....Bereits der Wiener Arzt und Begründer der
Psychoanalyse Sigmund Freud (1856 bis 1939) hatte
Erinnerungsverluste beschrieben, die - offenbar ohne
dass eine Hirnschädigung vorlag - in schwierigen
Lebensumständen aufgetreten waren. Der von mir, Angelika
Thöne aus meiner Arbeitsgruppe sowie Gereon Fink, Josef
Kessier und Wolf-Dieter Heiss vom Max-Planck-Institut
für neuropsychologische Forschung in Köln untersuchte
Mann behauptete, plötzlich - das war zu der Zeit ein
halbes Jahr her - alle Ereignisse seines bisherigen
Lebens vergessen zu haben: Er sei seit damals, was seine
persönlichen Lebensumstände betreffe wie neugeboren, ihm
fehlten sozusagen die Bilder, die normalerweise unsere
Vergangenheit widerspiegeln.
Eines Tages war er morgens von zu Hause losgeradelt, um
Brötchen zu holen. Er kam aber nicht zurück, sondern war
stattdessen tagelang am Rhein entlang gefahren. Er
wusste nicht, wer er war; aus Schaufenstern starrte ihn
ein fremdes Gesicht an. Schließlich wurde er in einer
Großstadt aufgegriffen und in eine psychiatrische Klinik
gebracht, wo er angab, sein Gedächtnis verloren zu
haben. Selbst seinen Namen und seine Herkunft kannte er
nicht mehr. Für ihn begann gleichsam ein neues Leben -
sogar sein Asthma und seine Allergie hatte er
verloren.
Als seine Familie ihn über eine Vermisstenanzeige
schließlich wiederfand und zurückholte, war ihm sein
früheres Zuhause gänzlich fremd. Die Einrichtung gefiel
ihm nicht, selbst Frau und Kinder kannte er nicht
wieder, glaubte vielmehr, man wolle ihn verkuppeln.
Schließlich fügte er sich aber in die Situation und
erlernte seine Vergangenheit neu - allerdings ähnlich
wie Schulstoff. Er war überdurchschnittlich intelligent
und eignete sich schnell ein beträchtliches neues
Wissensrepertoire an. Ansonsten schien sein Faktenwissen
ungetrübt zu sein; so konnte er weiterhin schreiben,
rechnen und alltägliche Verrichtungen ausführen. Als wir
ihn acht Monate nach dem Zusammenbruch kennenlernten,
wusste er alles, was seitdem geschehen war, sehr genau,
wenngleich es angelernt wie Schulwissen wirkte. Aus der
Zeit davor aber, auch aus seiner belasteten Kindheit und
Jugend, erinnerte er aktiv, das heißt aus sich heraus,
immer noch nicht das mindeste.
Selbst mit raffinierten neuropsychologischen
Untersuchungsverfahren - etwa mit dem Trick des Priming,
also dem Versuch, unbewusste Assoziationen hervorzurufen
- gelang es uns nicht, sein Unbewusstes zu wecken.
Deshalb wollten wir die Hirndurchblutung messen, um
eventuelle neuronale Aktivitäten bei der Konfrontation
mit früheren Ereignissen zu erkennen. Dazu verrechneten
wir PET-Daten, die aufgenommen worden waren, während wir
ihm Geschichten aus seiner Kindheit nach Erzählungen
seiner Frau vorlasen oder Begebenheiten aus den letzten
acht Monaten, die er selbst uns mitgeteilt hatte. An
sich hatten wir erwartet, für beide Arten von
Erinnerungen unterschiedliche Hirnregionen aktiv zu
finden, doch zu unserer Überraschung blieb nach der
Subtraktion für die Kindheitserlebnisse praktisch nichts
übrig. Offenbar existierte die Zeit vor dem
Gedächtniseinbruch für den Patienten noch nicht einmal
mehr unterbewusst........
Die vollständige
wissenschaftliche Studie, für die ich Herrn Prof.
Markowitsch an dieser Stelle danken möchte, kann
heruntergeladen werden unter:
http://www.origenes.de/wissen/st/PETSTUDY.pdf