Im Sommerurlaub fing ich
an, mir bei gelegentlichen Strandspaziergängen Gedanken für meinen Beitrag
zu machen. Dabei formierte sich ein stetig wiederkehrender Satz in mir:
„Wenn es für mein
erlittenes Leid einen Sinn gäbe, dann nur den, dass ich die mystische
Erfahrung der absoluten Ganzheit erleben durfte.“
Wieder zu Hause blätterte
ich in meinen Büchern und stieß auf einen Ausspruch von Paul Watzlawick:
„Die so genannte
mystische Erfahrung ist etwas gänzlich Unbeschreibliches. Schon das Etikett
Mystik wird dieser Dimension von Erfahrungen nicht gerecht. Man tritt
aus dem Gegebenen und Vorhanden völlig heraus und hat ein Erlebnis der Ruhe
und Erfüllung und des Stimmens, das man nur nachträglich in die Sprache
einer Ideologie oder Religion übersetzen kann. In diesem Augenblick, indem
man beginnt, diese Erfahrung zu beschreiben, zu klassifizieren und zu
begründen, hat man sie zerstört.“
Aus: Berhard Pörksen,
Abschied vom Absoluten, S.231
Selbstverständlich möchte
ich diese und auch meine Erfahrung nicht zerstören, sondern im Gegenteil mir
und Ihnen einen weiteren Baustein des Erkennens und Verstehens bauen. Das
Erlebnis selbst schaffte mir die Erkenntnis, die keine Worte braucht.
Aber der Prozess des eigenen Erkennens dieser Erkenntnis ist leichter, wenn
man Worte findet und sich mit anderen darüber austauscht.
Trotzdem meine Bitte:
Seien Sie sich immer wieder bewusst, dass es eigentlich keine Worte dafür
gibt, ich also auch nur so tue, als hätte ich die richtigen. Deshalb kann
ich auch nicht behaupten, im Besitz der alleingültigen Wahrheit zu sein. Ich
habe nur einen Teil der absoluten Ganzheit schauen dürfen, doch das war es,
was mir auch die Kraft gab, meine Krankheit und deren Behandlung heil zu
überstehen.
Wie ein roter Faden ziehen sich
durch mein Leben Nahtoderfahrungen. Es waren für mich mystische Erfahrungen,
die mein Leben in Gefahr beschützten und mir halfen, mich gewandelt
weiterzuentwickeln.
Als Kind erlebte ich mich beim Sturz
in eine mit Wasser gefüllte Regentonne zum ersten Mal von meinem Körper
getrennt.
Als junge Frau erlebte ich während
hohem Fieber Ähnliches.
Beide Ereignisse lagen tief in meinem Bewusstsein verschüttet. Doch dann
hatte ich im Herbst 1995 ein Nahtoderlebnis von einer solchen Dichte und mit
einem so hohen Wandlungspotential, dass sich die Art und Weise, wie ich auf
mich und die Welt schaue, grundlegend änderte. So grundlegend, dass ich
immer wieder selbst erstaunt bin.
Die absolute Loslösung von mir und
meinem Körper führte in ihrer gnadenlosen Auseinandersetzung mit mir und der
Welt zu einer Durchdringung meiner selbst, die mir – heute wieder heil im
Leben stehend – eine heilige Ergriffenheit schenkt, die in beide Richtungen
funktioniert: Ich kann mich dem mystischen Fühlen und Lichttanken, so nenne
ich das, jederzeit öffnen und gleichzeitig im Hier und Jetzt sein, mit
meinem wahrhaftigen So-sein. Das ist genial. Es war ein langer Weg, dies zu
erkennen und zu begreifen und ich weiß, dass ich noch nicht am Ende
angelangt bin. Es gibt selbstverständlich Tage, an denen keines von beidem
so richtig funktionieren mag und mein wahrhaftiges So-Sein sich auf ein
demütiges Hinnehmen misslicher Umstände beschränkt. Aber auch das hat eine
gewisse Tiefe, die mich tröstet.
Dass weitere Reifungsphasen auf mich
warten, ist mir klar. Momentan bin ich zufrieden, da, wo ich erst mal
angelangt bin und hoffe inständig, dass weitere Reifungsphasen nicht mehr so
gnadenlos brutal wie vor dreizehn Jahren verlaufen werden.
Vergleichbar einem Maler, dem sich
plötzlich eine Form oder Farbe offenbart, mache ich die Erfahrung, dass
immer wieder Worte aus mir herausfließen. Ich nenne diese Worte „poetische
Stenogramme“. Während der Vorbereitung auf dieses Symposium kam mir ein
solches poetisches Stenogramm in den Sinn. Es heißt „Freiflug“:
Freiflug
Mein Krankenlager als
Abschussrampe.
Ich fliege hinaus ins
Universum,
befreit allen irdischen
Leids.
frei - frei- frei
grenzenlos
Verschmelze mit der
absoluten Liebe,
dem absoluten Licht.
frei – frei – frei
geborgen
Landung in der göttlichen
Urkraft allen Seins.
Hier ist meine Heimat,
aus der ich kam und in
die
ich zurückkehre.
Es ist so leicht zu
verstehen.
August
2008
Ein Rückblick in das Jahr
1995:
Rainer Maria Rilke hat
schon 1902 formuliert, was mir im Alter von 38 Jahren widerfuhr: „Der Tod
ist groß, wir sind die Seinen lachenden Munds, wenn wir uns mitten im Leben
meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.“
Bis dato war ich
kerngesund, glücklich verheiratet und erfolgreich im Beruf als
selbstständige Physiotherapeutin. Unsere drei Kinder wuchsen und gediehen
und ich war mit meinem Leben vollends zufrieden und mir dieses Glückes stets
bewusst. Von Nahtoderlebnissen hatte ich noch nie etwas gehört, geschweige
denn die Bücher Moodys gelesen, aus heutiger Sicht eine echte Bildungslücke.
Im Mai 1995 erkrankte ich
an einer so heftigen Grippe, wie ich es bis dahin noch nie erlebt hatte.
Hohes Fieber und sehr starke Knochen- und Muskelschmerzen zwangen mich lange
nieder. Bemerkenswert empfinde ich im Nachhinein meine damalige Vorahnung:
Ich wusste im tiefsten Inneren, dass diese Sache kein gutes Ende nehmen
würde. Aber ich traute mich nicht, darüber offen zu sprechen. Außerdem hatte
ich Angst, womöglich als Hypochonder abgestempelt zu werden. Trotz
peripherer Lymphknotenschwellung, Nachtschweiß, Fieber, Gewichtsverlust und
Einblutungen in die Haut folgte ich dem Rat meines Hausarztes, erst einmal
abzuwarten. So zog sich dieser Zustand über vier Wochen hin, bis ich dann
auf eigenen Wunsch einen Facharzt aufsuchte, der mich für weitere
Untersuchungen sofort in eine Klinik einwies.
Anfangs wurde noch der
Verdacht einer Herzklappenentzündung diskutiert. Wenige Tage später
berieten die Ärzte darüber, einen Lymphknoten für Diagnosezwecke zu
entfernen. Dabei fiel zum ersten Mal das Wort Hodgkin-Lymphom. Diesen
medizinischen Begriff kannte ich vage und meine Alarmglocken schlugen an.
Das klang nach Krebs.
Doch meine Ärzte hielten
sich bedeckt. Verständlich, denn keiner wollte mich unnötig ängstigen.
Leider bewirkte es das Gegenteil. Ich wurde hellhörig und machte mir
wahnsinnig viele Gedanken. Die Gewebshistologie der entnommenen Lymphknoten
ergab kein eindeutiges Ergebnis. Später erfuhr ich, dass die Fachärzte eine
Krebserkrankung weder dementieren noch bestätigen konnten, sie sprachen von
einem ungewöhnlichen Fall. Durch Cortisongaben erholte ich mich und ich
konnte sogar den geplanten Sommerurlaub mit meiner Familie antreten. In
meinen Koffer steckte ich das einzige Buch von Elisabeth Kübler-Ross, was
ich zum damaligen Zeitpunkt in meinem Bücherregal hatte. Es heißt: Kinder
und Tod.
Ich hatte es mir Jahre
zuvor gekauft, um mich als Mutter mit diesem Thema zu befassen, sollte ich
jemals in die Lage kommen, eines unserer Kinder verlieren zu müssen. Hatte
ich doch nach jeder Geburt neben dem unsagbaren Glücksgefühl auch den Tod,
leise und klein, seine schiere Möglichkeit, in meinen Armen gefühlt. Nicht,
dass ich konkret um eines unserer Kinder gebangt hätte. Es war die
tiefgreifende Erkenntnis, dass mit der Geburt auch der Tod geboren wird. So
befasste ich mich mit dem Tod von Kindern und dieser gradlinigen Art, wie
Kinder den Tod begreifen können. Das half mir, mich mit der Vorstellung
meines eigenen Todes vertraut zu machen, obwohl es keinen medizinisch
konkret greifbaren Anlass gab. Es war mir ein inneres Bedürfnis, und aus
heutiger Sicht bin ich dankbar und froh darüber, dass ich es nicht verdrängt
habe. Diesen Sommer 1995 erlebte ich bewusster als früher. Meinen Kindern
und meinem Mann schenkte ich innerlich ein viel größeres Maß an Liebe als
sonst üblich. Ich dachte und fühlte, es könnte mein letzter Sommer sein.
Anfang September 1995
fühlte ich mich erneut sehr schlecht, aber ich ging dem nicht nach. Mit
zusammengebissenen Zähnen schaffte ich es noch, ein zweitägiges Seminar
abzuhalten. Danach wollte ich mich schonen. Doch weit gefehlt: Ich hatte
Fieber und litt unter unsäglichen Bauchschmerzen, die stärker als die bei
den Geburten meiner Kinder waren.
Ich kam erneut in die
Klinik. Vergleiche ich die Heftigkeit der Bauchschmerzen mit den Schmerzen
während der Geburten, so war es, als hätte ich in dieser Zeit jeden Tag zehn
Geburten erlebt. Mit hohen Dosen an Schmerzmitteln und verschiedenen
Untersuchungen versuchten die Ärzte, mir zu helfen. Sie waren ratlos.
In diesen ersten Wochen
im Krankenhaus verwandelte ich mich innerlich, zog mich zurück, lebte in
meinem Innenraum. Ich schrumpfte quasi auf die kleinste innere Einheit
zusammen, um gegen Angriffe von außen geschützt zu sein. So erlebte ich eine
hohe Konzentration und Wachheit. Ohne dies zum damaligen Zeitpunkt bewusst
zu reflektieren, diente – aus heutiger Sicht – diese Wachsamkeit dazu,
kleinste Veränderungen an meinem Körper exakt zu spüren. In manch brenzliger
Lage hat das dazu beigetragen, Schlimmeres zu verhindern. Meine
Außenwahrnehmung reduzierte ich auf das unbedingt Notwendige, es war, als
hätte ich eine Schicht, eine Art durchsichtige Scheibe zwischen mich und die
Außenwelt gezogen.
Besonders bemerkenswert
erscheint mir die Tatsache, dass ich im Kontakt mit Ärzten und Schwestern
hauptsächlich deren körpersprachliche Signale wahrnahm und weniger die
tatsächlich gesprochenen Worte. Öffnete sich die Tür zu meinem Zimmer und
die Ärzte kamen herein, erkannte ich blitzschnell, welche Botschaft sie für
mich hatten oder ob sie mir etwas verschweigen wollten. Ich spürte sofort,
wer unsicher, verlegen, müde war oder wer Angst vor dem Tod hatte.
Mein Zustand
verschlechterte sich rapide. Fast täglich stand eine Untersuchung auf dem
Plan, um der Ursache meines erbärmlichen Zustandes näherzukommen.
Während einer solchen Untersuchung
hatte ich dann diese tiefe Transzendenzerfahrung, von der ich Ihnen erzählen
möchte.
Bevor ich Ihnen dies nun im
Einzelnen schildere, möchte ich Sie noch einmal darauf hinweisen, dass es
hierfür eigentlich keine präzisen Worte gibt. Das Eintauchen in diese andere
Dimension lässt sich mit unserem Sprachwortschatz nicht angemessen
beschreiben. Alle Versuche bleiben Annäherungen, aber ohne diese wäre eine
Kommunikation völlig unmöglich.
Was ich Ihnen nun eines nach dem
anderen berichte, erlebte ich alles gleichzeitig, schon alleine dieser
Umstand ist unglaublich. Und noch etwas ist mir wichtig zu erwähnen: Um
alles verstehen zu können, brauchte ich keine Worte oder Begriffe. Die waren
während des Erlebens völlig unwichtig. Ich verstand alles ohne Worte
und in einer ungeheuren Schnelligkeit. Mein Bewusstsein war dabei so klar,
wie nie zuvor in meinem Leben.
Es geschah wie von selbst: Meine
Seele, mein Wesen, meine Essenz, das, was mich ausmacht, trennte sich von
meinem Körper. Über den Kopf glitt ich aus meiner Hülle und fand mich über
mir schwebend wieder. Ich konnte alle Perspektiven gleichzeitig wahrnehmen:
Ich konnte nach unten auf meinen Körper und zugleich auf die Ärzte blicken,
ohne dabei meine Blickrichtung ändern zu müssen. Ich wusste, das ist mein
Körper, der in diesem Bett liegt, aber er berührte mich nicht mehr, denn ich
war von allen Schmerzen befreit.
Gleichzeitig war ich umhüllt von
einem Licht, wie ich es bis dahin noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Es
war ein Sehen, das nicht über die Augen gesteuert wurde. Dieses Licht war
schöner als ein Sonnenaufgang, strahlend hell und weich, und ich erlebte
sogar jeden einzelnen Teil des Lichtes. Ja, ich tauchte in dieses Licht ein,
es durchflutete mich und ich war eins mit diesem Licht.
Ich fühlte mich dort oben oval, als
Ganzes und hatte kein Gefühl mehr für einzelne Körperteile. Nur meinen Kopf
mit einem lächelnden Gesicht nahm ich wahr, besonders die Augen, sie
schienen größer als sonst. Ich glaube, mein Gesicht bestand fast nur aus
diesen Augen. Der Rest von mir war groß und oval, fließend weich. Ich fühlte
mich hellwach und war überwältigt von der unendlichen Freiheit und
Leichtigkeit. Zeit spielte keine Rolle mehr, hatte ich doch das Gefühl, in
die Unendlichkeit eingetaucht zu sein. Ich hatte den Eindruck, ohne Worte
die ganze Welt, mehr noch, das ganze Universum zu verstehen und es in mir
bzw. mich als Teil des großen Ganzen zu fühlen.
Immer wieder sah ich auch nach unten
auf mich und die Ärzte hinab. Aber es war mir gleichgültig, was dort
geschah, denn das Licht hatte eine Kraft, die mich vollkommen aufgenommen
hatte. Es erfüllte den ganzen Raum bis zur Decke und darüber hinaus und
vermittelte mir ein riesengroßes Gefühl der Geborgenheit, ähnlich einem
großen Liebesgefühl oder Gefühl des Angenommenseins. Phasenweise hörte ich
auch Musik, wohlklingende, wechselnde Harmonien.
Wiederum gleichzeitig erschien mein
gesamtes Leben im Zeitraffer vor mir. Von meiner Geburt bis zum damaligen
Zeitpunkt erschienen verschiedene schöne Situationen: Szenen aus meiner
Kindheit, meine Hochzeit oder die Geburt der Kinder. Aber es waren auch
Begebenheiten dabei, mit denen ich nicht so zufrieden war. Sie wurden einer
neuen Bewertung unterzogen und erfuhren ein Gefühl des Verzeihens – sowohl
von mir als auch von den an den jeweiligen Situationen beteiligten Menschen.
Ich wollte nicht mehr zurück in meinen kranken Körper.
Doch diese Herrlichkeit wurde jäh
beendet und plötzlich fand ich mich in meinem kranken und schmerzenden
Körper im weißen Krankenhausbett wieder. Die Rückkehr war einfach
schrecklich.
Dann endlich, im Oktober
1995, konnte die Diagnose Krebs gestellt werden, ein hochmalignes
Non-Hodgkin-Lymphom im Stadium IIIB. Eine Erkrankung ähnlich einer akuten
Leukämie, die unbehandelt rasch zum Tode führt. In die Universitätsklinik
Mainz verlegt, begann man sofort mit der Chemotherapie, weil meine Tumore
sehr sensibel auf diesen Stoff reagieren würden, wie die Ärzte mir
versicherten. Tatsächlich, nach der ersten Dosis schmolzen sie wie Butter in
der Pfanne.
Heilung:
Dieses Wort ist eines der
Worte, welches für mich einen ganz besonderen Klang hat und in mir eine
Erfurcht erzeugt, die ich bis heute fühle. Für mich ist Heilung ein Prozess,
ein Weg, ein immer wieder neu zu erringender Zustand, auf dem ich einzelne
Schritte gegangen bin und weiter gehen werde. Ich möchte Ihnen erzählen, in
welchen Ebenen ich versuchte, meine Heilung mit dem, was mir möglich war, zu
unterstützen.
Der tiefste
Heilungsimpuls entstand, als das Leid am größten war und ich mich in die
absolute Ganzheit fallen ließ. Es war ein inneres Loslassen, das Austreten
aus meinem Körper und das Verschmelzen mit dem Licht. Dieses Licht, diese
Liebe, diese grenzenlose Freiheit, dieses Gefühl, als wäre ich heimgekehrt,
als wäre etwas zur Vollendung gekommen, was bisher nicht möglich gewesen war
– das war unermesslich kostbar für mich und erfüllt mich auch heute wieder
mit einer großen Sehnsucht.
Dieses Erlebnis wirkte in
mir, ohne dass ich eine Erkenntnis über diese unglaubliche Erkenntnis hatte.
Ich spürte es durch eine tiefe innere Kraft und Zuversicht. Ich verfügte
über Phasen von glasklarem Bewusstsein, die mir Ideen schenkten und mich
Dinge tun ließen, die ich noch nie zuvor getan hatte. Ich verfügte manchmal
über einen vorher nicht gekannten Mut und war in der Lage zu sehr
zielgerichtetem Handeln, obwohl meine Kräfte im Verhältnis dazu winzig klein
waren. Außerdem hatte ich auch eine Heiterkeit in mir, einen liebevollen
Humor, der mich zwischendurch den Wahnsinn vergessen ließ und mir schöne
Momente mit meinem Mann und unseren Kindern schenkte.
Eine kleine Auswahl
dieser Dinge erzähle ich Ihnen heute:
Meine Ärzte rieten mir zu
einer Knochenmarktransplantation. Ihre Begründung: Würde ich die
Transplantation als Ersttherapie und nicht als mögliche Option bei einem
Rückfall nutzen, würden sich die Heilungschancen damit von herkömmlichen
fünfzig Prozent auf ganze achtzig Prozent erhöhen. Dreißig Prozent mehr
Heilungschance für den Preis, noch mal an den Rand des Todes zu gehen, dann
ganz bewusst und mit vollem Risiko. Ich konnte mich lange nicht dazu
durchringen, weil es mir mit der Chemotherapie, abgesehen von den
Nebenwirkungen, besser ging. Ich rechnete: Würde ich es nicht machen, müsste
ich vielleicht in zehn Jahren doch sterben, aber dann wären unsere Kinder
schon zwölf, siebzehn und zwanzig Jahre alt. In diesem Alter kann ein Kind
den Tod der Mutter begreifen. Würde ich während der Transplantation sterben,
dann wären sie noch so klein und mein Leben so kurz.
Aber dreißig Prozent mehr
Chance, womöglich wieder ganz gesund zu werden, waren dreißig Prozent, die
es zu nutzen galt. Es war die Angst, die ich bezwingen musste. Nicht die
Angst vor meinem Tod, sondern die Angst, meine Kinder als Halbwaisen und
meinen Mann als Witwer zurücklassen zu müssen; außerdem die Angst, eine
abgrundtiefe Angst, erneutes körperliches Leid aushalten zu müssen. Mein Maß
an erduldetem Leid war für mich komplett voll. In dieser Situation kam mir
mein glasklares Bewusstsein zu Hilfe und zeigte mir, dass ich es schaffen
könnte, würde ich vertrauen.
Ich überlegte, was ist
Vertrauen? Ist es so etwas wie Heilung? Hat es mehrere Schichten? Mich dem
Licht anzuvertrauen, der göttlichen Urkraft alles Seins fiel mir gar nicht
so schwer. Das hatte ich ja schon getan, ohne es wirklich verstanden zu
haben. Mich dort sicher zu fühlen, wäre das Schönste überhaupt.
Doch da war eine innere
Stimme, die mir mit großer Eindringlichkeit sagte, dass dies nicht reichen
würde. Ich müsste noch etwas dazu tun. Nur was? Plötzlich wusste ich es: Ich
musste in die Ärzte vertrauen. In den ganzen medizinischen Apparat, den ich
ja durch meinen Beruf auch hinter den Kulissen gut kannte. Ich wusste, wie
leicht etwas schief gehen kann, weil alle, die dort arbeiten, Menschen sind,
die auch Fehler machen können. Ich musste vertrauen, mich genauso wie in das
Licht in die Klinik hineinbegeben und mich mit ihr als Ganzes fühlen. Ich
musste mich darauf einstimmen, dass alles, was in dieser Zeit geschehen
würde, für mich geschehen würde – auch, wenn ich es ablehnte. Ich hatte
genug Möglichkeiten, dies zu üben. Bei jedem Blutabnehmen ließ ich mich
innerlich in die Hände des Arztes fallen, indem ich ihm meinen Arm überließ
und mich vom Ort des Geschehens entfernte. Ich schwebte an die Decke, ohne
mir etwas dabei zu denken. Es war mir so vertraut, dass ich erst im
Rückblick die Unglaublichkeit begreife. In diesem Entferntsein empfand ich
mich und den Arzt als ein Ganzes. Ich merkte schnell, wie ich so vieles
besser aushalten konnte.
In einer weiteren Schicht
baute ich das nötige Vertrauen auf durch die für mich tiefgreifende
Erkenntnis, dass dieser Teil der Therapie einer Transformation entspräche,
die mich umwandeln und zeitlebens verändern würde. Es war eine neue
Therapie, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Ich war die
hundertvierunddreißigste Transplantation der Uniklinik Mainz – vor einigen
Jahren feierte die Klinik ihre tausendste Transplantation.
Doch ohne diese Therapie,
ohne dass ich mich verwandeln ließe, würde ich nicht heil werden können.
Ohne noch mal dem Tod nahe zu sein, würde ich nicht leben können. Es war
damals gerade Winter, als ich die endgültige Entscheidung treffen sollte und
ich spürte so eindringlich, wie nie zuvor: Jedes Jahr wird es nur Frühling,
weil es einen Winter gibt. Die Natur kann nur erneut erwachen, wenn Teile
von ihr absterben. Ich fühlte mich als einen Teil der Natur und so musste
ein Teil von mir, mein Knochenmark, erneut absterben, damit ich im Frühling
erblühen dürfte.
Ich pflanzte symbolisch
Tulpenzwiebeln und fühlte mich wie eine solche. Ich verband mich mit den
Knollen in der dunklen, kalten Erde, fühlte die Urkraft, die in so einer
Knolle steckt, fühlte, wie sie auch in mir steckte, würde ich es nur
aushalten, einfach eine Zeit in der Erde zu hocken.
Dann erhielt ich einen
Brief von der Nachbarin meiner Eltern. Sie wollte mir Mut machen und
schenkte mir eine Sufigeschichte, „Die Geschichte vom Sand“. Ich las die
Geschichte und wieder war da dieses glasklare Bewusstsein. Ich erkannte: Ich
bin der Bach und meine Aufgabe ist es, die Wüste zu überqueren. Und das ist
die Geschichte vom Sand:
Die Geschichte vom Sand
Ein munter sprudelnder Bach
erreichte die Wüste und fand, dass er sie nicht überqueren konnte; seine
Wasser versickerten zu schnell in dem feinen Sand. Laut sagte er: „Es ist
meine Bestimmung, diese Wüste zu überqueren, aber ich sehe nicht, wie.“
In der verhüllten Sprache der Natur
antwortete die Wüste: „Der Wind geht über die Wüste hin, das ist auch dein
Weg.“
„Aber sooft ich es versuche,
trocknet der Sand mich fort. Und selbst wenn ich Anlauf nehme, schaffe ich
nur ein kurzes Wegstück.“
„Der Wind stürmt nicht gegen den
Sand der Wüste an.“
„Aber der Wind kann fliegen und ich
nicht.“
„Du denkst in die falsche Richtung.
Erlaube dem Wind, dich über den Sand zu tragen.“ „Aber wie soll das gehen?“
„Geh auf den Wind!“
Das gefiel dem Bach gar nicht. Er
fürchtete, auf diese Weise seine Individualität zu verlieren. Würde er denn
dann überhaupt noch existieren?
Dies, sagte der Sand, sei eine Form
der Logik, die mit der Realität nichts zu tun habe.
„Der Wind nimmt die Feuchtigkeit
auf, trägt sie über die Wüste und lässt sie dort zur Erde.“
„Aber woher weiß ich, dass das auch
wahr ist?“
„Es ist so, und du musst es glauben,
sonst wird der Sand dich weiterhin aufsaugen, bis du nach ein paar Millionen
Jahren ein Sumpf wirst.“
„Aber wenn das so ist, werde ich
derselbe sein wie jetzt … drüben?“
„Jedenfalls kannst du nicht genau so
bleiben, wie du jetzt bist. Aber du hast gar keine Wahl; das scheint dir nur
so. Der Wind wird von dir nehmen, was ungreifbar ist, dein Wesen. Wenn du in
den Bergen jenseits des Sandes wieder ein Bach wirst, mag wohl der Mensch
dich dort anders nennen, aber du wirst wissen, dass du im innersten derselbe
bist. Du magst dich heute als ein Bach dieser oder jener Art bezeichnen,
doch weißt du nicht, welcher Teil von dir dein Wesen ist.“
So erhob sich der Bach in die
geöffneten Arme des Windes, der ihn langsam und behutsam aufnahm, über die
Wüste trug und auf den Berggipfeln eines fernen Landes sanft und sicher
wieder absetzte. „Jetzt“, sagte der Bach, „weiß ich wirklich, wer ich bin.“
Eine Frage aber beschäftigte ihn
noch: „Warum konnte ich das nicht selbst herausfinden? Warum hat der Sand es
mir sagen müssen? Was wäre geschehen, wenn ich nicht zugehört hätte?“
Wispernd kam die Antwort – es war die Stimme eines Sandkornes: „Nur der Sand
weiß; er hat es sich ereignen sehen, und er erstreckte sich vom Fluss bis in
die Berge. Er ist die Verbindung und er erfüllt seine Aufgabe wie jedes
Ding. Der Weg, den der Strom des Lebens auf seine Reise nimmt, ist in den
Sand geschrieben.“
Aus:
Die Sufis, Botschaften der Derwische, Weisheit der Magier, Indries Shah,
Diederichs gelbe Reihe, Seite 221 unter der Rubrik: Die Allegorie der
Alchimie, eine überlieferte sufische Geschichte vom großen Werk der
Umwandlung.
Mit dieser Geschichte und
dem tiefen inneren Wissen, nicht alleine zu sein, sowohl geborgen im Großen
Ganzen, als auch in den vielen Gebeten, Gedanken und in der ganz
tatkräftigen Hilfe meiner Familie, unserer Freunde und dem halben Ort, in
dem ich lebe, rückte ich am 18. März 1996 in die Uniklinik ein. Innerlich
redete ich mir gut zu: Ich erhebe mich in die geöffneten Arme des Windes und
weil ich es so gelernt hatte sagte ich auch: Dein Wille geschehe. Gegenüber
meinem Bett hängte ich ein Wüstenfoto und die Geschichte vom Sand auf. Einen
Ausdruck gab ich der jungen Ärztin für meine Krankenakte. Ich erklärte ihr,
wo sie mich finden könne, würde es mir ganz schlecht gehen. Sie war
beeindruckt, hat sich aber leider nie getraut, näher nachzufragen, was ich
sehr bedauerte.
Im Februar dieses Jahres
bat ich darum, Einblick in meine Krankenakte zu erhalten. Ich wollte, als
eine Art Abschluss, die objektive Dokumentation dieser Zeit mit meinem
subjektiven Erleben vergleichen. Ernüchterung über die medizinische
Sachlichkeit bei so schwerwiegenden Eingriffen überkam mich und Erstaunen
darüber, dass die Geschichte vom Sand nicht in der Akte zu finden war. War
sie als unwichtig aussortiert worden oder hatte sie jemand mitgenommen?
Die Phase der
Transplantation war für mich wie ein Leben im Gefängnis und ohne meine
Geschichte und meine Zuversicht wäre ich gestorben. So bitter das klingt,
aber ich spüre es in dieser Eindringlichkeit auch heute noch. Es tobten
Wind- und Sandstürme sechs Tage lang in meinem Zimmer, als die zehnfache
Dosis an Chemotherapeutika durch mich hindurch musste, um das alte
Knochenmark völlig zu zerstören. Epileptische Krämpfe, Halluzinationen,
Erbrechen im Akkord und Heimweh, wie ich es noch nie zuvor erfahren hatte,
rissen an mir. Ich erlebte diese Zeit in und außerhalb meines Körpers. In
der Erinnerung erscheint es mir so, als wäre ich in meinen Geist geflohen.
Bei der Transplantation selbst herrschte Windstille. Ich ließ alles
geschehen, begrüßte das neue Knochenmark in meinem Körper und bat es, sich
so schnell wie möglich auszubreiten und neue Zellen zu bilden. Richtig „auf
den Wind gehen“ konnte ich erst, als ich keine Immunzellen mehr hatte,
Fieber und abgrundtiefe Erschöpfung mich in den Klauen hatten, die
Nahrungszufuhr nicht funktionierte und ich in diesem weißen Bett liegen und
einfach nur warten musste. Warten auf den Anstieg der weißen Blutkörperchen
von null auf fünfhundert.
In dieser Phase lebte ich
draußen auf den Wolken, die an meinem Fenster vorbeizogen. Mal stellte ich
mir vor, mit den Wolken zu verschmelzen und den Wind zu fühlen, mal
klammerte ich mich in leiblicher Form an ihnen fest. Oder ich stellte mein
Bett in Gedanken auf eine Wolke und bat den Wind, mich weiter zu wehen,
weiter, immer weiter, bis ans Ende meiner Wüste.
Für mich ist es
bedeutungsvoll, dass der Sprung meiner Zellen und damit das „Abregnen“, das
„wieder zum Bach werden“, auf den Ostersonntag fiel. Ich fühlte intensiv,
wie mich der Wind wieder auf die eigenen Füße gestellt hatte. Ich feierte
meine Auferstehung, eingesperrt in einem Klinikhochhaus, ganz im Stillen für
mich. Die Krankenhausseelsorgerin schaute zufällig bei mir vorbei und ich
nahm ein Krankenhausabendmahl aus einem Minibecher in Empfang.
Heute, nach dreizehn
Jahren, ergreift mich immer noch eine unsagbar tiefe Dankbarkeit, dass ich
noch hier sein darf. Dass ich in einem Land lebe, in dem es solch eine
ausgetüftelte, harte, aber eben doch heilende Medizin gibt und meine
Krankenkasse so viel Geld für mich locker gemacht hat. Dass Ärzte, meine
Ärzte, viele Ärzte über ihren Beruf hinaus sich als Menschen mit ihrer
ganzen Kraft für solche Therapien einsetzen. Im Stillen feiere ich jeden
Morgen meine Auferstehung, auch an den Tagen, wo mein Körper sehr unter den
Spätfolgen der Behandlung leidet und ich ihn am liebsten ablegen möchte. Ich
träume davon, dass man in Deutschland einem Arzt von seinen inneren
Heilquellen erzählen darf, dass man nicht für verrückt erklärt wird,
belächelt wird und in die „Psychokiste“ abgeschoben wird. Ich stelle mir
vor, wie ein Arzt oder eine Krankenschwester kurz ihren Kopf senkt, die
Hände vor der Brust hält, einen Moment der inneren Stille einnimmt und dann
zum Beispiel den Tropf anstellt, damit die Chemotherapie ihren Weg in die
Vene findet. Wie diese kurze Andacht den Patienten stärkt und sich der Arzt
innerlich für einen Moment vor dessen Schicksal verneigt.
Heute ist meine innere
Transformation an einem Punkt angelangt, an dem ich die Verzweiflung und das
Ringen um Einklang mit meiner Religion, dem evangelischen Glauben, endlich
ein wenig lassen kann. Jahrelang habe ich versucht, mich einzufügen, mich
für meine Religion zu verbiegen, mich ihr anzupassen. Doch das, was ich
erlebte, findet in dem kirchlich vorgeschriebenen Prozedere für mich keinen
wirklichen Platz. Für mich bedeutet ein Gottesdienst, dass ich meine Kirche
aufsuche, in der ich dieses Einssein mit der göttlichen Urkraft erleben
darf, um mich zu stärken. Dieses unsagbar tiefe Gefühl entfaltet sich bei
mir während der normalen Liturgie leider kaum. Ich erlebe eher ein
Aufgewühlt sein durch die dort gesprochenen Texte und den schnellen und mir
oft viel zu unruhigen und lauten Wechsel der „Aktionen“. Mittlerweile kann
ich, um Teil meiner Gemeinschaft zu bleiben, den Gottesdienst manchmal
wieder besuchen und ihn akzeptieren, weil viele Menschen ihn so, wie er ist,
schön finden. Meine Verbindung zur Urquelle, die ich brauche, um mein
Heilsein und meine Heilung immer wieder zu erfahren, finde ich nur in der
Stille oder bei einer wirklich guten Musik.
So habe ich mir erlaubt,
in meinem neuen So-Sein das Glaubensbekenntnis meiner Kirche in einer
Fassung zu schreiben, in der ich es tatsächlich glauben kann.
Mein Credo
Ich glaube an die
göttliche Urkraft allen Seins,
aus der Himmel und Erde
entstanden sind
und
daran, dass wir Menschen diese Kraft in uns tragen,
ein
Teil ihrer sind und stets mit ihr in Verbindung stehen,
auf
dass sie uns stärkt und sich in der Liebe offenbart.
Ich glaube an diese
göttliche Urkraft, die hinter allen Religionen
steht und jeder ihren
tieferen Sinn schenkt.
Ich glaube, dass alles
und jeder von uns dieser Kraft entstammt
und wir im Tod
zurückkehren, um mit ihr zu verschmelzen.
Sie ist unsere Heimat,
aus der wir kommen und in
die
wir zurückkehren.
Amen.