Quelle: Zeitschrift Publik-Forum 2004
Die Gehirnforscher haben uns in den letzten Jahren erstaunliche
Einsichten vermittelt. »Unsere sichtbare Welt ist wie die Oberfläche
eines tiefen Ozeans«, sagt Herms Romijn vom Nationalen Institut für
Hirnforschung der Niederlande, »wir schaukeln mit unseren Booten auf den
Wellen und sehen nicht, was darunter liegt. Aber darunter erstreckt sich
eine unendlich tiefe Realität, über die wir so gut wie nichts wissen.
Wir fangen erst jetzt an, das alles zu untersuchen.«
Dieses Bild kann gut verstehen, wer einen Tauchkurs gemacht hat oder
auch nur einmal an einem belebten Korallenriff mit einer Maske
schnorchelte und Zentimeter unter der Wasseroberfläche eine
»Anders-Welt« erlebte, die er zuvor nicht mal ahnen konnte. Schon knapp
unter der Oberfläche kann alles ganz anders aussehen. Und in derTiefe
erst recht!
Schon vor Jahrtausenden haben Schamanen damit begonnen, »das, was
darunter liegt«, zu untersuchen. Sie sind »Astronauten des inneren
Raumes«, sagen die Ethnologen. Ist aber »innerer Raum« identisch mit der
eigenen Psyche, oder ist ein anderer Ort »außer uns« gemeint, ein Ort,
von dem Rationalisten bisher nichts gewusst, aber gelegentlich
-vielleicht bei einer Meditation - etwas geahnt haben? Oder aber liegt
auf der »anderen Seite«, unterhalb der Oberfläche, jene Welt, die
Philosophen schon immer gesucht und die Theologen »Jenseits« genannt
haben?
»Sicher ist eins«, schreibt Joachim Faulstich in seinem Buch »Das innere
Land - Bewusstseinsreisen zwischen Leben und Tod«: »Spätestens am Ende
unseres Lebens, wenn die Wahrnehmung der äußeren Realität abschaltet,
tauchen wir ein in die Landschaften der Seele. Eine Erfahrung, die das
Fühlen und Denken verwandelt, wie alle Berichte über Grenzerfahrungen
belegen.« Kommt die Seele aus einem großen Ganzen? Wir wissen zumindest,
dass unzählige Menschen in plötzlicher Todesnähe keine Angst, sondfrrn
Gefühle des Glücks und des Friedens erleben.
Der Autor, Fernsehredakteur und Filmemacher beim Hessischen Rundfunk,
hat für seinen mehrmals ausgestrahlten Film »Jenseitsreisen« nationale
und internationale Preise erhalten. Er hat selbst zehn Jahre Erfahrungen
in Seminaren über Nahtoderfahrung gesammelt und schildert neue
Erkenntnisse der Wissenschaft zu Todesnäheerlebnissen. Das
Eindrucksvollste seines Films und des Buches: Der Autor behauptet
nichts, sondern lässt Menschen zu Wort kommen, die wissen, wovon sie
sprechen, gleich ob Schamanen, Neurowissenschaftler mittelalterliche
Mönche oder Menschen mit eigenen Nahtoderfahrungen. Bringen uns solche
Erfahrungen Auskunft über die Unsterblichkeit der Seele und über eine
jenseitige Welt?
Was ist das Reiseziel der Seele? Oder wie es vor 50 Jahren noch im
Religionsunterricht hieß: »Wozu bin ich auf Erden?« Die Antwort im
katholischen Katechismus lautete damals:
»Um Gottes heiligen Willen zu tun und dadurch in den Himmel zu kommen.«
Was weiß also die moderne Wissenschaft über den Sinn des Hierseins?
Welche Antworten gibt inzwischen die Forschung über Nahtoderlebnisse?
Bei Versuchen mit Studenten simulierten Psychologen Elemente der
Nahtoderfahrungen, wie sie auch die Ärztin und Buchautorin Elisabeth
Kübler-Ross 40 Jahre lang studiert hat. Sie erzielten vergleichbare
Effekte, wie sie Menschen erlebt haben, die bei einer Nahtoderfahrung
einen »Blick nach drüben« werfen konnten, dann aber durch Reanimation
wieder »zurückgeholt« wurden. Sie hatten danach weniger Angst vor dem
Leben und noch weniger vor dem Tod. Sie hatten jetzt das Gefühl, Teil
eines großen Ganzen zu sein, lebten anders und bewusster. Und vor allem
hatten sie gelernt, dass wir uns das Paradies oder die Hölle selber
schaffen. Eine Frau berichtete: »Die Dinge, die mir vorher wichtig
waren, wurden unwichtig, aber scheinbare Kleinigkeiten wurden jetzt ganz
wichtig. Die Nahtoderfahrung hat mein Leben verändert. Ich lebe
bewusster und dankbarer.«
Die Erfahrenen berichten übereinstimmend von einem Gefühl, über dem
Körper zu schweben, vom Flug durch einen Tunnel in ein strahlendes
Licht, von der Begegnung mit verstorbenen Verwandten und einem
geheimnisvollen Lichtwesen und von einem Film, der im Zeitraffertempo
das ganze Leben noch einmal beleuchte. Elisabeth Kübler-Ross sagt: Viele
Menschen mit Nahtod-erfahrungen hätten »drüben« zum ersten Mal erfahren,
was »grenzenlose Liebe« sei. Ethnologen fanden heraus, dass ein
monotoner Trommelrhythmus von 220 Schlägen pro Minute das Bewusstsein
verändert. Sie bringen die Gehirnwellen in den Theta-Bereich, in ein
Zwischenreich zwischen Wachen und Träumen. In diesem Zustand können wir
angeblich, so berichten inzwischen zehntausende, den Kontakt zum Hier
und Jetzt behalten und gleichzeitig mit Helfern aus jenseitigen Welten
in Kontakt treten. Dabei entscheiden wir selber, wie weit wir wandern
wollen. Solche Tranceübungen, meint Joachim Faulstich, seien kein
Religionsersatz, helfen aber, »den eigenen Weg zu finden«. Ob jemand
religiös ist oder Atheist, spiele dabei kerne Rolle. »Das tragende
Prinzip ist Offenheit und Toleranz - genau das, was Menschen mit
lebensbedrohenden Krankheiten brauchen.«
Die Erfahrungen waren und sind im Altertum, bei Jenseitsreisen im
Mittelalter oder bei indianischen und sibirischen Schamanen von heute
verblüffend ähnlich. Schamanen waren schon immer Meister exstatischer,
also außergewöhnlicher Erfahrungen. Sie sehen und sprechen in einem
»anderen« Bewusstseinszustand mit »Geistern«. Faulstichs spannende
Entdeckung: Die Bewusstseinspioniere der Frühzeit und die Berichte von
Menschen, die in unseren Tagen Nahtoderlebnisse haben, erzählen von
derselben Vision einer »anderen Welt«. Die Reisenden machen Erfahrungen
in einem »inneren Land«; sie entdeckten ein »paralleles Universumvoller
Schönheit, aber auch nicht ohne Gefahren«, so der Autor. Wem das
Geheimnis des Lebens und Todes nicht gleichgültig ist, wird von diesem
»Reisebericht« geradezu gefesselt sein. Die moderne Neurologie zeigt uns
die Umrisse einer Landkarte des Unbewussten, die ahnen lässt, was die
Seele mit uns vorhaben könnte.
Im Dogenpalast von Venedig hängt das Werk des niederländischen Malers
Hyronimus Bosch aus der Zeit um 1500: »Der Aufstieg ins himmlische
Licht«. Zu sehen ist ein Mensch, begleitet von einem Engel, in einer
Lichtspirale. Am Ende des Tunnels leuchtet ein »ewiges« übernatürliches
Licht. Das Bild entspricht den heutigen Nahtoderfahrungen, sagen die
Wissenschaftler.
Der Heidelberger Neurologe und Psychiater Michael Schroeter-Kunhardt,
Leiter der deutschen Nahtodforschung, schätzt, dass heute etwa drei
Millionen Deutsche eigene Nahtoderfahrungen haben. Vorläufiges Fazit
seiner Forschung: Biologische Prozesse im Gehirn seien für
Todesnäheerfahrungen verantwortlich. Und das mache durchaus Sinn. Denn:
»Der Sinn dieses biologisch initiierten Programms ist es, den Leuten zu
zeigen, dass der Tod nicht das En-dSgist. Die Erfahrung ist so perfekt,
dass man sich wohl kaum eine bessere Methode vorstellen könnte, jemanden
auf ein Leben nach dem Tod vorzubereiten.« Schroeter-Kunhardt vergleicht
das Gänze mit einem Flugsimulator, der ja auch die Aufgabe habe, auf das
wahre Fliegen vorzubereiten:
»Der Mensch ist von vornherein ein religiöses Wesen.«
So weise eine über zehn Jahre geführte holländische Langzeitstudie des
Kardiologen Pim van Lommel nach, dass Herzpatienten mit
Todesnäheerfahrung keine Angst mehr vor dem Tod haben und ihr Interesse
an Natur und Mitmenschen wesentlich höher sei als von Herzparienten ohne
Nahtoderfahrung. 18 Prozent seiner Patienten hatten Nahtoderfahrungen.
Die medizinischen Werte der beiden Gruppen unterschieden sich nicht.
Für den US-amerikanischen Kardiologen Michael Sabom sind die gut
dokumentierten Nahtoderfahrungen seiner Hirnpatientin Pam Reynolds wie
ein Beweis für die Existenz der Seele. Bei dieser Patientin hatten die
Kurven des EEG, das die Hirnströme misst, eine Nulllinie gezeigt, ebenso
die Kurve, welche die elektrischen Aktivitäten im Hirnstamm angibt. Also
tot! Danach aber begann die Patientin ihre eigentliche Jenseitsreise.
Das ist lückenlos dokumentiert.
Schroeter-Kunhardt dazu: »Normalerweise würden wir als Mediziner
erwarten, dass das Gehirn in diesen Situationen abschaltet. Die
Tatsache, dass es dies eben nicht tut und jetzt komplexe
Höchstleistungen ablaufen, zeigt uns, dass es ein Leben nach dem Tod
geben kann und dass die Nahtoderfahrung sozusagen auf dieses Leben nach
dem Tod vorbereitet.«
Die bisherigen Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Thanatologie
(Thanatos ist das griechische Wort für »Tod«) sind für viele sicher noch
kein exakt-wissenschaftlicher Beweis für die SeeleT für das Paradies
oder auch für das Fegefeuer und die Hölle. Wir wissen nur, dass wir ein
Land der Imagination betreten. Aber tröstlich ist für Joachim Faulstich
schon der wissenschaftliche Befund, dass es nach dem Tod »irgendwo
weitergehen könnte«. Vielleicht findet die Seele beim Sterben zu sich
selbst. Und zudem: Wer Sterbende begleitet, kann heute in Kursen lernen,
was sie beim Sterben durchleben. Das kann den Begleitern ebenso eine
Hilfe sein wie den Sterbenden.
Darüber berichten schon das tibetische und das ägyptische Totenbuch,
aber auch christliche Totenbücher und die Druiden der alten Kelten. Und
die moderne Wissenschaft lernt jetzt auch, dass der Geist in veränderten
Bewusstseinszuständen eine »andere« Ebene von Wirklichkeiten, ja
Parallelwelten, entdecken kann. Das wusste im 20. Jahrhundert kaum
jemand besser als der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung. Er
ist ein Kronzeuge bei Faulstichs Entdeckungsreise ins »innere Land«. Neu
ist also Faulstichs Psycholandkarte nicht, aufregend aber allemal.
Menschen aller Kulturen und Religionen fanden zu allen Zeiten ihren
eigenen Weg ins Zentrum des Geheimnisses. Geh-Heim-nis! Religion war nie
etwas anderes als Sehnsucht nach Heimat.
»Das innere Land« ist ein spannend geschriebenes, bestens recherchiertes
und existenziell berührendes Buch. Danach ist wohl kein Leser mehr
derselbe oder dieselbe. Es könnte ja sein, dass nach der Lektüre dieses
Buches für neugierig gewordene Leser die Reise ins »innere Land« nicht
aufhört, sondern erst wirklich beginnt. Die Mönche im Mittelalter haben
uns schon gelehrt, dass die Kunst des Sterbens (»ars moriendi«) der Sinn
des Lebens sei. Ihre Lehre kann man so zusammenfassen: Lebe so, als sei
der nächste Augenblick dein Letzter. Oder: Lerne zu sterben im Einklang
mit dem göttlichen Gesetz, das deine Seele sehr wohl kennt. •
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Das innere Land«: Joachim Faulstich, 320 Seiten, Knaur Verlag, 17,90
Euro.
Infos: www.das-innere-land. de.
Siehe auch: Publik-Forum-Extra »Das Jenseits in uns« von Peter Rosien
(Bestell-Nummer 2662)
zurück zu:
Literatur Nahtoderfahrungen |