mit den Gottesbeweisen in der
christlichen Tradition. Denn die sogenannten Gottesbeweise haben
höchstwahrscheinlich keinem Menschen Gott beweisen können. Sie haben aber
diejenigen Menschen, die immer schon an Gott glauben, in ihrem Glauben bestärken können. In diesem Sinne waren
die Gottesbeweise nicht Anmarschwege von unten zu Gott, sondern gleichsam
Fallbrücken, die vom Gottesglauben heruntergelassen
wurden, damit die Menschen nachher um so besser hinaufsteigen können.
Genauso dürfte es sich mit den Fakten verhalten, die auf Reinkarnation
hindeuten und die man sensibel zur Kenntnis nehmen muss. Freilich lassen
sich diese Fakten auch ganz anders interpretieren. Um nur ein ganz
einfaches Beispiel zu nennen: Vor einigen Jahren habe ich einen Bericht von
einer Haushälterin eines katholischen Pfarrers gelesen, die auf dem
Sterbebett perfekt hebräische Psalmen zitiert hat, wiewohl sie nie
Hebräisch gelernt hatte. Was liegt angesichts dieses Phänomens zunächst
anderes nahe als der Schluss, diese Frau müsse in ihrem früheren Leben
Hebräischprofessorin in Tel Aviv gewesen sein? Der wahre Grund
für diese eigenartige Erscheinung war freilich ein anderer. Diese
Haushälterin hatte einen hervorragenden Pfarrer, und dieser Pfarrer war
deshalb hervorragend, weil er auch über das Alte Testament gepredigt und
seine
Predigt immer auf dem hebräischen Urtext vorbereitet hat, den man laut
liest. So ist es dazu gekommen, dass die Pfarrhaushälterin ein Leben lang
ihren Pfarrer hebräisch hat reden hören, was sich irgendwo in ihrem
Unterbewusstsein abgelagert hat und was im Sterbeprozess an die Oberfläche
getreten ist. Mit diesem schlichten Beispiel soll nur gesagt sein, dass es
in der Tat Phänomene gibt, die auf Reinkarnation hindeuten,
dass sich damit aber Reinkarnation nicht beweisen lässt. Von daher bleiben
wir auch bei dieser Frage nach dem Leben nach dem Tod auf Glauben
angewiesen; und die einzig sinnvolle Frage, die man als christlicher
Theologe stellen kann, ist die, ob diese Vorstellung mit dem christlichen
Glauben überhaupt übereinstimmen kann oder nicht.
3. Reinkarnation — eine Frage der Gerechtigkeit Gottes?
Bevor dieser Frage weiter nachgegangen werden kann, muss der Hauptgrund beim
Namen genannt werden, warum heute so viele Menschen von der Lehre der
Wiedergeburt fasziniert sind. Der entscheidende Grund
dürfte darin liegen, dass diese Hoffnung zumindest auf den ersten Blick eine
auch intellektuell befriedigende Erklärung für die tatsächliche Ungleichheit
der Menschen in der Welt zu geben vermag und dass sich damit
das uralte Problem der Ungerechtigkeit in unserer Welt lösen lässt. Ist es
in der Tat nicht ungerecht, dass viele Menschen in erbärmlichen
Verhältnissen leben müssen, dass andere Menschen bereits verkrüppelt oder
debil auf die Welt kommen, und dass andere Menschen nach einem nur sehr
kurzen Leben, beispielsweise durch einen Verkehrsunfall, sterben müssen? Ist
es nicht furchtbar ungerecht, dass ein Mensch lebenssatt mit 95 Jahren gerne stirbt und ein anderer Mensch mit 15 Jahren
durch einen Unfall ums Leben kommt? Wo ist denn da die Gerechtigkeit? Auf
diese Frage scheint die Lehre von der Wiedergeburt eine
eindeutige Antwort geben zu können. Denn sie löst dieses Problem dadurch,
dass sie den ungerecht leidenden Menschen weitere Chancen und neue
Lebensmöglichkeiten auf unserer Welt anbietet. Einige Anhänger
der Wiedergeburtslehre gehen sogar so weit, dass sie annehmen, jeder Mensch
müsse alle Facetten des Menschseins erlebt haben, um fähig werden zu können,
in die Vollendung einzugehen. Dies bedeutet konkret,
dass der Mensch einmal als Mann und einmal als Frau wiedergeboren werden
muss, einmal als Verheirateter und einmal als Ordensmensch, einmal als
Pfarrer und ein anderes Mal als Bankräuber. Denn nur auf
diesem Wege sei es möglich, alle Facetten des Menschseins erleben zu können.
Es dürfte genau dieses Problem der Ungerechtigkeit und das hinter ihm
verborgene Problem des Leidens in der Welt sein, das die heute ständig im
Wachsen begriffene Hoffnung auf Wiedergeburt verstehbar macht. In
früheren Jahrhunderten wurde das Problem des Leidens zum Fels des Atheismus
erklärt; heute jedoch wird das Problem des Leidens zum Anlass und Antrieb
neuer Hoffnung, die zudem verspricht, das letztlich
unlösbare Problem der Vereinbarkeit des Leidens der Menschen mit der Annahme
eines gütigen und allmächtigen Gottes zu erklären. In diesem Sinne schreibt
Allan Kardec, ein entschiedener Verfechter der
Reinkarnationslehre: «Die Reinkarnationslehre, die dem Menschen mehrere sich
folgende Existenzen zuschreibt, ist die einzige, die der Gerechtigkeit
Gottes für die Menschen entspricht, die Zukunft erklärt und unsere
Hoffnung festigt, weil sie uns die Mittel gibt, unsere Irrtümer durch neue
Prüfungen wieder gutzumachen.»
Vom christlichen Glauben her ist freilich zurückzufragen, welche Vorstellung
von Gerechtigkeit hinter dieser Annahme steht. Dabei handelt es sich um eine
auf den ersten Blick lapidare Frage. Denn jeder Mensch
scheint doch zu wissen, was gerecht ist. Sieht man freilich genauer zu, gibt
es zwei grundverschiedene Vorstellungsweisen von Gerechtigkeit. Die eine
sagt: jedem das Gleiche, und die zweite sagt: jedem das Seine.
Zwischen diesen beiden Vorstellungsweisen besteht ein großer Unterschied.
Stellen wir uns einmal vor, wir wären noch in der Schule und hätten die Wahl
zwischen zwei Lehrern: dem Lehrer A, der nach dem Prinzip
«jedem das Gleiche» handelt, der folglich einen absoluten
Maßstab hat, der
alle seine Schüler über diesen Leisten schlägt und die Schüler demgemäß
benotet, und dem Lehrer B, der nach dem Prinzip «jedem das Seine» handelt und der folglich seine Schüler nach den ihnen
eigenen Möglichkeiten beurteilt. Welchen Lehrer würden wir bevorzugen?
Ich für meinen Teil würde Lehrer B bevorzugen, der jedem so, wie es ihm
zukommt, gerecht zu werden versucht. Dabei darf man die schöne Entdeckung
machen, dass der Lehrer B sogar im Evangelium vorkommt.
Denken wir nur an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16),
in dem die Arbeiter zwar zu verschiedenen Tagesstunden ihre Arbeit
aufnehmen, aber doch alle den gleichen Lohn erhalten. Dieses Gleichnis wirkt
auf uns ungemein skandalös, und noch skandalöser wirkt die Begründung des Gutsbesitzers für sein
Verhalten: Alle bekommen den gleichen Lohn, weil der Gutsbesitzer – gemeint
ist natürlich Gott – gut ist. Gott, so zeigt es das Evangelium,
handelt offensichtlich nach dem Prinzip «jedem das Seine», so wie es ihm zukommt und wie es ihm
gemäß ist. Erst
dies ist eine ungemein tröstliche Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit. Die
zweite Rückfrage, die aus der Sicht des christlichen Glaubens
an die Vorstellung der Wiedergeburt
zu stellen ist, ist die, ob sie das Problem des Leidens wirklich zu lösen
vermag, wie sie vorgibt, oder ob sie es nicht einfach ins vorgeburtliche
Leben zurückdatiert. Die Lehre von der Wiedergeburt geht ja davon aus,
dass wir Menschen immer schon als präexistente Seelen vor unserer Geburt bei Gott gelebt haben. Dann aber
stellt sich von selbst die Frage, wie denn diese Seelen auf die letztlich
absurde Idee kommen, in unsere Welt einzutreten. Auf diese Frage
antworten die meisten Vertreter der
Reinkarnationslehre, dass dies aufgrund eines vorirdischen präexistenten
Sündenfalls der Seele geschehe. Deshalb müssten sie auf unsere Erde kommen,
um diesen vorirdischen Sündenfall wieder gutzumachen. Mit
dieser Auskunft freilich wird das Problem nur noch
größer. Denn dass wir als endliche und damit beschränkte Menschen auf der Erde
auf die Idee kommen, zu sündigen, dürfte einigermaßen einleuchten. Dass wir aber als präexistente
Seelen bei Gott auf die Idee kommen, zu sündigen,
dazu brauche ich persönlich unendlich viel mehr
Glauben. In dieser Annahme eines präexistenten
Sündenfalles aber liegt der entscheidende Hintergrund der Lehre von der Reinkarnation. Demgegenüber ist der christliche Glaube davon überzeugt,
dass das jetzige Leben ein absoluter Ernstfall ist,
dass das jetzige Leben über Leben und Tod entscheidet und dass folglich der Austritt aus diesem
Leben und der Eintritt in eine andere Welt endgültig
sein werden.
4. Evolutions- oder Unterbrechungszeit
Diese Überzeugung vom einmaligen Ernstfall des
Lebens auf dieser Erde setzt natürlich ein anderes
Verständnis der Zeit als das heute üblich gewordene
voraus. Vor einigen Jahren hat der deutsche Schriftsteller Botho Strauss ein Buch geschrieben, das den
auf den ersten Blick merkwürdigen Titel trägt: «Beginnlosigkeit». Tiefer gesehen, hat er damit das
durchschnittliche Zeitempfinden des heutigen Menschen treffend beim Namen genannt. Dabei bleibt
nur hinzuzufügen, dass der von Strauss diagnostizierten Beginnlosigkeit im heutigen Empfinden
natürlich und erst recht auch die Finallosigkeit der
Zeit entspricht. Im Grunde sind wir Menschen heute
fasziniert von einer Zeit, die weder einen Anfang
noch ein Ende zu kennen scheint und deshalb den
Namen «Zeit» eigentlich gar nicht verdient. Hier
dürfte der Grund liegen, warum sich vielen Menschen heute die Zeit immer mehr entwichtigt, wie-
wohl sie ständig im Fluss ist. Man kann sie weder anhalten noch zurückdrehen; alles geht vorbei, ver-
schwindet, lenkt sich seinem unerbittlichen Ende zu. Die Menschen heute aber glauben weithin an eine
evolutionär stets fortschreitende oder auch an eine immer wiederkehrende Zeit. Hier liegt es begründet,
dass in der heutigen Zeit, in der das Gespür für die Zeit immer mehr verloren geht, gerade der Glaube an
die Wiedergeburt des Menschen Hochkonjunktur hat. Denn in der stets weitergehenden und wieder-
kehrenden Zeit gibt es nur noch Hypothetisches, aber nichts Endgültiges mehr.
Demgegenüber ist der christliche Glaube gerade von einer evolutionär zerdehnten oder stets
nicht
wiederkehrenden Zeit überzeugt. Er verkündet vielmehr eine befristete Zeit, die sowohl einen Anfang
als auch ein Finale kennt. Und dieser Horizont
befristeter Zeit bedeutet gerade nicht eine Entwichtigung der Gegenwart. Im
Gegenteil: Erst in dienern Horizont wird Gegenwart in jener emphatischen
Weise erfahrbar, die für die biblische Botschaft
kennzeichnend ist. Für sie ist die Zeit der Geschichte unendlich kostbar, weil sie der Ort der
menschlichen Verantwortung ist. Gerade diese
Dimension ist ausgezeichnet durch das nie wiederkehrende und deshalb unendlich kostbare «Heute»,
auf dem die biblische Botschaft energisch besteht,
wie gerade die Zachäusgeschichte überdeutlich
zeigt: «Heute muss ich in deinem Haus Gast sein!» «Heute ist diesem Haus das
Heil geschenkt worden» (Lk 19,1-10). Von daher dürfte es kein Zufall sein,
dass sich dieses neue Zeitverständnis der Bibel in
der deutschen Sprache kaum ausdrücken lässt. Demgegenüber kennt die griechische Sprache für
das eine deutsche Wort «Zeit» zwei Begriffe mit
recht unterschiedlichem Inhalt: «Chronos» ist ein
rein quantitativer Begriff und bezeichnet die messbare Zeit. Diese ist vor allem Uhrzeit, die durch
objektive Beobachtung erfasst und am Chronometer
abgelesen werden kann, der ohnehin die Schlüssel
maschine des modernen Industriezeitalters geworden ist. «Kairos» ist demgegenüber ein qualitativer
Begriff. Er bedeutet eine besonders günstige Gelegenheit oder auch eine andrängende Situation für
fällige Entscheidungen. Und diese Zeit lässt sich nicht
ohne persönliche Betroffenheit und innere Beteiligung
des Beobachtenden selbst erfahren. Während viele Menschen heute in der fatalen Gefahr
stehen, die gegenwärtige Weitzeit im Sinne des «chronos» –geradezu chronisch (!) –misszuverstehen,
zeichnen sich Christen dadurch aus –sie sollten es jedenfalls und könnten es auch! –, dass sie das biblisch
bezeugte befristete Wesen der Zeit wahrnehmen und
daraus Konsequenzen für die Lebensgestaltung ziehen,
wie sie in einer rabbinischen Legende deutlich werden:
Ein jüdischer Rabbi sagte einmal zu seinen Schülern:
«Tut Busse einen Tag vor eurem Tod!» Darauf fragte
ihn einer seiner Schüler: «Weis denn der Mensch, an
welchem Tag er sterben muss?» Darauf antwortete der
Rabbi: «Eben darum kehre er heute um, vielleicht muss er morgen sterben. So lebt er alle Tage die
Umkehr, so lebt er jeden Tag, als wäre er der letzte.»
In der Tat: jeden Tag so zu leben, als wäre er der letzte!
Dies heißt leben im biblischen Kairos. Dies kann
natürlich nicht bedeuten, dass unsere alltäglichen Sorgen und Geschäfte bedeutungslos würden. Es
heißt aber sehr wohl, jeden Tag vom letzten Sinn her und auf
das letzte Ziel hin zu gestalten. Und dies gibt unserer
Zeit Gewicht. Denn mit unserem Leben verhält es sich
wie mit den Ferien: Wer im Jahre 52 Wachen Ferien
hat, hat im Grunde keine Ferien mehr. Wer aber zwei
oder drei Wochen Ferien hat und darum weis, wie
begrenzt sie sind, wird versuchen, das Beste aus ihnen
zu machen. So vermag auch ein besseres Leben zu führen, wer immer wieder ein Rendezvous mit dein eigenen Tod hat.
5. Die tröstliche Botschaft des Fegefeuers
In diesem Zeitverständnis ist die Überzeugung ausgedrückt, dass sich im jetzigen Leben auch Ewigkeit
entscheidet. Diese Überzeugung vom einmaligen Ernstfall des jetzigen Lebens
heißt natürlich nicht,
dass nicht jenseits des Todes weitere Lebensentfaltungen möglich wären. Diese Annahme ist in
der katholischen Tradition aufbewahrt mit der Vorstellung vom Fegefeuer. Diese setzt voraus, dass es
im menschlichen Leben viel Unaufgearbeitetes und Misslungenes gibt, das nach dem Tod noch der Reinigung und der Läuterung bedarf. Insofern setzt die
Fegefeuerlehre voraus, dass der Mensch sich auch
nach seinem Tod weiterentwickeln kann. In der christlichen Auseinandersetzung mit der Wiedergeburtslehre legt es sich deshalb nahe, auf dieses
alte Glaubenstraditionsstück der katholischen
Kirche zurückzukommen. Gebhard Frei hat jedenfalls mit Recht das «ernste Anliegen» sowohl der Fegefeuerlehre wie auch der Reinkarnationslehre darin
gewürdigt, dass sie eine «Ahnung vom großen Reifeprozess» verraten, «zu dem jede geistige Seele
berufen ist»: «Nichts Unreines und Unreifes kann in
die letzte Vollendung bei Gott eingehen.» Die Vorstellung des Fegefeuers bietet sich deshalb
als jene Glaubensaussage des Christentums an, die
die wohl engste gedankliche Verbindung mit der Reinkarnationslehre aufweist. Auch der christliche
Glaube setzt mit seiner Überzeugung von der Notwendigkeit der
Reinigung des Menschen nach seinem Tod voraus, dass es im menschlichen Leben
viel Misslungenes gibt, das der Läuterung bedarf! Allerdings —
für diese Läuterung schickt der christliche Glaube den Menschen nach seinem Tod nicht
ins Exil eines zweiten oder dritten Lebens, damit er
dort das nachholen kann, was er in seinem ersten
Leben nicht geschafft hat. Denn es ist nicht der
Mensch, der sich selbst läutert, sondern Gott selbst
bereitet den Menschen in der personalen Begegnung
des Verstorbenen mit sich durch das «Feuer» seiner
göttlichen Liebe für das Eingehen in das ewige Leben. Von daher kann man auf der einen Seite den
christlichen Fegefeuerglauben als eschatologische
Verdichtung der Reinkarnationslehre auf einen jenseitigen Läuterungsprozess im Angesicht Gottes
und auf der anderen Seite die Reinkarnationslehre
als vom Jenseits ins Diesseits transponiertes und
zudem auf verschiedene Erdenleben zerdehntes «Fegefeuer» verstehen.
Vorausgesetzt ist dabei natürlich, dass die traditionelle Vorstellung des Fegefeuers von den problematischen Ausmalungen der Volksfrömmigkeit befreit
werden kann. Die traditionelle Vorstellung des Fegefeuers zeigt, wie sehr die überschießende
Phantasie der Menschen hinsichtlich des konkreten
Wie des noch von irdischer Schuld zu reinigenden
Menschen offenbar nie genug haben konnte, so dass
aus dem tröstlichen Geschehen des Fegefeuers insbesondere in den problematischen Ausmalungen der
Volksfrömmigkeit mehr und mehr eine jenseitige Folterkammer oder gar ein «göttliches» Konzentrationslager geworden ist. Bedenkt man aber, dass
es sich bei der Glaubensaussage des Fegefeuers um
eine zentrale innere Dimension der personalen Gottesbegegnung
des Menschen im Tod handelt, erweist sie sich als elementares Evangelium, dessen
in der Läuterung des Menschen im
Kerngedanken Gottes, des
im Verzehrt- und Ausgeschmolzenwerden
- des
Menschen im brennenden Feuer der reinen
göttlichen Liebe liegt: Im Tod steht der Mensch in
seiner eigenen Endgültigkeit vor Gott, die freilich
von Gott her betrachtet nur eine
vorläufige sein kann, genauerhin eine, die vorläuft in die allein von
Gott den Menschen geschenkte Vollendung,
weshalb man das Fegefeuer mit der treffenden Formulierung Bernd Jochen Hilberaths als «Vorlauf zum Himmel» bezeichnen kann. In dieser vorlaufenden
Endgültigkeit des heilenden Läuterungsgeschehens des Fegefeuers erkennt der Mensch endgültig und ohne jede Maske, wer er in Tat und
Wahrheit ist. Indem der Mensch im Tod vor die Unbegreiflichkeit des absoluten Geheimnisses und
vor die Unauslotbarkeit der Majestät Gottes tritt, findet er – endlich! – seine Identität, auf die hin er
ein ganzes Leben lang unterwegs war.
Vom tröstlichen Geschehen des Fegefeuers darf
man sich deshalb den endgültigen Gewinn der
menschlichen Identität erwarten. Denn während des
irdischen Lebens weiß man nie so genau, wer man
eigentlich ist„ Man hat immer nur eine
blasse
Ahnung davon, wer man sein könnte. Deshalb
kommt man immer wieder in die Situation, mit Sören Kierkegaard zu klagen: «Traurig grüsst der,
der ich sein sollte, den, der ich bin.» Fegefeuer aber
heißt zutiefst, dass wir unsere Identität in der Begegnung mit Gott
endgültig finden. Solche Identitätsfindung kann aber nicht gelingen ohne
Erkenntnis und Anerkenntnis
der eigenen Schuld des Menschen. Vielmehr wird der Mensch im unmittelbaren
Auge in Auge mit seinem Befreierrichter gleichsam
von selbst seiner eigenen Schuld inne, und zwar im
ursprünglichen Sinn, dass er die Verwirklichung der
ihm von Gott zugeeigneten unverwechselbaren Bestimmung weithin schuldig geblieben ist.
Dies aber bedeutet, dass sich der Mensch in der unmittelbaren
Gottesbegegnung eigentlich selbst richtet. Wer der
abgründigen Verborgenheit dieses Läuterungsgeschehens ansichtig wird, für den wird dieser prüfende
und reinigende « Feuerblick Gottes» (Hebr 12,29)
jedenfalls Schmerz und auch Strafe genug sein. Wer
hingegen darüber hinaus in seiner überschiessenden Phantasie noch mehr meint aussagen und noch mehr
«Strafen» erfinden zu müssen, würde letztlich über
das Fegefeuer weniger und zu wenig aussagen und
die evangelische Hoffnungsaussage des Fegefeuers
gründlich verderben.
Das Fegefeuer meint also den heilenden Prozess der
Läuterung des Menschen in der Begegnung mit
Gott. Damit ist vorausgesetzt, dass der Mensch sich
jenseits des Todes noch weiter entwickeln kann,
wenn er dazu bereit ist, sich von Gott heilen zu lassen.
In diesem Sinne ist der Glaube an das Fegefeuer
ein ungemein tröstliches Evangelium. Es ist so tröstlich, dass man es, gäbe es dieses nicht schon, erfinden müsste. Denn in ihm ist die Botschaft aufbewahrt, dass der Mensch nicht als perfekter,
vollendeter Mensch sterben muss, dass er vielmehr das Recht hat, auch als
mäßiger Mensch sterben zu können, weil all das Unaufgearbeitete in seinem
Leben im liebenden Feuer Gottes ausgeheilt werden
wird. Demgegenüber enthält
die Lehre von der Wiedergeburt die rigide Zumutung an den Menschen,
sich selbst zu vervollkommnen, so dass er sich selbst ins Jenseits heimbringen muss. Damit
stoßen wir auf einen weiteren radikalen Unterschied zwischen der Wiedergeburtslehre und dem christlichen
Fegefeuerglauben.
6. Gnade oder Leistung?
Als Hoffnung auf die endgültig-gültige Läuterung des Menschen durch und bei Gott enthält die christliche Glaubensaussage des Fegefeuers die tröstliche
Verheißung, dass die Vollendung des menschlichen
Lebens nicht allein dessen eigene Leistung ist, sondern das befreiende
Gnadengeschenk Gottes selbst. Demgegenüber setzt die Lehre von der Reinkarnation voraus, dass es letztlich der Mensch selbst ist,
der sich ins ewige Leben hineinbringt, und zwar
dadurch, dass er sich durch den Prozess der Wiedergeburten zurüstet, bis er bereit sein wird, in die
Ewigkeit einzugehen. Von daher erweist sich die
Lehre von der Wiedergeburt als sehr symptomatisch
für unsere gegenwärtige gesellschaftliche Lebenswelt, die im Kern eine Leistungsgesellschaft geworden ist. In der heutigen Gesellschaft zählt die Leistung zu den höchsten Werten des Menschen. Der
Mensch ist in der heutigen Gesellschaft im Grunde
genommen genau soviel wert, wie er leisten kann und
wie er dementsprechend ökonomisch sich leisten kann. Von daher ist es beispielsweise kein Zufall, dass
in der heutigen Gesellschaft zwei Probleme miteinander akut geworden sind, nämlich das Problem der
Abtreibung und das Problem der Euthanasie. Handelt
es sich im ersten Fall um menschliches Leben, das
noch nichts leisten kann, geht es im andern Fall um
menschliches Leben, das nichts mehr leisten kann.
Beide, sowohl das ungeborene als auch das alte, leidende, kranke und sterbende Leben haben aber auf der
Börse unserer heutigen Leistungsgesellschaft einen
ungemein schwachen Kurswert.
In dieser von der Leistungsideologie geprägten Gesellschaft scheint es auf den ersten Blick
verständlich zu sein, dass der Mensch nun auch in seiner Hoffnung auf
ein Leben nach dem Tod nicht mehr auf Gnade und
Geschenk angewiesen sein, sondern dass er auch und
gerade den Prozess der Vollendung seines eigenen
Lebens selbst erleisten will. Diese Vorstellung, dass
der Mensch seine Reifung und Selbstverwirklichung
und damit die Vollendung seines eigenen Lebens
selbst leisten muss, steht letztlich hinter jedweder Gestalt der Seelenwanderungslehre. Dafür diese Aufgabe
des Selbstwerdens und der Vollendung der eigenen Person ein Menschenleben zumeist nicht hinreicht,
ergibt sich notwendigerweise das Postulat einer Abfolge von mehreren Wiedergeburten, die allererst
das Heraufarbeiten des Menschen zu seiner Vollendung möglich machen.
Demgegenüber ist der christliche Glaube der Überzeugung, dass der Mensch es nicht selbst und
allein leisten muss, Mensch zu werden und seine Möglichkeiten zu verwirklichen. Die Vollendung
des Menschseins ist vielmehr das Gnadengeschenk Gottes. An diesem Prozess der Menschwerdung
und Vollendung ist der Mensch selbstverständlich mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten aktiv
beteiligt, insofern seine wesentliche Aufgabe darin
besteht, dem Gnadengeschenk Gottes in der Freiheit seiner Liebe zu entsprechen. Dennoch ist die
Vollendung des menschlichen Lebens letztlich nur
möglich durch das Gnadengeschenk Gottes und die ihm entsprechende Antwort des Menschen im
Auferstehungsleben bei Gott. Insofern regiert im christlichen Glauben das Prinzip der Gnade. Und dieses Prinzip der Gnade ist für
den christlichen Glauben schlechthin entscheidend. Freilich darf man nicht verschweigen, dass
auch dieses Grundwort «Gnade» heute einen großen Kursverlust erlitten hat. Das Wort «Gnade»
gehört zu den in der Kirche am meisten gebrauchten Wörtern. Es gehört heute freilich auch zu den
am meisten abgeschliffenen Wörtern. Zu nahe liegen die Assoziationen an feudale Reste, wie sie
sich etwa in der devoten Anrede eines Fürsten oder
eines Bischofs als eines «gnädigen Herrn» aussprechen. «Gnade» ist
deshalb im durchschnittlichen Bewusstsein selbst der Christen zu einem
Wort der Abhängigkeit und Unterwürfigkeit verkommen. Sieht man freilich genauer zu, kommt
auch der heutige Mensch nicht darum herum, von Gnade zu reden. Dabei sind es vor allem zwei
Lebensbereiche, in denen von Gnade die Rede ist:
Der eine Lebensbereich ist derjenige der Rechtsprechung. Wird auf der einen Seite Schuld gesprochen und auf der anderen Seite Schuld auch wirklich
eingestanden, bleibt nur noch die eine Möglichkeit,
Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Bei aller Blassheit dieses Sprachgebrauchs kommt damit zum
Ausdruck, dass Gnade ein letztlich unverdientes Geschenk ist. Der andere Lebensbereich ist derjenige der Kunst. Wir reden gerne von einem begnadeten Künstler und bringen damit zum Ausdruck,
dass bei aller genialen Höchstleistung eines Künstlers sein Werk letztlich
ein nicht erzwingbares Geschenk schöpferischer Freiheit ist. Bei aller Blassheit
dieses Sprachgebrauchs kommt damit wiederum zum Ausdruck, dass Gnade letztlich unverfügbar ist.Beide Lebensbereiche werden vom christlichen
Glauben aufgenommen und dahin vertieft, dass letztlich alles Gnade ist. Gnade ist im christlichen
Glauben auch und gerade die Vollendung des menschlichen Lebens bei Gott, wo er vollendet, ganz und
deshalb rund sein wird. Von daher ist die in mythologischer Sprache ausgedrückte Vorstellung bei
einigen Origenisten verbreitet gewesen, dass die
Menschen im Himmel eine Kugelgestalt haben werden. Hinter dieser Vorstellung ist eine tiefe Wahrheit
verborgen. Denn die Behauptung, dass alle Menschen im Himmel rund und
damit Kugeln sein werden, wurde damit begründet, dass allein diese Vorstellung die Vollendung des Menschen im ewigen
Leben adäquat zum Ausdruck bringen kann. In sprachgeschichtlicher Hinsicht ist es besonders
interessant, dass im Hebräischen das Wort «rund» in
unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wort schalanlu» steht, was unzerstückelt
sein bedeutet und von dem sich das Wort «Schalom» ableitet.
7. Wiedergeburt in der Taufe
Dieser «Schalom» kann den Menschen in der Sicht des christlichen Glaubens aber nur von Gott geschenkt werden. Hier liegt es zutiefst begründet,
weshalb auch der christliche Glaube von Wiedergeburt redet. Diese Wiedergeburt ereignet sich dabei
an einem spezifischen Ort, nämlich in einem Bad.
Und dieses «Bad der Wiedergeburt» (Tit 3,5) ist die
christliche Taufe auf Tod und Auferstehung Jesu
Christi. Für den christlichen Glauben gibt es folglich keine Wiedergeburt nach dem Tod, wohl aber
eine Wiedergeburt im jetzigen Leben. Denn im Zum-Glauben-Kommen, das seinen unüberbietbaren Ausdruck findet in der christlichen Taufe, wird
der Mensch zu neuem Leben wiedergeboren: «Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren
wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen»
(Joh 3,5). Nach christlichem Verständnis ereignet
sich die wahre Wiedergeburt des Menschen in der
Taufe auf den Tod Jesu Christi. Getauft zu werden
heißt somit, mit Christus zusammen zu sterben als
«alter Mensch», um ebenso zusammen mit ihm auferweckt und neu geboren zu werden, wie dies
Paulus treffend ausdrückt: «Wisst ihr denn nicht,
dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod;
und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters
von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir
als neue Menschen leben» (Röm 6,3-4). Die Taufe des Christen beinhaltet somit eine elementare Vorverlagerung unseres Todes: Der Tod,
den wir am Ende unseres Lebens sterben werden, bleibt zwar oft genug ein schmerzlicher Tod; aber
im Grunde genommen zählt er nicht mehr, weil wir,
durch die Taufe aufgenommen in die Kirche als die
Gemeinschaft der von Gott her Wiedergeborenen,
bereits jetzt im Leib des auferweckten Christus
leben. Der viel ernsthaftere Tod, in dem wirklich
eine ganze Welt aufgegeben wird und eine neue Welt sich eröffnet, ist die Taufe, der Übergang aus
der alten Gesellschaft des alten Menschen in die
neue Gesellschaft des Menschensohnes. Die eigentliche Scheidelinie des christlichen Lebens ist somit
nicht der Tod, sondern die Taufe. Die Taufe ist geradezu die spezifisch christliche Definition von Tod
und Wiedergeburt.
Diese Wiedergeburt ist ein für allemal geschehen in der Taufe, um sie freilich jeden Tag neu zu bewähren und die überfälligen Konsequenzen daraus zu
ziehen. Diese Konsequenzen sind riesengroß, wenn
man beispielsweise bedenkt, wie konkret Paulus sie
entfaltet hat, indem er eine ihm überlieferte Taufformel aufgegriffen hat: «Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Jesus Christus, denn ihr alle, die
ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als
Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und
Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus» (Gal
3,26-28). Diese Taufformel enthält eine feierliche
Erklärung, die ursprünglich über alle Neugetauften
ausgesprochen worden ist. Und diese feierliche Erklärung bedeutet die wahre Subversion der christlichen
Taufe. In ihr geht es schlechterdings um die Aufhebung aller historisch-gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und damit um die Überwindung der drei
entscheidenden Ursünden, die auch heute noch die
Weltgesellschaft elementar bedrohen, nämlich erstens des Rassismus, d. h. der
Diskriminierung bestimmter menschlicher Rassen zugunsten zumeist der
eigenen Rasse; zweitens des Imperialismus, d. h. der
Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher
Stände zugunsten anderer gesellschaftlicher Stellungen und wirtschaftlicher Positionen; und drittens des
Sexismus, d. h. der Diskriminierung der Frauen
zugunsten der Männer. Das Untertauchen der Menschen in Wasser und Geist der christlichen Taufe markiert für Paulus den unwiderruflichen Beginn der
endgültigen Wiederherstellung der von Gott gemeinten Ordnung einer
wirklich solidarischen Gesellschaft, die in Frieden und Gerechtigkeit lebt. Diese
neue Gesellschaft soll und kann aufgrund der Taufe in
der christlichen Kirche beginnen, wie es der erste Johannesbrief sehr schön ausdrückt: Wir wissen,
«dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben» (1 Joh 3,14).
So ernst will der christliche Glaube unser jetziges Leben nehmen, dass er jeden einzelnen Tag zum Tag
der Umkehr zu Gott und seinem Reich in Frieden und Gerechtigkeit bestimmt. Diese Wiedergeburt
der christlichen Umkehr, die grundgelegt ist in der Taufe, muss sich deshalb heute ereignen. Denn
Buße im Sinne der christlichen Umkehr beinhaltet
die lebenslange Aneignung der Wiedergeburt des
Taufbades. Eben deshalb verträgt diese geschichtliche Umkehr keine Vertagung auf den Sanktnim-
merleinstag oder gar auf weitere Leben, wie die Seelenwanderungslehre
verheißt. Von daher muss
die Frage zumindest erlaubt sein, ob die Seelenwanderungslehre wohl deshalb heute so viele Christen anspricht, weil sie ihnen ein schlechtes Gewissen ob der im jetzigen Leben so oft ausbleibenden
Umkehr zur wahren Wiedergeburt in der Taufe erspart. Wer aber die Tragweite der christlichen Zumutung zur
Buße jeden Tag erfasst, kann letztlich gar
nicht anders, als wirklich nur einmal auf Erden leben
zu wollen. Denn er lebt aus der gewissen Hoffnung
heraus, dass er nach dem einmaligen Ernstfall des
jetzigen Lebens auf unserer Erde für alle Ewigkeit
bei und mit Gott leben wird aus reiner Gnade.
8. Reinkarnation in der christlichen Tradition?
Diese Überzeugung verwandelt unser Leben zu etwas Endgültigem und nimmt ihm den Charakter
des Hypothetischen. Denn sie deutet den Exodus des Menschen aus diesem Leben in seinem Tod
nicht einfach um zu einem harmlosen Transitus von
einem Leben zum andern, wie es die Lehre von der
Wiedergeburt letztlich annimmt; der Tod wird im
christlichen Glauben vielmehr radikal ernst genommen als Abbruch des jetzigen irdischen Lebens und
als Auferstehung zu einem neuen Leben bei Gott.
Hier liegt der tiefste Grund, weshalb in der ganzen
Tradition des Christentums die Lehre von der Wiedergeburt eigentlich nie Fuß fassen konnte.
Dies gilt auch und gerade im Blick auf die Alte Kirche und hier in besonderer Weise für Origenes,
der immer wieder als Zeuge für die Lebendigkeit der Seelenwanderungslehre in der frühen Kirche
herangezogen wird. Sieht man freilich genauer zu, dann zeigt sich, dass Origenes zwar die Präexistenz
der Seele gelehrt hat, die ja eigentlich die Voraussetzung für
Wiedergeburt ist, dass er aber die Wiedergeburt gerade abgelehnt hat. Wenn folglich auf
der Versammlung der Konstantinopolitanischen Kirchenprovinz im Jahre 543 Lehrsätze des Origenes verurteilt worden sind, lässt sich daraus nicht
auf eine Verurteilung der Seelenwanderungslehre in
der Alten Kirche schließen. Die genannte
Kirchenprovinz definierte vielmehr folgenden Lehrsatz gegen die Origenisten:
«Wer sagt oder daran festhält, die Menschenseelen hätten ein Vorleben
gehabt, d. h. sie seien zuvor Geister und heilige
Gewalten gewesen, sie seien aber der göttlichen
Anschauung satt geworden, hätten sich dem Bösen
zugewandt, seien deshalb in der Liebe Gottes erkaltet, hätten so den Namen Seelen (= die Kalten)
bekommen und seien zur Strafe dafür in die Körper
gebannt worden, der sei ausgeschlossen.»
Aus dieser Verurteilung kann man unmöglich rückblickend
schließen, damit sei die Seelenwanderungslehre abgelehnt worden und vor dieser
Zeit sei diese Lehre eine ganz selbstverständliche
christliche Doktrin gewesen. Die patristische Literatur und Theologie beweisen vielmehr das
Gegenteil. Wie die späteren Konzilien haben sich
die allermeisten Kirchenväter gegen die Seelenwanderungslehre ausgesprochen, was in besonders deutlicher Weise bei Augustinus zum Aus-
druck kommt: «Es ist für mich einfältig zu
glauben, dass sich die Seelen aus dem jenseitigen
Leben, das ein vollkommen glückliches nur sein kann, wenn es die Gewähr ewiger Dauer hat, nach
der Hinfälligkeit des verweslichen Lebens sich wieder sehnen und von dort zu diesem zurückkehren wollen.»
Mit diesen Worten hat Augustinus in klassischer Weise ausgesprochen, wovon der christliche Glaube
überzeugt ist, dass nämlich unser jetziges Leben
einmalig und somit ein radikaler Ernstfall ist. Vermag man diese Überzeugung zu teilen, versteht es
sich leicht, dass die Vorstellung von Wiedergeburt
und Reinkarnation mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren ist und dass diese Vorstellung
in der christlichen Tradition nie eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Wenn man bedenkt, was alles mit
dieser Lehre für den christlichen Glauben auf dem Spiel steht, muss sich dies eigentlich von selbst
verstehen. Die Wiedergeburtslehre reibt sich vor allem am christlichen Interesse an der Einmaligkeit
der Erlösung des Menschen durch Tod und Auferweckung Jesu Christi und folglich am christlichen
Interesse an der Einmaligkeit des individuellen Menschenlebens zwischen Geburt und Tod.
Diese erzchristliche Überzeugung gilt es heute freilich in neuer
Weise zu profilieren. Die weite Verbreitung der Reinkarnationsvorstellung macht diese
Aufgabe in der christlichen Verkündigung ohne
jeden Zweifel überfällig. Um seiner eigenen Identität willen kann nämlich der christliche Glaube
nicht darauf verzichten, seine Überzeugung vom fordernden und harten Lebensverständnis von der
Einmaligkeit des Lebens gelegen oder ungelegen und keineswegs nur gelegentlich zu verkündigen,
wie sie fundamental zur biblischen Botschaft
gehört, wie sie in der christlichen Taufe ihren Tatbeweis findet und wie sie
in der christlichen Glaubensaussage des Fegefeuers in glaubwürdiger Weise
zum Tragen kommt.