1 Vorgeschichte
Bevor ich auf meine Nahtoderfahrung näher eingehe, möchte
ich kurz meine Lebenssituation beschreiben, die dazu führte.
Ich bin seit ca. 30 Jahren Lehrerin und habe seinerzeit sehr
unter Alkoholproblemen gelitten, die ich recht gut
verstecken konnte, da ich während der Schulzeit meist
trocken blieb, während der Ferien allerdings immer wieder
Rückfälle in die Sucht erlitten habe. Es gelang mir trotz
erheblicher Kraftaufwendung nicht, mein Problem in den Griff
zu bekommen. Dass ich dazu Hilfe benötigt hätte, wollte ich
mir nicht eingestehen. Die immer wiederkehrenden Rückfälle
führten zu Depressionen, die mir die Kraft, das
Selbstwertgefühl und den Lebensmut raubten. So hatte ich
schon manchmal daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu
setzen.
Ein heftiger Rückfall während der Schulzeit bewirkte, dass
ich Ende August 1999 vorher besorgte Tabletten einnahm, um -
wie ich glaubte - den aussichtslosen Kampf mit der Sucht
endgültig zu beenden. Mir erschien der Zwang zum Trinken wie
ein Dämon, der mich trotz aller Gegenwehr fest umklammert
hielt. Ich nahm am frühen Nachmittag 100 Tabletten ,Phenaemal'
ein, dies ist ein Phenobarbital zur Beruhigung des zentralen
Nervensystems, das in kleinen Dosen, Epileptikern
verabreicht wird. Ich wusste, dass bereits eine Dosis von
30-50 Tabletten ausreichen würde, das zentrale Nervensystem
zu lähmen und zum Tode führen würde. Ich wollte sicher
gehen, nicht weiter leben zu müssen.
Nach der Einnahme legte ich mich auf ein
Sofa und verlor bald das Bewusstsein. Wie man mir später
berichtete, fanden danach noch einige erstaunliche paradoxe
Reaktionen meinerseits statt, von denen ich nichts mehr
weiß, die es Anderen allerdings schwer machten, meinen
Zustand richtig einzuschätzen. So konnte mein Mann erst am
nächsten Morgen feststellen, dass ich bewusstlos war und
nicht mehr sichtbar atmete.
2 Nahtoderfahrung
Meine Nahtoderfahrung im Zustand des Tiefkomas bestand aus
drei sehr unterschiedlichen Phasen:
In der ersten Phase konnte ich ein sehr positiv empfundenes
Erleben verspüren. Ich schwebte vollkommen intakt aber
körperlos in einem strahlenden, blauen Raum. Ich fühlte mich
frei, schmerzfrei, angenommen und glücklich. Der Raum war
weit, hell und warm. Ich genoss diesen Schwebezustand sehr,
als ich unvermittelt von einer wunderbar weichen und
liebevollen Stimme angesprochen wurde. Ich konnte niemanden
ausmachen, zu dem die Stimme gehörte. Diese Stimme sprach
mich auf meine Lebensprobleme an und stellte ohne Vorwurf
oder Verurteilung fest, warum ich meinem Leben ein Ende
gesetzt hatte. Sie fragte mich aber, ob ich noch einmal ins
Leben zurück wolle und versprach, mir dabei zu helfen, ein
neues, besseres Leben zu führen - ohne Sucht. Ich müsste
allerdings durch Dunkelheit gehen, Prüfungen überstehen.
Wenn ich eine bestimmte "Formel" fände, würde mir jedoch
immer Hilfe zuteil. Ich stimmte zu; denn dieser Stimme
schenkte ich vollstes Vertrauen. Ich hielt sie für einen
,guten Arzt', der mich nicht verlassen würde. Danach durfte
ich noch eine Weile schweben, bis ich erneut in einen
Zustand der Bewusstlosigkeit versank. Im Nachhinein kommen
mir die bewusstlosen Pausen zwischen den einzelnen Phasen
wie Ruhepausen vor, in denen ich Kraft schöpfen konnte für
das Kommende.
Die zweite Phase meiner Nahtoderfahrung kann als , NPE - NTE'
angesehen werden. Sie enthält verschiedene erschreckende
Visionen, die Angst bis zu Panik in mir hervorriefen. Ich
will nur kurz die Situation verdeutlichen, obwohl mir dieses
Erleben sehr lang andauernd vorkam: Ich befand mich in einem
unheilvoll anmutenden Haus, in dem ich nach unten gezogen
wurde. Ich war gefangen, wie gelähmt und wollte fliehen.
Dort traf ich auf unheilvolle Gestalten, die mir deutlich
machten, dass ich keine Chance hätte, dort wieder weg zu
kommen, was meine Angst und Lähmung noch steigerte. Als ich
in einem schmutzig-weißen Raum bewegungsunfähig und allein
gelassen wurde, konnte ich auf der gegenüberliegenden Wand
einen winzigen schwarzen Fleck erkennen, den ich anvisieren
musste. Dieser Fleck, der mich zu Beginn der Situation an
Fliegendreck erinnerte, wuchs im Zeitlupentempo und zeigte
sich mehr und mehr als kaltes, schwarzes Loch, in das ich
sicherlich hineingesogen würde, um im ,Nichts' gänzlich zu
verschwinden. Je größer das schwarze Loch wurde, desto
unermesslicher wurde meine Angst. Niemandem wünsche ich
jemals, in solch einer Schwärze für immer verschwinden zu
müssen, ausgelöscht zu werden.
In meiner Panik begann ich schließlich, Gebete zu stammeln.
Ich erinnere mich gut an die Worte, die ich benutzte: „Im
Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!"
und „Herr, hilf!" Zu zusammenhängendem Gebet war ich nicht
fähig, ich konnte nur stammeln und stottern. Das schwarze
Nichts war inzwischen schon sehr groß und sehr nah; doch
indem ich betete, wuchs es nicht mehr. Plötzlich tauchte am
linken unteren Rand des Raumes ein Kreuz auf, das sich
langsam in einem Halbkreisbogen zwischen das schwarze Loch
und mich schob. Es war ein grobes Holzkreuz, das aber
wunderbar strahlte und mir Hoffnung und Rettung vermittelte.
Ich hatte nun keine Angst mehr, dachte sofort an die
liebevolle Stimme aus meinem ersten Erlebnis und wusste,
dass ich die erlösende Formel gefunden hatte. Mein ,guter
Arzt' hatte mich nicht verlassen und würde mich befreien.
Ich betete ohne Unterbrechung und sah, dass sich das
schwarze Loch genau so langsam wieder verkleinerte, wie es
vorher gewachsen war. Ich wurde immer ruhiger und
zuversichtlicher und hatte das Gefühl, nichts und niemand
könne mir nun noch Schaden zufügen. Ich erinnerte mich auch
an die Worte, die ich im ,blauen Raum' wahrgenommen hatte
über ,Prüfung und Dunkelheit', durch die ich hindurch
musste; und nun empfand ich eine ungeheure Klarheit über
meine gesamte Situation.
Nach weiteren Geschehnissen, die ich hier überspringen
werde, weil sie nun für mich nicht mehr wichtig waren, da
ich meine ,Lebensspur' gefunden hatte, fand ich mich in
einem engen Tunnel, und ich wusste, durch diesen Tunnel
hindurch würde ich zum neuen Leben gelangen.
Ich wurde darauf in großer Geschwindigkeit durch den langen
Tunnel geschickt. Nach einer kurzen Pause sah ich mein
gesamtes Leben wie in einem Schwarz-Weiß-Film sehr schnell
an mir vorüber ziehen, bei dem ich nun nicht mehr beteiligt,
sondern Zuschauer war. Ich konnte die verschiedensten
Lebenssituationen wertfrei betrachten und stellte erstaunt
fest, dass mein Leben gar nicht so negativ gewesen war, wie
ich es vor meinem Suizidversuch empfunden hatte. Zum Schluss
des Films konnte ich sehen, wie ich die Tabletten schluckte
und mich hinlegte, um auf den Tod zu warten. Danach trat
wieder eine längere Pause ein, in der ich ,bewusstlos' war.
Nach dieser Pause befand ich mich wiederum in einer anderen
Umgebung. Um mich herum war alles neblig, schwer zu
erkennen. Ich nahm einen schlammigen, schlecht begehbaren
Weg wahr, der vor mir lag. Ein umgekippter Baum, dessen
Wurzeln und Stumpf noch fest im Boden verankert waren,
dessen Stamm, Äste und Rinde aber verstreut herumlagen - so
als hätte ein Blitz ihn getroffen -war mitten auf diesem Weg
zu erkennen. Ich wusste sofort, dass dieser Baum mein Leben
darstellte. Dieses Leben schien zerstört, hatte aber noch
lebensfähige Wurzeln und war noch fest in der Erde
verankert. Ganz langsam, wiederum im Zeitlupentempo, fügte
sich nun der Baum wieder zusammen und wurde zu einer
kräftigen, gerade gewachsenen, hohen Tanne. Gleichzeitig
verzog sich der Nebel um mich herum und die Umgebung gewann
zunehmend an Farbe. Die Tanne mitten auf dem Weg bekam ein
gesundes Grün, der Weg selbst wurde gut begehbar und führte
nun gerade durch einen Wald bis zum Horizont, an dem ein
wunderbares, helles, leuchtendes Licht erschien. Es zog mich
magisch zu diesem Licht hin. Ich wusste aber, dass ich
dieses Licht erst erreichen kann, wenn ich mein Leben bis
zum vorbestimmten Ende gelebt haben würde. Ich wusste auch,
dass die Bäume des Waldes um mich herum Menschen
symbolisierten, die mich auf dem Weg zum Licht begleiten
würden.
Dieses Bild empfand ich als sehr schön und beruhigend, und
ich schaute mir ,meine Tanne' näher an. Da nahm ich
plötzlich Gesichter zwischen den Zweigen wahr. Es handelte
sich um Kindergesichter, die mich freundlich anlächelten.
Mir war sofort klar, dass diese vielen Kinder meine noch
nicht erledigten Aufgaben sein würden, und ich freute mich
darauf, auch wenn sie mich noch daran hinderten, zum Licht
zu kommen.
Dieses wunderschöne Bild habe ich oft vor Augen, wenn ich in
der Schule mit meinen Kindern arbeite, und es schenkt mir
immer wieder die Kraft, mit diesen Kindern so umzugehen, wie
es eine ,Lebensaufgabe' oder ,Berufung' erfordert.
In den höheren Ästen sah ich weitere
Kinder mit südamerikanischen Gesichtern und ganz weit oben
im Wipfel des Baumes einige Bücher.
Heute bin ich überzeugt davon, dass auch diese Kinder in
meinem Leben eine Rolle spielen werden. Durch ,Zufall' bekam
ich Kontakt zu einer Frau, die in Bolivien ein Heim für
Straßenkinder errichtet hat. Mit dieser Frau und ihren
Zöglingen stehe ich nun in ständiger Verbindung und
unterstütze sie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich so
sehr für dieses Projekt engagieren würde, wenn ich diese
Kinder in meinem Nahtoderlebnis nicht auch als Aufgabe
gesehen hätte.
Mit den Büchern im Wipfel des Baumes konnte ich während der
NTE nicht recht etwas anfangen. So fragte ich danach. Eines
fiel herunter; es war ein Buch mit Kindergeschichten. Da ich
gern und oft für meine Schulkinder altersgerechte
Geschichten schreibe, die meine Kinder sehr mögen, denke
ich, dass ich vielleicht einmal diese Geschichten als Buch
herausgeben werde, wenn ich mehr Zeit für solche
Beschäftigungen habe.
So kann ich immer gespannt darauf sein, wie die
verschiedenen Aufgaben, die ich im Baum vorausahnen durfte,
in meinem Leben zum Tragen kommen.
3
Auswirkung auf das weitere Leben
Nach dem Erwachen aus dem Koma hatte diese Vision für mich
eine äußerst wichtige Auswirkung: Ich war voller Lebensmut,
Hoffnung und Zuversicht, wollte mich unbedingt einer
Therapie unterziehen, wollte Schritt für Schritt mein neues
Leben in den Griff bekommen. Dabei war mir klar, dass ich
dieses Leben wirklich neu geschenkt bekommen hatte und dass
ich sorgsam und verantwortungsvoll mit diesem Geschenk
umzugehen hätte.
Sechs Jahre sind seither vergangen (redaktionelle Anmerkung:
der Vortrag wurde 2005 gehalten). Aber nichts von dieser
Erfahrung ist in meiner Erinnerung verblasst. Im Gegenteil:
Die Gewissheit, dass all das Erlebte im Koma seinen Sinn
hatte und eine wunderbare Offenbarung darstellt, erfüllt
mich immer intensiver mit Freude, Lebensmut und der
Sicherheit, eines Tages zu diesem wunderbaren Licht zu
gelangen, zu dem meine Sehnsucht mich hinzieht. Auch die
negativ erlebten und beängstigenden Erfahrungen haben einen
festen Platz, schrecken mich aber nun nicht mehr, da ich ja
einen Ausweg aus aller Angst und Bedrängnis kenne: den Ruf
nach der Hilfe Gottes und das Gebet, das ich nicht mehr
missen oder vergessen möchte.
Ich persönlich wünsche jedem Menschen, dass er in seinem
Leben das Beten nicht verlernt, dass er zu gegebener Zeit
fähig ist, die Hilfe Gottes zu erbitten.
Deshalb habe ich mich in der jüngsten Vergangenheit
zusätzlich zur Religionslehrerin ausbilden lassen, um bei
meinen Kindern in angemessener Weise Wurzeln zu legen, die
ihnen die Beziehung zu Gott und zum Gebet möglich machen.
Auch engagiere ich mich besonders in der Gemeindekatechese,
um Kindern, Jugendlichen und jungen Eltern einen Glauben
nahe zu bringen, der in unserem heutigen Lebensverständnis
einen nachvollziehbaren Platz hat.
In einigen Fällen konnte ich auch Schwerkranken und
sterbenden Personen ein Stück weit die Angst und
Unsicherheit nehmen, die uns Menschen befällt, wenn wir uns
am Rand unserer irdischen Existenz befinden. Auch in diesem
Bereich möchte ich mich gern weiter einbringen.
Allerdings habe ich auch gelernt, dass nicht alles auf
einmal machbar ist. Gelassenheit und Geduld sind wichtig,
wenn man die eigenen Aufgaben nachhaltig und befriedigend
erfüllen will. Auch dabei hilft mir das Gebet.
4 Persönliche
Erfahrungen nach dem Erwachen aus dem Koma.
Auswirkung der Nahtoderfahrung
Direkt nach dem Erwachen aus dem Koma fand ich mich in einem
sonderbaren Zustand der Verwirrtheit und Unfähigkeit, das
Geschehene zu begreifen - und gleichzeitig der inneren
Klarheit und Sicherheit.
Ich hatte große Angst davor, als "verrückt" eingestuft zu
werden, wenn ich den Ärzten oder dem Pflegepersonal etwas
über mein Erleben berichten würde. Man erwartete von mir
geistige Verwirrung, da mein Gehirn längere Zeit kaum
durchblutet gewesen war, da die enorme Menge an Barbituraten
und der Alkohol mit anzunehmender Sicherheit bleibende
Schäden hinterlassen hätte. So durfte ich keinesfalls den
Eindruck; erwecken, dass ich nicht mehr denkfähig wäre.
Erstaunlicherweise war ich nach dem Erwachen aus dem drei
Tage andauernden Tiefkoma relativ gesund, was niemand
geglaubt hätte. Die vielfältigen Untersuchungen, die ich
über mich ergehen ließ, zeigten wider Erwarten keinerlei
Schädigung der Organe, und auch neurologische Tests und
geistige Aufgaben konnte ich befriedigend erfüllen. Man
sprach durchaus von einem ,Wunder'.
In mir regte sich allerdings nach und nach immer stärker das
Bedürfnis, das Erlebte aufzuschreiben und mit jemandem
darüber zu sprechen. Ich befürchtete, Einzelheiten zu
vergessen; denn mir war noch nicht klar, dass solches
Erleben niemals vergessen werden kann.
So deutete ich einer Ärztin gegenüber an, dass ich im Koma
mein ganzes Leben gesehen hätte. Dieser Teil meiner
Nahtoderfahrung erschien mir am wenigsten ,verrückt'. Ich
bekam zur Antwort, solch einen Unsinn sollte ich schnell
vergessen. So hielt ich mich weiterhin beim Klinikpersonal
sehr bedeckt.
Zuspruch und Verständnis erhielt ich aber von meinem
Gemeindepfarrer, der mich manchmal besuchte und mich durch
aktives Zuhören zum Sprechen brachte. Das Sprechen über eine
Nahtoderfahrung halte ich für äußerst wichtig; denn es
erleichtert den Umgang mit der eigenen Erinnerung. Während
ich versuchte, Worte für mein Erleben zu finden, konnte die
Verwirrung Schritt für Schritt weichen und immer mehr
Klarheit gewonnen werden.
Es überwog schließlich die Gewissheit, dass ich mit dieser
Erfahrung etwas ,Heiliges' erlebt hätte, das mein weiteres
Leben von Grund auf verwandeln würde. Gleichzeitig steigerte
sich meine Sensibilität dafür, wem ich etwas von meiner
Erfahrung mitteilen konnte und wem besser nicht. Ich wollte
keinesfalls, dass dieser ,Schatz', den ich mit meiner
Erinnerung besitze, als "Hirngespinst" abgetan würde. Mir
ist auch heute noch klar, dass solche Erinnerungen für
Außenstehende eher verworren, wie Träume oder
Halluzinationen wirken können. Mir selbst erscheint der
Unterschied dazu jedoch sehr eindeutig. Diese Erfahrung
entspricht einer anderen Realität, die schlecht zu
beschreiben ist.
Manche konkrete Frage nach Einzelheiten,
die für mich völlig unwichtig erscheinen, kann ich nicht
eindeutig beantworten. So weiß ich nicht, wie ich Dinge und
Personen wahrgenommen habe, wie ich mich ohne vernehmlich
gesprochene Worte verständigt habe, wie ich mich fortbewegen
konnte ohne dass ich meinen Körper gespürt habe, warum ich
mich auch ohne diesen Körper, der bewegungslos auf der
Intensivstation in einem Bett lag, vollständig und intakt
fühlen konnte.
Apostel Paulus spricht im 2. Korintherbrief über solches
Erleben vom ,Unaussprechlichen', das auch er trotz seiner
Erfahrung nicht richtig einzuschätzen weiß:
„.. ob im Leibe oder außerhalb des Leibes - ich weiß es
nicht, Gott weiß
es..."
Dies kann ein Mensch nach einer Nahtoderfahrung gut
nachvollziehen.
Glückliche Umstände führten mich in meinem weiteren
Lebensverlauf mit Menschen zusammen, die dem Thema
,Nahtoderfahrung' sehr offen gegenüber standen bzw. stehen:
Ich erfuhr liebevolle und sensible Begleitung durch zwei
katholische Pfarrer und zwei Ordensschwestern
(Benediktinerinnen). Diese haben mir bei der Bewältigung der
Erlebnisse sehr beigestanden, obwohl sie selbst dergleichen
noch nicht erfahren haben. Ihre Offenheit bestand darin,
dass sie meinten: , Warum soll nicht heute noch Ähnliches
geschehen wie damals zu biblischen Zeiten? - Bei Gott ist
nichts unmöglich!'
Durch weitere glückliche ,Zufälle' traf ich auf Herrn Prof.
Dr. Ewald und die Gruppe .Netzwerk Nahtoderfahrung', die mir
ein näheres Verständnis und Begreifen der eigenen
Erfahrungen möglich machten. Wieder zeigte sich, dass
Gespräche mit anderen Menschen über solche Erfahrungen nicht
nur nützlich, sondern unbedingt notwendig erscheinen.
5 Qualitative
Übereinstimmung der Erkenntnisse verschiedener Personen
Im Verlauf der vielfältigen Gespräche innerhalb der Gruppe
,Netzwerk Nahtoderfahrung' stellte sich heraus, dass trotz
der Unterschiedlichkeit der Umstände des Erlebten und trotz
der Verschiedenartigkeit der Erfahrungen den Betroffenen
durchweg einige wesentliche Punkte gemeinsam erhalten sind:
- Gewissheit, dass uns Menschen
nach dem physischen Tod Erhabenes erwartet, dadurch wird
keine Angst mehr vor diesem Lebensabschnitt' empfunden.
- Tiefe Ehrfurcht vor dem Göttlichen,
das den Menschen nach dem Tod erwartet, gleich zu
welcher Religion derjenige sich hingezogen fühlt.
- Demut, denn den Menschen mit
Nahtoderfahrungen ist bewusst, dass sie nur eine kleine
Ahnung erhalten haben, nur einen winzigen .Einblick'
erspähen durften von dem, was uns Menschen nach dem Tod
erwartet. Keinesfalls kann ein ,Zurückgekehrter' sich
anmaßen, ,Kenntnis' über das Jenseits zu besitzen.
- Neue Sinngebung für das Leben hier
und jetzt: Positiv und negativ erlebte Erfahrungen
erhalten einen Sinn im Lebensprozess; dadurch kann auch
Schmerz und Leid womöglich eher angenommen und ertragen
werden, wenn eine Nahtoderfahrung gemacht wurde.
- Allerdings: Das Leben nach einer
solchen Erfahrung wird keinesfalls .leichter'.
- Es gilt, das Erlebte in den Alltag
einzubeziehen, weiterhin mit Partnern und Freunden zu
kommunizieren, was oft schwer fällt. Als Resultat
zerbrechen häufig Ehen und Freundschaften; Betroffene
ziehen sich zurück, da man sie nicht mehr richtig
verstehen kann.
- Schwierigkeit für Nicht-Betroffene,
mit Nahtoderfahrenen umzugehen: Man redet aneinander
vorbei und hat zuweilen den Eindruck, der Betroffene sei
nicht mehr so ganz ,in dieser Welt'.
Teilweise mangelnde Dankbarkeit den möglichen
,Lebensrettern' gegenüber. Man wäre lieber ,dort'
geblieben.
- Ständige Sehnsucht nach der .anderen
Welt', die so verheißungsvoll war und noch nicht
erreicht werden konnte.
- Verwandlung der Einstellung zum
Leben: Das Leben ist ein Geschenk, der Mensch selbst
trägt die Verantwortung dafür, sein irdisches Leben hat
sicherlich Auswirkungen für eine kommende Dimension /
Welt.
- Innerer Widerstreit zwischen Freude
am Dasein, der Freude über das Angenommensein, den
Frieden und die Liebe, die man erkennen konnte - und der
manchmal auch quälenden Sehnsucht danach, da eine
Entsprechung dazu im Hier und Jetzt nicht realisierbar
ist.
6 Zusammenfassung des
persönlichen Berichts
Abschließend zu meinem persönlichen Bericht möchte ich gern
einen Psalm zitieren, da dieser trotz der
,Unaussprechlichkeit' meiner Erfahrungen recht gut meine
Gefühle wiedergibt und auch die Auswirkungen auf meine neue
Lebensweise im Kern trifft.
Der erste Teil von Psalm 116 bedeutet für mich eine
wertvolle Lebenshilfe und ich sehe darin einen Beweis dafür,
dass schon vor vielen Jahren ein Mensch dasselbe empfunden
hat wie ich durch meine Erfahrung im Tiefkoma. Dieser Psalm
drückt ziemlich genau meine Gedanken aus und zeigt die
Haltung, in der ich weiter leben möchte:
Psalm 116, Vers l-9:
Ich liebe den Herrn;
denn er hat mein lautes Flehen gehört.
Und sein Ohr mir zugeneigt
an dem Tag, als ich zu ihm rief.
Mich umfingen die Fesseln des Todes,
mich befielen die Ängste der Unterwelt,
mich trafen Bedrängnis und Kummer.
Da rief ich den Namen des Herrn an:
„Ach Herr, rette mein Leben!"
Der Herr ist gnädig und gerecht;
unser Gott ist barmherzig.
Der Herr behütet die schlichten Herzen;
Ich war in Not, und er brachte mir Hilfe. -
Komm wieder zur Ruhe, mein Herz!
Denn der Herr hat dir Gutes getan.
Ja, du hast mein Leben dem Tod entrissen,
meine Tränen getrocknet,
meinen Fuß bewahrt vor dem Gleiten.
So gehe ich meinen Weg vor dem Herrn
im Land der Lebenden.
7 Wünsche und Hinweise
zur Begleitung von Menschen mit Nahtoderfahrungen
7.1 Auswirkung sensibler
Begleitung auf Betroffene
Durch vertrauensvolles und einfühlsames Zuhören und durch
sensibel geführte Gespräche wird Betroffenen eine wichtige
Hilfe zum Weiterleben mit der neuen Erfahrung ermöglicht.
Dies ist bei der Intensität des Erlebten nicht nur
wünschenswert, sondern für eine Organisation des ,neuen
Lebens' für betroffene Menschen notwendig.
7.2 Notwendige Eigenschaften
für .Begleiter'.
Wichtige Voraussetzungen für Ärzte und Pfleger, die
Betroffene mit frischen Nahtoderfahrungen begleiten und
unterstützen möchten, sind sicherlich:
-
Offenheit (s.
o.);
-
Geduld - denn
der Betroffene weiß ja selbst nicht recht, warum und wie
gerade ihm solche Dinge widerfahren konnten.
-
Sensibilität
- Respekt vor einer .unaussprechlichen',
ungeheuerlichen, unnachprüfbaren Erfahrung einer anderen
Person.
-
Gefühl für
die .Andersartigkeit' einer Erfahrung in einer
unbekannten Dimension, dabei durchaus respektvolle und
akzeptierende Neugierde, aktives und positives Zuhören /
Nachfragen.
7.3 Interesse der
Wissenschaft / Notwendigkeit der Akzeptanz
Wissenschaftliche Erforschung eines Phänomens erfordert,
dass die Quelle des Forschungsgegenstandes möglichst
unverfälscht / noch nicht gedeutet / ohne zeitliche
Verzögerung aufgenommen werden kann. Angesichts der
Komplexität der erlebten Ereignisse und der verständlichen
Scheu, diese sehr privaten und teilweise intimen Erfahrungen
mitzuteilen, kann meines Erachtens allerdings hier weder
durch direkte Befragung noch durch schriftliche Erfassung
mittels eines Fragebogens das Ziel der .Öffnung' der
Betroffenen erreicht werden. Die oben beschriebenen Elemente
der Beobachtung und der Begleitung sind sicherlich hier
wesentlich erfolgreicher, wenn auch zeitlich und personell
aufwendiger. Vertrauen ist Voraussetzung für solche Öffnung.
Allerdings: Wissenschaftler - ob von medizinischer oder
theologischer Seite her - vergeben eine große Chance, wenn
sie Menschen mit Nahtoderfahrungen mit ihrem Erlebten /
ihren Erinnerungen allein lassen, sie nicht zum Mitteilen
anregen können oder gar zurückweisen, wenn diese Andeutungen
machen. Sie sollten auch aus Gründen der Erforschung dieses
wunderbaren Phänomens, das sicher viel mehr Menschen
erfahren haben als bekannt ist, eine offene und sensible
Haltung den Personen gegenüber zeigen, die gerade aus Koma
oder Bewusstlosigkeit erwacht sind.
Rita
Groß-Grevenbroich
© Rita
Groß-Grevenbroich.
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