Im Frühjahr
1954
glaubte man, Jasbir, der dreieinhalb Jahre alte Sohn von Sri Girdhari Lal Jat
aus Rasulpur, Distrikt Muzaffarnagar im Staate Uttar Pradesh (Indien), sei an Pocken
gestorben. Jasbirs Vater ging zu seinem Bruder und zu anderen Männern des Dorfes
und bat sie, ihm bei der Beerdigung seines «toten» Sohnes1
zu helfen. Da es schon spät in der Nacht war, rieten sie dazu, die Beisetzung
auf den nächsten Morgen zu verschieben. Einige Stunden später bemerkte Sri
Girdhari Lal Jat zufällig, wie sich der Körper seines Sohnes etwas bewegte, der
dann allmählich wieder vollständig zum Leben zurückkehrte.
Nach einigen Tagen konnte der Junge wieder sprechen und nach einigen Wochen sich
wieder klar ausdrücken. Als er die Fähigkeit zu sprechen wiedererlangte, zeigte
er eine bemerkenswerte Veränderung in seinem Benehmen. Er erklärte jetzt, er sei
der Sohn von Shankar aus dem Dorf Vehedi und wolle dort wieder hin. Er wolle im
Hause der Familie Jat kein Essen mehr zu sich nehmen, und zwar deswegen, weil er
einer höheren Kaste angehöre, er sei nämlich ein Brahmane. Diese hartnäckige
Verweigerung der Nahrungsaufnahme hätte sicher einen zweiten Tod herbeigeführt,
wenn nicht eine mitfühlende Brahmanenfrau, eine Nachbarin von Sri Girdhari Lal
Jat, sich bereit erklärt hätte, für Jasbir nach Brahmanenart zu kochen. Dies tat
sie etwa anderthalb Jahre lang. Jasbirs Vater besorgte die Lebensmittel für die
von ihr zubereiteten Mahlzeiten. Aber seine Familie täuschte Jasbir manchmal und
gab ihm nicht von der Brahmanenfrau zubereitetes Essen. Er entdeckte die
Täuschung, und dieser Umstand sowie der von seiner Familie ausgeübte Druck
führten ihn allmählich dazu, seine strengen brahmanischen Speisegewohnheiten
aufzugeben und wieder an den regulären Mahlzeiten der übrigen Familie
teilzunehmen. Die Periode des Widerstandes dauerte nicht ganz zwei Jahre.
Jaspirs Vater gab an, dass man auch eine
Veränderung im Wortschatz Jaspirs wahrnahm, als er nach seiner Krankheit wieder
zu sprechen begann. Beispielsweise pflegte er jetzt "haveli" und nicht "hilli"
für Haus zu sagen und "kapra" anstelle von "latta" für Kleider. Die höheren
Schichten der Gesellschaft, wie die Bramanen, benutzten die erstgenannten und die
niederen Schichten die letztgenannten Wörter. Auch wollte Jaspir in späteren
Jahren eine für die Bramanenkaste übliche Halskordel tragen.
Jasbir begann,
weitere Einzelheiten «seines» Lebens und Sterbens im Dorfe Vehedi mitzuteilen. Er beschrieb ausführlich, wie er bei einer Hochzeitsprozession von einem zum
anderen Dorf einige vergiftete Süßigkeiten gegessen hatte und behauptete, ein
Mann, dem er Geld geliehen hatte, habe ihm diese Süßigkeiten gegeben. Ihm sei
schwindlig geworden, sei von dem Wagen gefallen mit dem er fuhr, habe sich am
Kopf verletzt und sei gestorben.
Jasbirs Vater hat versucht, die Kunde von Jasbirs
seltsamen Behauptungen und seinem Verhalten im Dorf zu unterdrücken, aber die
Neuigkeiten sind doch
durchgesickert. Das besondere Kochen für Jasbir nach Brahmanenart war natürlich
den anderen Angehörigen der Brahmanenkaste im Dorf bekannt, und schließlich,
nämlich etwa drei Jahre später, wurde eine von ihnen, Srirnati Shyamo, eine aus
Rasulpur gebürtige Brahmanin, die einen aus Vehedi gebürtigen Mann, Sri Ravi
Dutt Sukla, geheiratet hatte, darauf aufmerksam. Bei seltenen Anlässen, in
Zwischenräumen von mehreren Jahren, kehrte sie nach Rasulpur zurück. Bei einem
solchen Besuch im Jahr 1957 erkannte Jasbir sie als seine «Tante».2
Sie berichtete das Ereignis der Familie ihres Ehemannes und Mitgliedern der
Familie Tyagi in Vehedi. Die Einzelheiten «seines Todes» und andere Dinge, die
Jasbir erzählt hatte, stimmten genau überein mit Einzelheiten des Lebens und
Sterbens eines jungen Mannes von 22 Jahren, Sobha Ram, Sohn von Sri Shankar Lal
Tyagi aus Vehedi. Sobha Ram war im Mai 1954 bei einem Wagenunfall ums Leben
gekommen,
wie Jasbir ihn und seinen Hergang beschrieben hatte, obwohl die Familie Tyagi
nichts von einer Vergiftung oder einer Geldsumme wusste,
die Sobha Ram geschuldet wurde, bevor sie von Jasbirs Behauptungen gehört
hatten.
Später
besuchte Sri Ravi Dutt Sukla, Ehemann von Srimati Shyano, Rasulpur, hörte
Berichte über Jasbirs Behauptungen und traf mit ihm zusammen. Daraufhin begaben
sich Sobha Rams Vater und andere Mitglieder seiner Familie nach dort. Jasbir
erkannte sie wieder und wies ihnen richtig ihre Plätze an entsprechend ihrer
Verwandtschaft mit Sobha Ram. Wenige Wochen später brachte ein Dorfbewohner von
Vehedi, Sri Jaganath Prasad Sukla, angestiftet von dem Verwalter der Zuckermühle
bei Vehedi, Jasbir nach Vehedi, wo er ihn beim Bahnhof absetzte und ihn bat, den
Weg zum Hof
der Familie Tyagi zu zeigen. Dies machte Jasbir ohne Schwierigkeit. Später wurde
Jasbir zum Hause von Sri Ravi Dutt Sukla mitgenommen und zeigte von dort wieder
den Weg — eine andere Strecke — zum Hause Tyagi. Er blieb einige Tage im Dorf
und legte gegenüber der Familie Tyagi und anderen Dorfbewohnern ein
detailliertes Wissen von der Familie Tyagi und ihren Angelegenheiten an den Tag
und zeigte höchstes Wohlwollen gegenüber dem Sohn von Sobha Ram. Er selbst fühlte sich in Vehedi sehr wohl und kehrte mit großem Widerwillen nach
Rasulpur zurück. Er In der Folgezeit besuchte Jasbir Vehedi von Zeit zu Zeit,
gewöhnlich für mehrere Wochen und häufiger im Sommer. Er wollte nur noch in
Vehedi wohnen und fühlte sich in Rasulpur isoliert und einsam. Dort wurde er
gehänselt, weil er sich zur Kaste der Bramanen zugehörig fühlte, obwohl er in
einer niederen Kaste geboren wurde.
Fußnote zum
Fall Jaspir:
1 Während
die Leichen Erwachsener von den Hindus in Indien verbrannt werden, werden
Kinder unter fünf Jahren gewöhnlich in Gruben beerdigt. Die Leichen aller an
infektiösen Krankheiten verstorbener Personen werden nicht verbrannt,
sondern entweder beerdigt oder in Flüsse geworfen.
2
In Indien
werden Personen, mit denen man nicht verwandt ist, die aber aus demselben
Dorf stammen, mit Verwandtschafts- bezeichnungen angeredet. So wird eine
ältere weibliche Freundin der Familie in angemessener Weise familiär von
einer jüngeren Person des gleichen Dorfes »Tante« genannt..
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